
Juli Zehs Roman Corpus Delicti ist jetzt ein gutes Jahrzehnt alt, der ursprünglich als Theaterstück geschriebene Text wurde 2009 auch als Roman veröffentlicht. In der gegenwärtigen Corona-Pandemie ist die Thematik des Buches jedoch wieder so aktuell wie nur möglich. Die dystopisch angehauchte Handlung von Zehs Roman spielt in einer Gesundheitsdiktatur in der nahen Zukunft, sie nimmt bekannte Motive aus Klassikern auf wie beispielsweise aus Orwells 1984 [https://radiergummi.wordpress.com/2015/01/30/george-orwell-1984/] oder aus dem Hollywood Blockbuster Demolition Man [vgl. z.B. hier: https://de.wikipedia.org/wiki/Demolition_Man], der in einer Zukunft spielt, in der Verbrechen einfach verboten sind, Fluchen mit Strafmandaten geahndet wird, während die ganz bösen Jungs einfach auf Eis gelegt werden, was ziemlich wörtlich zu verstehen ist.
Der Einzelne in Zehs Roman hat die oberste Pflicht, gesund zu sein und gesund zu bleiben, denn Gesundheit ist ein Zustand des vollkommenen körperliche, geistigen und sozialen Wahlbefindens – und nicht die bloße Abwesenheit von Krankheit (Diese Definition, mit der der Roman einsetzt, entspricht übrigens fast der der WHO. Wesentlicher Unterschied ist der Austausch des Begriffs ‚vollständig‘ gegen ‚vollkommen‘. Eine kleine Änderung mit großer Auswirkung). Selbstredend ist daher der ‚Genuss‘ toxischer Substanzen wie Nikotin verboten. Wo bei Orwell beispielsweise das gesamte Leben durch Big Brother visuell kontrolliert wird, analysieren in Zehs Utopie Sensoren die Ausscheidungen auf Abweichungen der Parameter vom Normalen bzw. der Norm, innerhalb derer Gesundheit vorliegt. (Ein keineswegs utopisches Szenario, wie in diesem youtube-video gezeigt wird.). Desinfektion ist oberste Bürgerpflicht, möglicherweise Keimbehaftetes zu berühren strafbar. Kommt das bekannt vor? AHA! Der nie irrende Leitfaden dieser Ideologie ist die ‚METHODE‘, der sich jeder zu unterwerfen hat, sie ist die staatstragende Lehre.
Doch ähnlich wie seinerzeit in Gallien gibt es Widerstandsnester, gibt es Menschen, die gern am Ufer eines Flusses sitzen und die Füße in das keimhaltige Wasser dieses Landschaftselements halten, dabei das Rauchen einer Zigarette geniessen und sich eine Welt zusammenträumen, die im Hier und Jetzt des Romans verboten ist. Ein solcher Mensch war Moritz Holl. ‚War‘, weil Moritz Holl nicht mehr lebt, sondern sich suizidiert hat. Das Leben war für ihn ein Geschenk, das man nicht annehmen musste… Moritz saß im Gefängnis, einer Vergewaltigung und eines Mordes überführt, den begangen zu haben er auch nach der überwältigenden Beweisaufnahme (Sperma, DNA) vehement und absolut abstritt. Womit er sich im Übrigen wiederholt renitent benahm und gegen die METHODE verstieß, denn die letztendliche Übereinstimmung (sprich ein Geständnis) zwischen privatem und öffentlichem Wohl auch und gerade in den finstersten Winkeln der menschlichen Existenz war höchst erwünscht.
Moritzens Suizid und Mia Beitrag warfen bzw. werfen die Schwester aus der Bahn. Sie ging tagsüber zur Arbeit und erfüllte ihre Leibertüchtigungspflichten, doch abends besuchte sie ihrem Bruder Moritz im Gefängnis. Von diesem bekam Mia bekam zum Abschied noch ein Geschenk, die ‚unsichtbare Geliebte‘, mit der sie fortan zusammenlebte und diskutierte, wobei in dieser unsichtbaren Geliebten für Mia Moritz weiterlebte.
