Melanie Garanin: Nils

Ich will es gleich vorweg sagen: wer ein Happy End sucht, ein Ende der Geschichte, das vielleicht zu Tränen rührt, aber einen doch glücklich zurückläßt, der ist mit dieser wunderbaren Graphic Novel falsch bedient. Tränen ja, aber kein gutes Ende.

Die Grafikerin Melanie Garanin erzählt mit ihrem Mitteln die Krankengeschichte ihres jüngsten Sohnes, des vierten ihrer Kinder, aus ihrer subjektiven Sicht. Es ist nicht der Versuch, einer objektiven Aufarbeitung dieses Schicksalsschlages, wie könnte er es auch sein, es ist vielmehr der Versuch, diesen Schicksalsschlag für sich ertragbar zu machen.

Nils kommt als Stern zur Welt, ein Stern schon im Bauch der Mama. Er wird ein quietschlebendiger Junge, der die Gänse liebt, auch die Marienkäfer, der Ritter mag und Pfannkuchen ganz doll lecker findet. Doch als er vier Jahre alt wird, war er einfach viel krank und lange. Mit hohem Fieber, das sich nicht senken ließ. Schließlich mussten wir ins Krankenhaus. …und im Krankenhaus stellten sie fest, daß Nils Leukämie hat. Natürlich wird er behandelt, und es sieht eigentlich ganz gut aus und dann wird er – obwohl die Eltern da garnicht begeistert sind und eher überrumpelt als überzeugt werden – in eine Studie über eine neue Behandlungsmethode gesteckt.

Die Bauchschmerzen, die Nils dann später irgendwann bekommt, werden nicht ernst genommen, man nimmt sie zur Kenntnis, aber beachtet sie nicht weiter, macht mit der Behandlung weiter. Zwischendrin geht es ihm dann auch mal wieder besser und er kommt sogar nach Hause. Es ist ein Hin und Her, ein Auf und Ab. Manchmal sind die Bauchschmerzen weniger stark, manchmal mehr, dann wiegeln die Ärzte, die die Eltern anrufen, ab: Solange er trinkt, kein Fieber hat und mit den Antibiotika versorg ist, kann nix sein.

Schlaf schön, Nilsi. Alles gut?
Schon besser, Mama, besser.
Gut. Alles gut. Bin da.
Bin immer da, ja?
Mmmh… Isschonvielbesser.
Schlaf gut, ich bin hier bei dir.

Am frühen Morgen des nächsten Tages stirbt Nils.


Es ist eine im wahrsten Sinn des Wortes „Bilderbuchfamilie“, die wir in diesem Buch kennenlernen. Sie wohnt im Grünen, umgeben von vielen Tieren, die Kinder haben liebevolle Eltern und alles, was Kinder so brauchen, um eine glückliche Kindheit zu erleben. Aber Krankheiten nehmen darauf keine Rücksicht, sie sind blind und schlagen einfach zu. Von einer Sekunde auf die andere werden die Eltern und die Geschwister vor eine grundlegend neue Situation gestellt, mit der sie bis dahin noch nie etwas zu tun hatten. Eine Situation, an deren Ende, auch wenn daran niemand denken will, der Tod stehen kann.

Die Autorin beschreibt, wie hilflos sie als Mutter dem Krankenhaus und den Ärzten ausgeliefert war. Mitleidslose „Dr Flachbart“s und die karrieregeile „Königin Dr. Antibiotika-Aber“ sehen nicht das Kind und die Eltern, sondern die Möglichkeit für sich, Karriere zu machen, eine Studie durchzuführen, Erkenntnisse zu gewinnen. Die traurige Wahrheit, daß Ärzte oft nicht den Menschen behandeln, sondern die Krankheit, erfährt im Schicksal von Nils noch eine Steigerung: Nils ist seinen Ärzten eigentlich völlig egal, er zählt nur als Studienteilnehmer, der zudem mit seinen andauernden Bauchschmerzen und der nervenden Mutter ziemlich lästig ist.

Es gibt in dieser ganzen Misere auch gute Tage. Dies ist etwas, was man in solcher Situation lernt: die guten Tage, die guten Stunden genau dann zu geniessen, wenn sie da sind. Verschieben gilt nicht mehr, die Gunst der Stunde ist zu nutzen und auszukosten. Aber die schlechten Tage häufen sich, immer wieder Krankenhaus, pieksen, Blutabnehmen, Narkosen für Knochenmarkspunktionen, Infusionen etc pp….. es nutzt alles nichts, denn das, woran Nils leidet, das findet niemand, auch weil niemand danach sucht.


Mit dem Tod von Nils ist das Leid der Eltern nicht vorbei. Ich rede nicht von der Trauer, die es natürlich um den Jungen gibt, überreichlich. Nein, der tote Junge wird ihnen weggenommen, wird sofort in die Pathologie geschafft zur Obduktion, in die die Eltern ihre Einwilligung verweigern. Ein Abschiednehmen, auch und gerade für die Geschwister ist so nicht möglich, das „Begreifen“ des Todes fällt so noch schwerer als es eh schon ist.

Ein gutes (wenn man so sagen will) hat die Pathologie jedoch: sie findet die Todesursache, nämlich eine Bauchspeicheldrüsenentzündung. Im Zusammenhang mit dem verabreichten Medikament war sie tödlich. Die Eltern beschließen, gegen das Krankenhaus zu klagen. Es kostet viel Zeit und Energie und letztlich…. tja, wie ist das mit der Krähe, die der anderen kein Auge aushackt? Was nutzt ihnen da schon der eine Gutachter, den sie finden und der vor der Wahrheit keine Angst hat?


Nils ist ein trauriges Buch, ein Buch, bei dem man oft schlucken muss, wenn nicht mehr. Es ist ein Buch über die Trauer und gleichzeitig ist es ein fröhliches Buch über einen kleinen Jungen, der mit seinem Laserschwert die wilden Schweine im Wald erschreckt, der Marienkäfer liebt und im Tischfussball ein Ass wird. Es ist ein Buch auch über Ärzte, für die ein kleiner Junge nur ein Versuchstier ist. Es ist ein Buch über die Liebe und über den Tod, ein Buch über die Hilflosigkeit und die Wut, über den Mut zu kämpfen, den Mut zu sterben und den Mut zu leben. Es ist ein sehr persönliches Buch, ein Versuch mit einem unendlichen Verlust fertig zu werden, ein Buch mit wunderbaren Zeichnungen, mit skurrilen Gestalten, mit Wolken, Gewittern und Steinen, mit Kerzentieren, mit Rittern und mit viel, viel Gelb….

Weitere Buchvorstellungen zum Themenkreis: „Krankheit, Sterben, Tod und Trauer“ finden sich hier: https://radiergummi.wordpress.com/category/krankheitsterbentodtrauer/

Melanie Garanin
Nils
Von Tod und Wut. Und vom Mut.
Originalausgabe/diese Ausgabe: Carlsen, HC, ca. 190 S., 2020

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