Stefan Bollmann: Warum Lesen glücklich macht

„Warum lesen glücklich macht“ geht schon mit dem Titel in medias res, sprich: die apodiktische Feststellung, daß Lesen glücklich macht. Aber, das sei vorweg gesagt, dieser Diskussion um die Bedeutung des Begriffs „Glück“ oder des Zustands „glücklich sein – was ist das eigentlich“ geht Bollmann dann doch aus dem Weg. Es setzt sein Diktum als a priori gegeben (was man ja auch ganz anders sehen kann, wie Ulrich Greiner in dieser ZEIT-Glosse [3] ausführt) und findet, um seine Behauptung zu begründen und damit die neugierige Erwartung des gespannten Lesers zu befriedigen, zum Teil ungewöhnliche Gedankengänge.

Gleich zu Beginn der Ausführungen führt Bollmann uns mit Henry David Thoreau in den Wald, dorthin, wo jener in der selbst gebauten, wackligen Hütte fern von anderen Menschen für sich die schwierige Kunst des Lebens erlernen wollte, des Lebens an sich, reduziert von allen Dingen, die uns normalerweise davon ablenken. Der Wald dient dem Autor als Metapher für das Unbekannte, das Furchterregende (bekanntlich sind ja im Wald die Räuber…), dem man sich stellt, um Antworten zu finden auch über sich selbst. Thoreau liest, er nennt seine bevorzugten Werke die „Bücher der Heroen“, Geschichten von Menschen, die sich „existentiellen Tapferkeit“ stellen, indem sie bekanntes aufgeben und auf die Fragen, die das Leben stellt, Antworten suchen. Sie bestehen Abenteuer, wachsen an ihnen und finden im besten Fall zu sich selbst. Als Beispiele für solchen Entwicklungsromane nennt er aus frühesten Tagen das Gilgamesch-Opus bis hin zur Gegenwartsliteratur eines Carlos Ruiz Zafon mit seinem „Schatten des Windes„.

Thoreau verläßt schließlich den Wald wieder, um Erkenntnisse reicher. Eine dieser Wahrheiten ist die, daß existentielle Erfahrungen wie Glück oder Unabhängigkeit nichts statisches sind, nichts, was man für immer erwerben kann, sondern uns sie ist immer wieder neu zu kämfen und zu ringen. Es ist ein lebenslanges Lernen, was wir vollbringen müssen und das Lesen weckt in uns das Bedürfnis und gibt uns die Kraft, den Helden der Geschichten, die uns dieses Lernen, dieses Sammeln von Erfahrungen vor“leben“, nachzueifern: „Die Schule des Lebens kann und muss zugleich auch eine Schule des Lesens sein.

Lesen verändert uns. Leseerfahrungen wachsen exponentiell. Jedes Buch, das wir lesen, vermehrt unseren Erfahrungsschatz, mit dem wir dem Leben (und weiteren Büchern) begegnen: wir finden Wege zur Identifikation unseres Ichs entweder in der Übereinstimmung oder in der Fremdheit der erlesenen Figuren.

Lesen ist ein Akt der Initiation, es ist eine Art 6. Sinn für die Welt. Durch das Lesen tauchen wir (so habe ich es schon das eine oder andere mal in einer Besprechung genannt) in eine neues Universum ein, nehmen Kontakt auf zu Schreiber, zu seinen Gedanken, seinen Wertvorstellungen, seinen Ideen, ein Kontakt, der mit den üblichen Sinnesorganen nicht möglich wäre… Bollmann gibt einige Beispiele, wie Menschen in frühen Jahren durch das Lesen bestimmter Bücher in ihrem gesamten Lebensweg geprägt worden sind, Sartre zum Beispiel oder auch Augustinus: „Tolle, lege!“ hörte er in einer verzweifelten Situation eine Stimme, „Nimm und lies!“ und er nahm die Bibel und las und „… alle Nacht des Zweifels verschwand.“

Eine noch nicht gewusste Tatsache ist, daß in früheren Zeiten das laute Lesen üblich war, ein Lesesaal also erfüllt war von Gemurmel, Gebrabbel und Deklamationen. Eine sehr ungewöhnliche Vorstellung.

Im Zusammenhang mit der „mantischen“ Dimension des Lesens [5] hält Bollmann fest: „Literatur erschließt Stimmungen, macht Stimmungen lesbar. Sie … lässt uns mit scheinbar abgelegten und nichtsdestotrotz einflussreichen Dimensionen unseres Ich in Kontakt treten, kurz, sie verbindet uns mit uns selbst.. Gerade dadurch wird sie auch zu einem Medium der Selbsterneuerung. Lesend finden wir nicht nur Antworten auf unser Lebensfragen, sonder schöpfen auch die Kraft für Neuanfänge, wenn wir einmal den Weg verloren haben.“ [S. 71]

Eine schöne Passage widmet sich einem Dialog zwischen dem jungen Autoren Kafka und einem manischen Bücherfreund, der ihm vermitteln will, welches Glück ihm das Lesen bedeutet. Kafka macht seinem jungen Begleiter deutlich, daß das Lesen, das Bücher kein Ersatzleben sind. Lesen ist nicht das Leben.. man kennt diesen Plot ja aus Geschichten, das traurige, einsame Menschlein, das sich nach einem eintönigen Arbeitstag oder in einer seelischen Krise in ein Buch (oder auch in einen Film, aber das ist hier nicht das Thema) vertieft und dort das Leben der Helden lebt. Kafka misstraut dem Glück als solchen, es ist für ihn etwas Oberflächliches, wer würde nicht dieses ungemein kraftvolle Zitat von ihm aus einem Brief an seinen Jugendfreund Oskar Pollak kennen: „“Ich glaube, man sollte überhaupt nur solche Bücher lesen, die einen beißen und stechen. Wenn das Buch, das wir lesen, uns nicht mit einem Faustschlag auf den Schädel weckt, wozu lesen wir dann das Buch? Damit es uns glücklich macht, wie Du schreibst? Mein Gott, glücklich wären wir eben auch, wenn wir keine Bücher hätten, und solche Bücher, die uns glücklich machen, könnten wir zur Not selber schreiben. Wir brauchen aber die Bücher, die auf uns wirken wie ein Unglück, das uns sehr schmerzt, wie der Tod eines, den wir lieber hatten als uns, wie wenn wir in Wälder vorstoßen würden, von allen Menschen weg, wie ein Selbstmord, ein Buch muß die Axt sein für das gefrorene Meer in uns.“ Nach Kafka würde uns lesen – richtiges lesen! – also eher unglücklich machen bzw. uns unser Unglück bewusst machen….

und doch… nach Bollmann ist der Bibliophile glücklich, weil er elementare Bedürfnisse des Menschen, die er aus seiner biologischen Geschichte in sich birgt, befriedigt: er jagt und sammelt, er macht Beute, hortet die Fundstücke, muss sie noch nicht einmal lesen, der Besitz, die Möglichkeit an sich reicht ihm. Manifestiert sich in diesen Aktivitäten eher das jagdlich orientierte Erbe des Menschen, kommt im Prozess des Lesens das ackerbauliche zum Vorschein: die Strukturiertheit des Vorgehens, die Disziplin, der Ordnungssinn, den derjenige haben muss, der sät, jätet und erntet…

Kommt nicht der Begriff  „lesen“ in verschiedenen Bedeutungen vor? Spuren, Fährten werden gelesen, ebenso wie es die Weinlese gibt…. Bollmann verknüpft sogar die Fähigkeit des Jäges, Spuren, Fährten zu lesen mit der Fähigkeit des Menschen, die schwarzen Striche und Bögen auf dem weißen Papier zu „lesen“, die – so wie das Getreide auf dem Feld – in ausgerichteten Reihen stehen….

Bollmann äußert sich auch zur professionellen, akademischen Buchkritik, zur Literaturwissenschaft und dies nicht positiv. Denn durch die Theorie, so sein Credo, wird der ursprüngliche, direkte Zugang des Lesers zu einem Buch zerstört. Eine literaturwissenschaftliche Interpretation macht aus einem „dichten“ Stück Literatur ein kompliziertes, es verfälscht sogar, denn wenn ein Buch im Lichte einer bestimmten theoretischen Richtung interpretiert wird, wird nicht mehr das Buch gelesen, sondern das, was die Theorie dazu sagt. Über diesen Punkt ließe sich sicherlich diskutieren. Niemand ist eine „unbeschriebene Tafel“ im Sinne Lockes, jeder Leser, selbst und da er wahrscheinlich literaturtheoretisch unbeleckt ist, liest ein Buch durch die Brille seiner Lebenserfahrung, seiner Lebensinteressen (die sich durchaus wandeln mögen im Lauf der Jahre…). So ist z.B. für mich persönlich, der ich mich ein wenig mit Sterben, Trauer und Tod befasse, Roches „Schoßgebete“ ein durchaus lesenswertes Buch, eine Meinung, die ja nicht von allen geteilt wird….