Es wundert nicht, daß letztlich auch Mia in die Fänge der GStPO (Gesundheitsstrafprozessordnung) gerät und vor Gericht gestellt wird. Anfangs versucht das Gericht es mit Entgegenkommen, mit einer Art von Verständnis auch, doch Mia erweist sich wie ihr Bruder als renitent und unbelehrbar. Sie verstößt gegen Vereinbarungen und Auflage und verärgert die Richterin zusehends. Aber all das ist jedoch nichts gegen das, was ihr Verteidiger Rosentreter in der Verhandlung aufdeckt, denn dieser beweist die Fehlbarkeit der unfehlbaren METHODE und erschüttert damit den Staat in seinen Grundfesten. Fortan gilt Mia als Terroristen, als Umstürzlerin, als Querdenkerin gegen den Staat, dessen Advocatus diaboli der geschliffene, mit allen Wassern gewaschene, staatstragende Journalist Heinrich Kramer ist, zu dem Mia im Lauf der Handlung ein zwiespältiges Verhältnis entwickelt. Während dann bei der schlußendlichen Verhandlung draußen das Volk an den Gittern rüttelt, spielt sich vor dem Gericht ein Schauspiel ab und am Ende liest der Richter das schon vorformulierte Urteil mit der Höchststrafe (siehe Demolition Man) ab. Mia fügt sich ins Unvermeidliche, scheint noch nicht einmal sonderlich unglücklich, nie fühlte sie sich ihrem Bruder näher. Doch will der Staat wirklich eine Märtyrerin schaffen?
Corpus Delicti ist sehr szenisch geschrieben (wir erinnern uns an die ursprünglichen Konzeption als Theaterstück) und spielt im wesentlichen in der Wohnung Mias und im Gericht bzw. Gefängnis. Neben der Dreifaltigkeit Mia/Moritz/unsichtbare Geliebte ist Heinrich Kramer als Antagonist die zweite Hauptfigur des Stückes. Obwohl ihr Gegner, der sie hemmungslos ausnutzt, manipuliert, hintergeht, fühlt sich Mia zu ihm hingezogen, jedenfalls deutlich mehr als zu ihrem Verteidiger Rosentreter, der ebenso wie die erste der Richter/innen Sophie eine wichtige Nebenrolle einnimmt. Ähnlich wie in den alten griechischen Tragödien gibt es auch eine Art Chor, gebildet durch die Nachbarinnen Mias, die sich selbst zwar uneins sind in der Frage, ob Mia Heilige oder Terroristen ist, die aber immer in Dreiheit auftreten und ihre Stimme erheben.
Den Roman durchzieht natürlich die Frage, wieweit darf oder soll sich der Staat in die persönlichen Belange seiner Bürger einmischen.

Wir kennen diese Hinweise aus der Gegenwart, darauf beruht die Aktualität des Romans. Juli Zeh ist als profunde Kritikerin der Massnahmen gegen die Pandemie bekannt geworden. Nicht daß sie die Notwendigkeit von Massnahmen per se verurteilt, aber sie kritisiert die Art und Weise, wie der Staat in die Privatsphäre eingreift und Grundrechte ausser Kraft setzt. Leider sind mittlerweile viele der Aufsätze Zehs zum Thema hinter Bezahlschranken verborgen und nicht mehr frei zugänglich. Ein ironischer Aspekt der Geschichte ist nebenbei gesagt die Tatsache, daß ausgerechnet der auf Zehs Roman basierende CORONA-DISKURS 1: CORPUS DELICTI des Staatstheaters Nürnberg wegen der Lockdown-Beschränkungen nicht stattfinden kann [https://www.staatstheater-nuernberg.de/spielplan-20-21/corona-diskurs-1-corpus-delicti/22-11-2020/1900].
