Colson Whitehead: Die Nickel Boys

Im Jahr 2010 führte eine Inspektion zur Schließung einer Schule für schwer erziehbare Jugendliche in Marianna, Florida, der ‚Dozier School for Boys‘ (1900 – 2011). Eine Gruppe von ehemaligen Schülern („White House Boys“) berichtete von extremen Gewaltanwendungen bei den Insassen und forderte eine entsprechende Untersuchung der Anstalt und des Geländes. [in der Tampa Bay Times wird der ganze Vorgang in vielen Artikeln aufgearbeitet, ich verzichte auf die Quellenangabe bis auf die folgende, da diese einen gewissen Überblick bringt: Ben Montgomery and Waveney Ann Moore: They went to the Dozier School for Boys damaged. They came out destroyed. (https://www.tampabay.com/investigations/2019/08/18/they-went-to-the-dozier-school-for-boys-damaged-they-came-out-destroyed/), und da sie leicht zu ergoogeln sind. Bei Spiegel-online kann man sich weiteres Bildmaterial von den Untersuchungen anschauen: Das Grauen in der Florida School for Boys (https://www.spiegel.de/fotostrecke/horror-schule-das-grauen-in-der-florida-school-for-boys-fotostrecke-110041.html)].

Colson Whitehead nimmt diese grausige Geschichte als Vorlage für seinen im Original 2019 erschienen Roman The Nickel Boys, der den jungen Elwood Curtis in den Mittelpunkt stellt. Elwood ist farbig, in der Zeit, in der dieser Roman spielt, Anfang der 60er Jahre, nicht unbedingt ein Garant für ein sorgenfreies Leben. Von seinen Eltern verlassen wächst er bei der Großmutter auf, er ist fleissig und intelligent und entspricht damit keineswegs dem Klischee. So hört er sich die Reden von Dr. Martin Luther King an, geht sogar auf Demonstrationen und ist im Grunde voller Hoffnung, daß auch er, trotz seiner Hautfarbe, was im Leben erreichen kann.

Durch Jobs verdient er sich etwas Geld, zusammen mit dem Geld, was die Großmutter für ihn zurücklegt, will er sich damit das College bezahlen. Und wirklich findet er auch einen Lehrer, der ihn unterstützt. So macht er sich eines Tages auf in die Nachbarstadt zum College. Ein Farbiger nimmt ihn mit seinem Wagen vom Straßenrand aus mit….

Sie werden angehalten, es zeigt sich, daß das Auto geklaut ist und Elwood wird vom Gericht in besagte Besserungsanstalt eingewiesen, die das System der Rassentrennung konsequent einhält. Da sich der Junge noch nicht mit den Gepflogenheiten der Anstalt auskennt, eckt er schnell an. Aber die Flausen werden ihm genauso schnell gezogen, im White House werden die Schmerzensschreie der Jungen, die dort gefoltert werden, vom Lärm eines großen Industrieventilatoren übertönt.

Elwood ist nicht gebrochen, aber er weiß jetzt, wie es läuft. Er will raus aus dieser Anstalt, passt sich äußerlich an und beobachtet scharf. Dabei findet er Kontakt zu einem andern Jungen, Turner, der ihm eine angenehme Arbeit vermittelt: sie fahren zu dritt mit einem kleinen Lieferwagen in die Stadt und liefern z.B. die den farbigen Jungs vorenthaltenen Lebensmittel an Geschäfte in der Stadt und kassieren das Geld dafür. Auch für kleine Arbeiten wie dem Streichen von Häusern oder Entrümpeln kann man sie mieten. Aber während Turner pragmatisch handelt und vorgeht, ist Elwood im Inneren Moralist geblieben, glaubt an solch vage Begriffe wie „Gerechtigkeit“. Das sollte noch schwerwiegende Konsequenzen haben.

Ist das White House schon schlimm, so gab es noch eine Steigerung. Hinten auf dem Gelände gab etwas versteckt Bäume, an denen Eisenringe angebracht waren. Dort band man die Jungen fest, um sie zu Tode zu prügeln und dann zu verscharren. Die Jahre später exhumierten Skelette dieser armen Wesen wiesen mannigfache Knochenbrüche durch extreme Gewalteinwirkung auf. Als eines Tages Elwood in Gefahr ist, dorthin gebracht zu werden, flieht er mit Turner aus der Anstalt…


Whiteheads Roman ist nüchtern geschrieben, fast wie eine Reportage. Dabei führt er uns Leser schon auf den ersten Seiten hinters Licht, legt eine falsche Fährte, aber vielleicht ist es genau diese falsche Fährte, die uns das Buch und seinen Inhalt überhaupt erst aushalten läßt, haben wir doch damit eine Art „Happy End“ vor Augen. Whitehead beschreibt, analysiert und erklärt aus der Sicht eines auktorialen Beobachters, sein Elwood ist fast ohne Makel bis auf den, daß er die Welt durch seine moralische Brille sieht und dabei verkennt, wie schlecht sie ist, zumindest, wenn die Hautfarbe nicht weiß ist. So geht ihm in einer dieser Szenen erst spät auf, wie man ihn in dem Zweikampf des Wettspülens im Restaurant reingelegt hat, an der Nase herumführte… Später dann, im Nickel, sah er, wie Korruption und Bestechung Alltag waren wie ein Naturgesetz und gegen Naturgesetze, aber das wollte Elwood nicht einsehen, kann man sich nicht wehren…

Das Buch gewinnt seine Brisanz natürlich auch aus der aktuellen Bewegung des Black Lives Matter, sie sich vehement gegen den strukturellen Rassismus in den USA wendet. Ein Rassismus, der an der Oberfläche zu der Zeit, in der Roman einsetzt, überwunden zu werden scheint, im Nickel aber in aller Härte weiterlebt und der auch in den folgenden Jahrzehnten bis in unsere Tage vielleicht etwas verborgener, aber dennoch systemimmanent weiterbesteht. Letztlich brauchte es nur einen Menschen wie den 45. Präsidenten der USA, um die dünne Schicht Tünche, die über diesem Rassismus gelegen haben man, abzukratzen und ihn wieder offenkundig zu machen.

Das zweite erschreckende Moment ist die unfassbare Grausamkeit, der pure Sadismus der „Erzieher“ in diesem Heim. Es herrscht eine Willkürherrschaft in dieser Einrichtung, deren einziges Ziel es ist, die farbigen Jungs (wir erfahren nicht, wie es in dieser Hinsicht den räumlich auf dem Anstaltsgelände untergebrachten weißen Jungen ergeht) zu brechen, im übertragenen als auch im wörtlichen Sinn. Wer das White House bzw überhaupt das Nickel überlebt hat, ist jedenfalls für sein Leben gekennzeichnet, wie Elwood, dessen weiteres Leben in den letzten Abschnitten des Romans in groben Zügen geschildert wird.


Whiteheads Roman spielt an einer der Schlüsselstellen der amerikanischen Geschichte. Mit Martin Luther King tritt eine in den Bann ziehende Führungspersönlichkeit auf die Bühne, die in der Lage zu sein scheint, die Rassentrennung zumindest aufzubrechen. In den Die Nickel Boys schildert der Autor, wie sehr das System jedoch in den Köpfen der Menschen verankert war, und wie schwer es war, die Aufhebung der Rassentrennung auch in der Praxis durchzusetzen. Dazu kam noch, daß sich der Sadismus der ‚Erzieher‘ bei den farbigen Jungs ohne die Furcht vor ernsten Konsequenzen austogen konnte. Natürlich liegt es auf der Hand, die aktuellen Ereignisse in den USA mit dieser Vergangenheit in Verbindung zu bringen, in Wahrheit hat der Rassismus nie wirklich aufgehört, er wurde zwar nicht vererbt, aber doch von einer Generation auf die nächste tradiert. Möglicherweise ist dies ein positiver Effekt der aktuellen Situation in den Staaten: es ist offensichtlich geworden, daß der Rassismus in vielen Bereichen des öffentlichen und auch privaten Lebens noch bei weitem nicht überwunden ist.


Für Die Nickel-Boys hat der Autor den Pulitzer-Preis 2020 erhalten. Es ist ein gerade in seiner Nüchternheit tief beeindruckender Roman, der einen beim Lesen nicht kalt läßt. Er holt ein Stück amerikanische Geschichte zurück ins Gedächtnis, die immer noch wie eine Wunde in der Gesellschaft schwärt. Ich kann diesen Roman nur empfehlen.

Colson Whitehead
Die Nickel Boys
Originalausgabe: The Nickel Boys, New York, 2019
diese Ausgabe: btb, ca. 240 S., 2020

6 Kommentare zu „Colson Whitehead: Die Nickel Boys

    1. ja, liebe constanze, auf diese wendung war ich auch nicht gefasst, ich hatte im ersten impuls sogar gedacht, daß da ja wohl ein riesenfehler passiert ist…. :-(

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      1. liebe christa, ich wiederhole hier einfach das, was ich bei wildgans schon geschrieben habe, weil du dich ja auch auf sie beziehst:
        es stimmt, ein einfaches buch ist dieser roman sicher nicht. aber gewalt bzw. die schilderung von gewalt ist nie selbstzweck und wird auch nie unnötig ausgedehnt. aber sie ist systemimmanent und konnte daher auch verschwiegen werden, manchmal muss man das buch dann schon beiseite legen, um luft zu holen. die eigene fantasie entführt einen dann in diese hölle.

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    1. das stimmt, ein einfaches buch ist dieser roman sicher nicht. aber gewalt bzw. die schilderung von gewalt ist nie selbstzweck und wird auch nie unnötig ausgedehnt. aber sie ist systemimmanent und konnte daher auch verschwiegen werden, manchmal muss man das buch dann schon beiseite legen, um luft zu holen. die eigene fantasie entführt einen dann in diese hölle.

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