Warum, um zur Titellfrage zurückzukehren, macht also Lesen, diese Manifestation des Müßiggangs, der anscheinend unökonomischen und unproduktiven Verschwendung von Zeit, also glücklich?

Nach Bollmann macht es uns glücklich, weil es uns sagt, wer wir sind und wer wir sein wollen. Es gibt uns die Möglichkeit, uns meditativ aus der Außenwelt zurückzuziehen in eine Innenwelt, die der Schriftsteller geschaffen hat und mit der wir uns und unsere Lebenswelt vergleichen können. Lesen macht uns glücklich, weil es unser Bild von uns selbst verwandelt.

… es macht uns glücklich, weil wir wieder zu Jägern und Sammlern werden, die das Glücksgefühl des Beutemachens, des Hortens, der Sicherheit, die das Schaffen von Vorräten bietet, geniessen können…

Macht uns das glücklich?

.. diese Frage kann sich jeder Leser nur selbst, gemessen an seinen persönlichen Kriterien, beantworten.. aber ich befürchte, ganz so einfach ist es nicht, das mit dem glücklich sein….

***********

Ich habe anfangs geschrieben, „Warum Lesen glücklich macht“ sei ein interessantes, nachdenkenswertes, auch tiefsinniges Buch, ich habe nicht schreiben können, es sein (in dieser Ausgabe) ein schönes Buch. Mag sein, daß die Taschenbuch-Ausgabe, die 2013 im Inselverlag erschienen ist, schöner ist … Im Hardcover macht es seinem Namen Ehre, es ist in einen stabilen Pappkarton eingebunden, im Stile der Bücher für (Klein)Kinder, die auch und vor allem mechanischen Belastungen widerstehen sollen. Ich habe es nicht ausprobiert, aber ich denke, kleinere Nägel lassen sich damit schon einschlagen. Vergleiche ich es mit anderen Büchern zum Thema, z.B. „Wozu lesen“ von Dantzig [4], das bei Steidl verlegt wurde und diesem beglückenden Thema schon rein haptisch seine Reverenz erweist, wird der Unterschied noch greifbarer…. Reich bebildert ist Bollmanns Buch, fast schon zwanghaft auf jede Doppelseite ein Bild, häufig sogar zwei. Leider – aber das ist sehr subjektiv – fast nur Bilder, die mir nicht gefallen [2]… und wenn ich jetzt schon in den Krümeln suche: mit Siclar Lewis ist natürlich Sinclair Lewis gemeint und folgender Satz leidet auch unter dem Fehlen eines Buchstaben: „Ich ging schweigend in mich und betrachtete das Leben um ich her.“ [beides S. 140]. Um im Titel zu bleiben, solche Nachlässigkeiten können natürlich passieren (obwohl schon die automatische Rechtschreibprüfung den Siclair erkannt hätte haben müssen…), sollen nicht passieren – und machen beim Lesen keinesfalls glücklich.

So lautet mein abschließendes Facit zum Buch: der Inhalt sehr lesenswert, regt stark zum Nachdenken an (so hat er mich bei dem Roman, den ich parallel dazu gelesen habe, auch sofort zur entsprechenden Interpretation des Gelesenen verleitet), ist in vielen Gedankengängen auch ein recht ausgefallener Zugang zum Thema. Aber wenn ich mir das Büchlein noch einmal kaufen sollte, als Geschenk vllt, dann würde ich es mal mit der TB-Ausgabe versuchen. Kann ja sein, daß diese sich einfach glücklich machender anfühlt….

