Petra Rechenberg-Winter: Trauer in Familien – wenn das Leben sich wendet

Das schmale Bändchen aus der Reihe: Leben. Lieben. Arbeiten: systemisch beraten wendet sich an Therapeuten und Berater, die in ihren jeweiligen Kontexten mit diversen Problemstellungen konfrontiert werden. Ich, das möchte ich vorausschicken, habe dieses Büchlein im Rahmen einer „Hausaufgabe“ für einen Qualifizierungskurs als Trauerbegleiter gelesen. Die Ausführungen sind für ehrenamtliche Trauerbegleiter sicherlich sehr hoch im Niveau und übersteigen unsere üblichen Einsatzbereiche, bilden jedoch ein gutes Fundament, um auch niederschwellige Nachfrage nach Begleitung in Trauersituationen besser einordnen zu können.

Die Autorin setzt Grundkenntnisse zentraler systemischer Prämissen voraus und führt diese nur stichwortartig an. Grundlegend ist, daß jeder Mensch in ein Beziehungssystem eingebunden ist, so daß jedes Ereignis, das einen einzelnen betrifft, auch auf die anderen Mitglieder des Systems Auswirkungen hat. Das Bild eines Mobiles, das zu seinem Gleichgewicht zurückkehren muss, wenn nur eins seiner Teile eine Erschütterung erfährt, ist hilfreich zum Verständnis. Wichtig ist im Gedächtnis zu behalten, daß auch die Tätigkeit des Beraters auf dieses gesamte Beziehungsgeflecht einwirkt, im Bild: auch die Beratung bringt das Mobile wieder aus dem Gleichgewicht in einen Zustand, der ein neues, stabileres Gleichgewicht finden muss.

Trauer wird üblicherweise mit dem Tod eines Menschen assoziert, das erste von drei Fallbeispielen, die die Autorin bringt, befasst sich jedoch mit einem sogenannaten „uneindeutigen Verlust“: der Partner hat sich beispielsweise durch Krankheit derart verändert, daß er physisch noch präsent ist, aber das gemeinsame Zusammenleben nicht mehr das sein kann, was es vor der Krankheit war. In diesem Zusammenhang definiert die Autorin Trauer als angeborene Fähigkeit, Verluste zu überstehen und uns den veränderten Gegebenheiten entsprechend neu zu orientieren, um unser Leben langfristig an diesen zu orientieren. [S. 21] Dieser letztere „kreative“ Aspekt der Trauer begegnet uns mehrfach im Buch. Ferner geht Rechenberg-Winter auf das Konzept der Wendepunkte ein, die einschneidende Übergänge in der Biographie Einzelner in Wechselwirkung mit ihrer Umgebung [S. 20] sind. Einschulung, Berufswahl, Heirat, Kindsgeburt, Unfall etc sind solche Wendepunkte, die noch nach regulär, schicksalhaft, gewählt eingeteilt werden können. Mögliche Fragen zu diesen Wendepunkten werden aufgeführt.

Im Zusammenhang mit der Sinnfrage (Warum gerade jetzt, warum gerade ich, wer trägt Schuld) hält die Autorin fest, daß es unserer Aufgabe [ist], empfundene Trostlosigkeit, Klagen und Hadern, Leiden und Ringen um Halt mitfühlend zu begleiten und nicht in persönliche Trauerprozesse einzugreifen. [S. 24]. Des weiteren sind Trauerprozesse oft mit Konflikten beladen, die sich häufig sogar nur an Kleinigkeiten entzünden und von den Konfliktparteien als negativ empfunden werden und die Angst nach dem Was wird aus uns? hervorruft [Stichwort: Dialektisches Trauerverständnis nach Goldbrunner].

Ein zweites Fallbeispiel geht auf den Tod der mittleren von drei Töchtern einer Familie ein. Die Familie hat Angst zu zerbrechen, ist in ihrem System, d.h. mit- und untereinander, sprachlos. Die Art der jeweiligen Familienmitglieder, mit dem Verlust umzugehen, ist sehr unterschiedlich und kann von den jeweils anderen nicht eingeordnet werden. Rechenberg-Winter erläutert an diesem Beispiel, daß in einem System oft jeder einen bestimmten Aspekt des Trauerns übernimmt, um so das Gesamtsystem am Leben zu erhalten: die Mutter trauert und klagt, der Vater geht arbeiten, um die Familie zu ernähren, die eine Tochter besucht Discos, weil sie dort mit der Schwester immer war und sich ihr dort nah fühlt. Die zweite Tochter ist oft bei einer befreundeten Familie, in der sie sich in der nicht belastenden Atmosphäre von der Düsternis und Sprachlosigkeit in der eigenen Familie erholt.