Sind wir ehrlich, wir leben alle stets in diesem Konfliktfeld zwischen Freiheit und Sicherheit, in dem der Staat Grenzen setzt für unser Verhalten. Meist fällt es uns nicht auf, bzw. wir nehmen es hin. Jede Geschwindigkeitsbegrenzung wird dient der Sicherheit und schränkt dafür die ‚Freiheit‘ des ’so-schnell-fahrens-wie-ich-will‘ ein. Immer wieder aufflammend die Diskussion um erhöhte Krankenkassenbeiträge für z.B. Raucher oder Übergewichtige. Das ist sozusagen die Peitsche, das Zuckerbrot bieten Krankenkasse mit ihren Bonus-Programmen, die gesundheitsfördendes Verhalten belohnen. Als letztes Beispiel möge die auch von staatlicher Stelle ins Auge gefasste Lebensmittelampel dienen, die den gesundheitlichen Wert eines Lebensmittels signalisieren soll.
Inhärent ist solchen Einschränkungen (die Freiheit des einen endet dort, wo die die interessen des anderen tangiert werden) die Spaltung der Gesellschaft und Befürworter und Ablehnende. Bei den oben genannten Beispielen mag es so sein, daß sie in unser Leben integriert sind und uns nicht mehr auffallen, Neuerungen mögen Kopfschütteln hervorrufen oder eben auch Teilnahme wie an z.B. solchen Bonusprogrammen. Ernster sind andere Fragen, beispielsweise die nach der Impfung gegen das Covid verursachende Virus. In dieser Frage spaltet sich die Gesellschaft in Lager, die Frage nach der oder einer Impfpflicht steht trotz aller Beteuerungen im Raum und die Möglichkeit privater Einrichtungen ihre Vertragsbedingungen so zu gestalten, daß sie zwischen Geimpften oder nicht Geimpften unterscheiden sind noch ein Weiteres [Zu diesem Thema ist dieser Beitrag auf Spiegel-online ganz interessant: Simon Book, Antje Blinda und Steffen Lüdke: Was für Impfprivilegien spricht – und was dagegen].
In ihrem Roman thematisiert Zeh diese Spaltung der Gesellschaft, ohne ihr Zutun oder daß sie dies angestrebt hätte, wird Mia zur Gallionsfigur einer Widerstandsbewegung, die den Staat allein durch ihre Existenz herausfordert. Der Staat in Corpus Delicti reagiert wie ein totalitärer Staat eben reagiert: brutal und ohne Rücksicht. Sie legt Kramer an einer Stelle die Aussage in den Mund, daß man, hat man nur genug Daten, aus diesen Daten wie ein Mosaik jedes Bild legen kann, mit Betonung auf ‚jedes‘. So steht konsequenterweise das zu fällende Urteil über Mia auch schon vor Prozessanfang fest.
Zehs Roman liest sich trotz der teilweise spröden Sprache schnell. Er ist nicht allzu umfangreich, enthält meist Dialoge (Theaterstück!) und ist bei 260 Seiten Umfang in 50 ‚Bilder‘ untergegliedert. Zeh als Richterin weiß wovon sie schreibt, wenn sie in ihren Zwiegesprächen Kramer als bedingungslosen Verfechter der METHODE, dem jedes Mittel recht ist, mit Mia über das Thema Freiheit vs. Bevormundung diskutieren läßt. Diese Dialoge sind inhaltlich anspruchsvoll, hier lohnt sich das langsamere Lesen…
Zusammenfassend läßt sich festhalten, daß Corpus Delicti allein schon aufgrund der aktuellen Bezüge im Spannungsfeld Sicherheit vs. Freiheit sehr lesenswert ist. Der Roman zeigt deutlich, wohin es in letzter Konsequenz führt, wenn der Staat für seine Bürger nur das Beste will: zur Diktatur nämlich, muss doch jede Abweichung vom zur Norm erhobenen ‚Besten‘ (hier: Vollkommenen) vermieden bzw. geahndet werden.
Juli Zeh
Corpus Delicti
diese Ausgabe: btb, ca. 260 S., 2010,
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