Links und Anmerkungen:

[1] —-
[2] btw: das Bild auf S. 107 hat keinen Quellennachweis. Nicht, daß ich so etwas prinzipiell durchsuchen würde, aber gerade dieses Bild findet sich häufig in den entsprechenden Bücher-tumblrs und ich wollte einfach nachschauen, woher der Autor es genommen hat…. (Bildersuche nach „Hay on Wye“)
[3] Ulrich Greiner: Lesen macht glücklich?, DIE ZEIT, 25.10.2007 Nr. 44
[4] das seit Monaten bei mir liegt und dessen Besprechung ich endlich mal schreiben müsste, dann bräuchte ich jetzt auch nicht auf Durchleser zu verlinken…
Charles Dantzig: Wozu lesen? Steidl, 2011
[5] Ein schönes Beispiel für Bibliomantik schildert Amy Sackville in ihrem Buch „Ruhepol„, wo ihre Heldin, um die „Tagesaussichten“ beurteilen zu können, die Bibel an willkürlichen Stellen aufschlägt

Weitere Bücher zum Thema “Bibliophilie, Bibliomanie“, die auf aus.gelesen besprochen sind:

Stefan Bollmann
Warum Lesen glücklich macht
diese Ausgabe: Elisabeth Sandmann Verlag, HC, ca. 150 S., 2007

10 Kommentare zu „Stefan Bollmann: Warum Lesen glücklich macht

  1. Danke für diese ausführliche Rezension eines wirklich lesenswerten Buches.
    Liebe Grüße vom hochsommerlich warmen Meer
    Klausbernd

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    1. … aber gern doch, beschenkst du mich doch auch immer mit wunderschönen beiträgen… ;-)

      meer.. ja, das wäre jetzt was….
      liebe grüße aus einem drückend-schwülen taunus!
      fs

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  2. Guten Morgen, lieber Flattersatz,

    Stefan Bollmann hat im Sandmann Verlag Riesenerfolg mit seinem ersten Buch zum Thema Lesen, nämlich dem Band „Frauen, die lesen, sind gefährlich“ gehabt; ihm folgten „Frauen, die lesen, sind gefährlich und klug“, „Frauen, die schreiben, leben gefährlich“ und jetzt dieser von Ihnen besprochene Band.
    Alle sind in der Art bebildert, wie Sie es schildern und ihm gehen wahrscheinlich die Motive aus -:)))
    Es sind beliebte Verschenkbücher, also seien wir nachsichtig….-:))

    mit sonnigen Grüßen
    Karin

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    1. natürlich sind wie nachsichtig.. außerdem ist das kind ja schon lange im brunnen drin…. die beiden „frauen-lesen“ bücher kenne ich leider nur vom titel her, vllt später mal.. nicht nur vagina dentata sondern auch noch cortex cogitat.. was hat gott nur aus der rippe gemacht..

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      1. also…was die Bebilderung anbelangt, ist auch die Taschenbuchausgabe nicht zu empfehlen, fast kein Bild paßt zum Textteil, sie sind ziemlich willkürlich verteilt…schade….
        Das auch von Bollmann zitierte Buch von Alberto Manguel Eine Geschichte des Lesens würde ich eher empfehlen…..
        zudem ist „glücklich“ auch so ein Begriif, den Sie ja auch schon hinterfragt haben……
        mit Interesse habe ich die Passagen gelesen, was alles unter den Begriff Mantik fällt…da habe ich viel gelernt…..

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        1. ich finde es schade, wenn so ein doch inhaltlich wertvolles buch durch eine unnötige bebilderung, die dann auch noch in sich unstimmig ist und zum ganzen nicht passt, in seiner gesamterscheinung gemindert wird. yeah! was ein geschwurbelter satz! *lol* was das „glücklich“ angeht, gibt es sicher ganze bibliotheken, in denen darüber philosphiert wird – ohne das problem zu lösen… vor kurzem war in der ZEIT eine beilage, in der solche philosphischen fragen in aller kürze behandelt wurden, da sind ein paar schöne aussagen zum thema „glück“ drin, die für meine begriffe wesentliches festhalten. ansonsten: glück ist einfach, wenn die glückshormone ausgeschüttet werden! sterntaler, lass kommen!
          haben sie ein schönes wochenende, hier gewittert es seit längerem, aber in der ferne und ohne segensreiches nass von oben…..
          lg
          fs

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