In der Beratung lernt die Familie, miteinander über die tote Tochter/Schwester zu reden, sie lernt ferner, daß der Tod eines Familienmitglieds nicht bedeutet, daß keine Beziehung mehr zu diesem Menschen besteht, auch die tote Tochter/Schwester wird immer Teil des Genogramms bleiben. Der Familie wird ferner dabei geholfen, vernachlässigte Rituale (gemeinsames Essen) wieder aufzunehmen. Stichworte zu diesem Fallbeispiel sind „Trauerarbeit“, „Duales Prozessmodell“ [PDM, Stroebe und Schut], in dem u.a. Fragen behandelbar sind wie „Was ist mit mir los?“, „So kann ich mich gar nicht!“, „Genogramm“, „Systemskulptur“, „Ressourcenarbeit“, in der Potentiale der Trauernden herausgearbeitet werden können sowie (niederschwellig) kreative Ansätze für Problemlösungen gefunden werden können. Des weiteren geht die Autorin auf das Modell des Lebensflusses ein, auf die Bedeutung kreativen Schreibens (z.B. Elfchen, Haikus, ABeCeDarien).

Im letzten Fallbeispiel geht es um Geschwistertrauer. Die sechs Jahre jüngere Schwester war neurologisch krank, hatte die gesamte Aufmerksamkeit der Familie in Anspruch genommen und war mit drei Jahren dann gestorben. Hier konnte durch Anfertigen einer Netzwerkkarte [nach Herwig-Lempp] verdeutlicht werden, wie angefüllt das professionelle Lebensfeld besonders während des letzten Lebensjahr von C. [der toten Schwester] war und wie leer es nun ist. Durch Anlegen einer Erinnerungskiste lernt die Familie wieder, über C. zu sprechen.

Im letzten Abschnitt referiert Rechenberg-Winter über die Grenzen systemischer Beratung. So ist es wichtig, den jeweiligen Trauerprozess (jede Trauer ist anders!) qualifizieren zu können (nicht-erschwerte, erschwerte, traumatische oder komplizierte Trauer). In diesem Zusammenhang ist es von Bedeutung, die eigene Kompetenz einschätzen zu können. Das Büchlein endet schließlich mit einem Ausblick für systemisch Beratende, zusätzlich sind ein Literaturverzeichnis sowie Kontaktadressen angegeben.

Trauer in Familien ist sehr faktenreiches Büchlein, das im Wesentlichen für den Beratenden einige Aspekte jeweiliger Situationen ins Gedächtnis zurückrufen bzw. neue Ideen anregen soll. Nichtsdestotrotz enthält es auch für uns niederschwelliger arbeitende ehrenamtliche Begleiter viele nützliche Tips und Infos für die Begleitung. Mit zweien davon möchte ich diese kurze Buchvorstellung beenden und ich hoffe, daß ich selbst sie immer berücksichtigen werde:

Es ist unsere Aufgabe, empfundene Trostlosigkeit, Klagen und Hadern, Leiden und Ringen um Halt mitfühlend zu begleiten und nicht in die persönlichen Trauerprozesse einzugreifen. [S.24]

Die professionelle Haltung der Beraterin ist …. getragen von Begegnungsmut, Nichtwissen, wertschätzender Neugier…. [S. 48]

Petra Rechenberg-Winter
Trauer in Familien – wenn das Leben sich wendet
diese Ausgabe: Vandenhoek & Ruprecht, Pb, 2017, ca. 78 S.


Mehr Bücher zum Thema „Trauer“ werden in diesem Blog hier vorgestellt:
https://radiergummi.wordpress.com/category/krankheitsterbentodtrauer/

Speziell von der Autorin habe ich hier im Blog schon den Titel: In der Mitte der Nacht beginnt ein neuer Tag vorgestellt.

3 Kommentare zu „Petra Rechenberg-Winter: Trauer in Familien – wenn das Leben sich wendet

    1. liebe claudia,

      ich hoffe, daß dir das büchlein bei deinem „anlass“ etwas helfen kann. du kannst ja ggf. auch mal durch meine anderen besprechungen zum thema scrollen….

      liebe grüße
      gerd

      Like

Datenschutzhinweise: Die Kommentarangaben werden an Auttomatic, USA (die Wordpress-Entwickler) zur Spamprüfung übermittelt und die E-Mailadresse an den Dienst Gravatar (Ebenfalls von Auttomatic), um zu prüfen, ob die Kommentatoren dort ein Profilbild hinterlegt haben. Zu Details hierzu sowie generell zur Verarbeitung Ihrer Daten und Widerrufsmöglichkeiten, verweisen wir Sie auf unsere Datenschutzerklärung. Sie können gerne Pseudonyme und anonyme Angaben hinterlassen.

Diese Seite verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden..