Harry Mulisch: Die Entdeckung des Himmels

Der Chef ist sauer und will den Vertrag kündigen. Sind doch die Menschen, die er schuf, mit zuviel freiem Willen ausgestattet, mit Gefühlen, die kaum zu beeinflussen sind und mittlerweile können sie dank ihrer Intelligenz und ihrer Technik fast so viel wie er selbst. Was heißt hier: ihrer Intelligenz? Verkauft haben sie sich, verkauft haben sie ihre Seele an den Beelzebub persönlich. Der Dr. Faustus, von Goethe endgültig berühmt gemacht, trat schon im 17. Jahrhundert als Figur in England auf und als man im Himmel entdeckte, daß er nur die Personifizierung war für das, was wirklich geschehen war, etwas, das auf das Konto von Francis Bacon zu schreiben war, nämlich die Einführung der induktiven Methode in die Wissenschaft als Weg der Erkenntnisgewinnung, war klar, daß konnte nur der Teufel eingeflüstert haben im Tausch gegen die Seele, seiner, Bacons, nämlich und die aller, die ihm folgten auf diesem Weg. Und bevor man jetzt völlig in die Bedeutungslosigkeit verschwinden und als Schiessbudenfigur enden würde, kündigte der Chef lieber den Vertrag mit seinen unbotmäßigen Wesen.

Also wurde ein Engel beauftragt, das in Gang zu setzen, den Vertrag, festgeschrieben auf den Gesetzestafeln, die der Chef damals Moses mitgab, zu eliminieren. Einfacher gesagt wie getan, denn das konnte der Engel nicht selber machen, sondern er brauchte dazu die Hilfe von Menschen und zwar die eines Definierten. Den zu schaffen war mittlerweile nicht mehr eine Sache von Lehm und Ton, sondern eher eine der Genetik. Zuvörderst also mussten die richtigen Eltern und noch zuvörderer die richtigen Großeltern zusammengeführt werden. Ein bischen Schwund ist immer, so ganz ohne Kollateralschäden gings nicht ab, der 1. Weltkrieg beispielsweise war nötig und musste inszeniert werden, um das elterliche Paar des Vaters zusammen zu führen. Beim mütterseitigen Pendant waren die Verluste geringer, hier ging es mit knapp über fünfzig Toten noch recht verhältnismäßig zu…


Es ist ein wunderbarer Plot, den Harry Mulisch in den 80er Jahren zu diesen umfangreichen Roman zusammen gestellt hat. Aber nicht nur eine wilde Geschichte, auch eine sehr unterhaltsame, eine sehr intelligente, vielen Themen umfassende Zeitgeschichte. Sie wird in erster Linie von drei Protagonisten getragen. Da ist zum einen Max, Sohn einer Jüdin und eines hohen SS-Offiziers, der damals seine Karriere nicht durch den jüdischen Ballast gefährden wollte und diesen dann beseitigte, was (aber nicht nur dies) ihm nach dem Krieg einen Prozess und anschließend eine Kugel einbrachte. Der Mutter und ihrer Familie half dies freilich nicht mehr. Max selbst ist Astronom, pedantisch, ja fast zwanghaft auf Ordnung bedacht (im Falle, daß man fliehen muss, musste man die wichtigen Sachen ohne zu suchen sofort greifen können) und hat Frauen gegenüber ein Prinzip: jede Nacht eine andere. Dank seiner kultivierten Art konnte er dieses Prinzip locker durchziehen. Sein Gegenpart ist Onno Quist, ein aus der Art geschlagener Abkömmling einer dynastische Politikerfamilie, streng calvinistisch, den er durch Zufall (hahaha…. Zufall! Wissen wir besser!) kennenlernt. Ein genialer Linguist und Sprachenkenner, chaotisch bis zur Schmerzgrenze, hochgebildet und ein begnadeter Spötter vor dem Herrn. Mit Max verbindet ihn sofort eine Seelenverwandtschaft, so unterschiedlich beide im Äußeren auch sind, schon bald ist das Duo, das sich fortan täglich trifft stadtbekannt und Gegenstand häufigen Kopfschüttelns.

Als Max in einem Antiquariat ein Buch für Onno kaufen will, trifft er auf die Tochter des Antiquars, die Chellistin Ada. Zwar lebt die junge Frau selbst zurückgezogen, aber mit Max geht sie sofort mit. Die beiden werden ein Paar und zum ersten Mal lebt Max monogam, aber letztlich zerbricht das Verhältnis, weil Max die Freundschaft mit Onno wichtiger ist als die mit Ada. Was aber im Endeffekt dazu führt, daß sich Ada und Onno näherkommen….

Ende der 60er Jahre, in der dieser Teil der Geschichte spielt, ist eine politische Zeitenwende im Gange. Die Einzelheiten hier zu erzählen, würde zu weit führen, jedenfalls schaffen es Max und Onno, Ada nach Cuba zu begleiten, wohin diese zu Auftritten eingeladen worden ist. Die beiden Männer, die für die Cubaner einigermaßen überraschend mitgeflogen sind, werden von den Behörden kurz und schmerzlos für einen revolutionären Kongress eingeschrieben. Zu dritt geniessen sie die Zeit, die Sonne, die Gastfreundschaft. Den letzten Tag des Aufenthalts verbringen sie getrennt, Ada und Max fahren ans Meer, Onno will, so sagt er, eine Kirche besichtigen. Es ist der Tag, der ihre gegenseitige Beziehung für immer belasten sollte, auch wenn sie selbst den Überblick über die Geschehnisse nicht haben, sondern ’nur‘ über ihren eigenen Anteil daran.

Ada jedenfalls hat sofort im Gespür, daß sie schwanger geworden ist, noch am gleichen Abend schläft sie also auch mit Onno, der seinerseits an diesem Tag in keiner Kirche war, sondern sich von einer schönen Unbekannten hatte verführen lassen und jetzt vor eigenem schlechtem Gewissen nicht aus noch ein weiß… Am meisten jedoch hat Max zu kämpfen, sein Verhalten belastet sein Verhältnis zu Onno sehr, alle Unbefangenheit ist weg und durch die Angst ersetzt, daß das Kind ihm ähnlich sein könnte und somit alles verraten würde.


Onno und Ada heiraten, pflegen aber weiterhin ein gutes Verhältnis zu Max. Als sie diesen auf seiner Sternwarte besuchen, fegt ein Sturm übers Land. Mitten in der Nacht erhalten sie die Nachricht, daß Adas Vater einen Herzinfarkt erlitten hat, Max bietet sich sofort an, sie nach Amsterdam zu fahren. Sie entgehen knapp einem Unfall, ein Baum liegt quer auf der Straße. Als Max und Onno versuchen, das Auto wieder flott zu bekommen, fällt ein zweiter Baum, direkt auf das Auto, direkt auf Ada. Sie überlebt, das Kind in ihrem Bauch überlebt, aber Ada wird jahrelang nicht aufwachen.

Das Kind muss mit Kaiserschnitt geholt werden, Onno versteht es als „Angebot“, als der Arzt erklärt, manche Frauen würden solche Operationen nicht überleben, ein „Angebot“, auf das er letztlich aber nicht eingeht….. So überlebt Ada und gebiert ein wunderschönes Kind, einen Jungen.

Aber wer soll das Kind aufziehen? Max seinerseits getrieben von schlechtem Gewissen, von Schuldgefühlen, vllt auch von Erleichterung, daß das Kind ihm nicht ähnlich sieht, bietet sich an, den Jungen zusammen mit Sophie, der Mutter Adas, der Frau, die eine sehr heimliche Beziehung zu ihm angefangen hat, aufzunehmen und zu erziehen.

Quinten ist/wird ein sehr eigenwilliges Kind, das zu einem ebenso eigenwilligen jungen Mann heranwächst. In dem Schloß, in der er bei seinem Ziehvater und seiner Oma aufwächst, findet er ein wunderbares Biotop für sich. Bei den verschiedenen Nachbarn lernt Quinten die verschiedensten Sachen, die auf keiner Schule unterrichtet werden, z.B. Schlösser aller Art zu öffnen…. Ein Traum, der ihm immer wieder erscheint, führt ihn zur Architektur, er träumt von einem unendlichen Gebäude, das nur Innenwände hat, aber keine Aussenwände, das sich in die Weite erstreckt mit Räumen, Treppen, Erkern, Durchgängen, Höfen…, das nur Aussenwände hat, aber keine Innenwände, bei dem man nie zu einem Ende kommt. Auch zu diesem Thema findet er einen kundigen Lehrer, der ihn in die architektonischen Ideen der verflossenen Jahrhunderte einführt.


Onno macht derweil in der Politik Karrieren, der letzte Karriereschritt jedoch gelingt ihm nicht. Er wird vor der Ernennung zum Minister denunziert, der lang verjährte Ausflug nach Kuba, der revolutionäre Kongress, für den er eingeschrieben war….. am gleichen Abend bekommt er die Nachricht, daß Helga, die Frau, mit der er mittlerweile zusammen lebte, ermordet worden ist. Dies beides bricht ihn, der Tod Helgas weit mehr als der verlorene Ministerposten und Onno beschließt, der Welt lebewohl zu sagen und verschwindet ins Nirgendwo.

Jahre vergehen, Quinten wächst heran, die Schule interessiert ihn nicht, er spürt eine andere Unruhe in seiner Seele. So beschließt er eines Tages, achtzehn Jahre sind seit seiner Zeugung vergangen, seinen Vater zu suchen.


Dieser hat sich in die heilige Stadt zurückgezogen und lebt dort unter dem Namen des Vaters von Max, eines exekutierten Kriegsverbrechers also. Er ist verwahrlost, sein einziger Freund ist Edgar, ein Rabe, der sich ihm angeschlossen hat, der Name eine Reminiszenz an Nevermore…. Ähnlich Kafka verfasst er Briefe, die er nie abschickt, unter anderem einen interessanten an seinen Vater, in dem er sich über das Wesen der Macht ausläßt. In der Tat eine spannende und auch wichtige Frage: wieso haben einige Menschen Macht ((bzw. gelangen zur Macht), unabhängig davon, wie begabt oder fähig sie sind, während andere mit den gleichen oder besseren Fähigkeiten immer im zweiten, dritten, vierten Glied bleiben? Onno macht dies letztlich am Körper fest, ich denke, ich liege nicht falsch, wenn ich dies mit Körpersprache gleichsetze. Als ein Beispiel nimmt er Hitler (Trump konnte Mulisch ja noch nicht kennen, zumindest nicht in der Funktion, die dieser zwischen 2016 und 2020 innehatte). Ganz nebenbei wischt Onno übrigens mit dieser These auch Gott mitsamt seiner Mischpoke beiseite, denn einen Körper schreibt man Gott nun wahrlich nicht zu und damit hat der nach Onno auch keine wirkliche Macht. Genau das ist es ja auch, was dem Chef so stinkt, daß er den Bund mit dem Menschen kündigen will: er hat seine Macht über sie, seinen Einfluss auf sie verloren.

Kommen wir aber zu Hitler zurück. Ein kleiner, unscheinbarer Typ, der es jedoch schaffte, Millionen von Menschen in seinen Bann zu ziehen. Andere Männer mit den gleichen Eigenschaften wären nach Onno in irgendeinem frühen Stadium von ihren Vasallen in ihre Schranken verwiesen worden: „Nun mach mal halblang“, nicht aber Hitler, mit seiner sorgsam durchchoreographierten Körpersprache. Zwei Beispiele, die Mulisch zur Verdeutlichung aufführt: Hitler steht bei einer Gesellschaft auf dem Obersalzberg in einer Ecke der Veranda und schaut finster in die Bergwelt. Speer daraufhin: oje, es wird Krieg geben! Nur weil Hitler so schaut, befürchtet Speer den Ausbruch eines Krieges! bzw. Heidegger zu Jaspers, als der Hitler als kulturlos bezeichnet: „Kultur tut nichts zur Sache …. aber achte einmal auf seine wunderschönen Hände „.


Wir wissen es besser als die Protagonisten, also überrascht es uns nicht, daß Quinten seinen Vater recht einfach findet. Zwei Versuchungen des Teufels, ihn von seinem Vorhaben abzubringen, pariert er lässig, und da ist schon wieder so einer, ein Penner, der auf ihn zukommt… aber schnell erkennt er ihn, seinen Vater.

In Rom, dieser Stadt, die Geschichte atmet, beginnt nun so etwas wie eine Schnitzeljagd, Quinten setzt sich in den Kopf, die Gesetzestafeln des Mose, jahrhundertelang verschollen und zerstört geglaubt, seien weder dies noch das, sondern in Rom. Mithilfe seines schrift- und schriftenkundigen Vaters, den er mehr oder weniger freiwillig zur Teilnahme an der Suche überredet, machen sie sich auf die Suche…..


In einem gewissen Sinne handelt es sich bei Mulisch‘ Roman um die Geschichte einer Pubertät. Der Mensch, geschaffen von Gott, (von) diesem verpflichtet durch die Gebote, wird unbotmäßig und selbstständig. Er wendet sich, warum auch immer (hier durch Einflüsterungen des Luzifer) von Gott ab und richtet sich sein Leben ohne ihn ein. So hatte Gott sich das bei der Schöpfung nun nicht vorgestellt, zwar sah er seinerzeit, daß es gut war, aber er übersah wohl, daß es nicht gut enden würde…. … und möglicherweise sah er noch nicht einmal, wie gut sein Werk war, was alles in ihm an Potentialität verborgen war.

Mit seiner Allmacht kann es auch nicht mehr soweit her sein (ein nettes Paradoxon: Allmacht und Unsterblichkeit schließen sich aus, denn offensichtlich hat er ja nicht die Macht, zu sterben….), daher beauftragt Gott seine Bürokratie, den Vertrag zurückzunehmen. So wird dieses sehr umständliche, auf Verluste keine Rücksicht nehmende (1. Weltkrieg!) Verfahren in Gang gesetzt, über das der eine Engel (ich sage mal, der Adlatus) dem anderen (der mir eher der Büroleiter zu sein scheint) berichtet. Nur an wenigen Stellen, eigentlich nur einmal, ganz am Schluss, wählt Mulisch dann die ‚Ich-Form‘ der Erzählung, ansonsten bleibt der Erzähler anonym.

Gegliedert ist der Roman in vier große Abschnitte, der letzte dieser Abschnitte, die Schnitzeljagd durch Rom, ist so ein wenig Dan-Brown-artig („Sakrileg“). Ich gehe davon aus, daß Mulisch sauber recherchiert hat und die Aussagen zur Historie und zur Bibelexegese, die er Onno in den Mund legt, zutreffend sind, zumindest in der Zeit, in der der Roman geschrieben worden ist, zutreffend waren. Es hat mich wieder einmal bestärkt, daß man misstrauisch sein soll gegen Schriften, die Übersetzungen sind von Übersetzungen von Übersetzungen …. von mündlichen Überlieferungen, denn in jede Übersetzung fließt der Zeitgeist mit ein und evtl sogar eine Absicht, den/die Leser in eine gewisse Richtung zu drängen.

Die Entdeckung des Himmels ist auch eine Bestandsaufnahme der Niederlande zur Zeit, in der der Roman entstand. Das historische Versagen im Dritten Reich, in dem man den Nazis zuarbeitete, in dem man die Juden sammelte und via Westerbork nach Auschwitz schickte (vgl. z.B. hier: Etty Hilversum: Ein denkendes Herz; https://radiergummi.wordpress.com/2014/07/16/etty-hillesum-ein-denkendes-herz/) wird ebenso aufgegriffen wie die politischen Unruhen in den 60er Jahren. Wichtig für den Roman ist auch das Thema Sterbehilfe und Euthanasie, das in den Niederlanden lange und intensiv diskutiert worden ist. Und last not least steckt auch Biographisches in dieser Geschichte, wie Max hatte auch der 2010 verstorbene Autor eine jüdische Mutter und einen „arischen“ Vater, im Gegensatz zum Romanvater von Max konnte dieser (und tat es) jedoch seine jüdische (Ex-)Frau und seinen Sohn schützen (https://de.wikipedia.org/wiki/Harry_Mulisch).

Noch vieles ließe sich schreiben über diesen umfangreichen Roman, dessen Ende offen ist, was zumindest Onno und Quinten angeht, den Rest der Hauptfiguren hat ja der Plan der himmlischen Bürokratie hinweggerafft. Aber das wenige, was ich angerissen habe, sollte doch hoffentlich Appetit machen auf diesen wunderschönen, intelligenten, unterhaltsamen und kurzweiligen Roman des holländischen Autoren Harry Mulisch.

Harry Mulisch
Die Entdeckung des Himmels
Übersetzt aus dem Niederländischen von Marina den Hertog-Vogt
Originalausgabe: De ontdekking van de hemel, Amsterdam 1992
diese Ausgabe: Hanser, HC, ca. 800 S, 1993

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