Albert Camus: Die Pest

Es ist ebenso vernünftig, eine Art Gefangenschaft durch eine andere darzustellen,
wie irgendetwas, was wirklich existiert, durch etwas, was nicht existiert.

Albert Camus gehört sicherlich zu den bedeutendsten Literaten der modernen Literatur. 1913 in Nordafrika geboren und 1960, drei Jahre nachdem ihm der Nobelpreis für Literatur verliehen worden war, in Frankreich bei einem Unfall gestorben, hat er den 1. Weltkrieg noch nicht bewusst, den zweiten aber um so bewusster mit erleben müssen. Dies ist für das Verständnis seines Romans Die Pest wichtig zu wissen, denn man kann die in diesem Werk beschriebene Krankheit und ihre Folgen für die Bewohner der nordafrikanischen Stadt Oran als Bild nehmen für den Krieg, der in den Augen Camus gleichfalls völlig absurd ist. Im eingangs stehenden Zitat verweist Camus selbst indirekt auf diesen Sachverhalt, daß er das eine schildert, und das andere damit meint. So finden sich viele Begriffe aus der Terminologie des Krieges in seinem Roman, von Belagerungszustand ist die Rede, ebenso von Exil – um nur zwei Beispiele zu nennen, auch stößt man im Text gleich zu Anfang auf den direkten Vergleich zwischen Krieg und Pest, die ihm beide gleich sinnlos erscheinen und damit eine Absurdität des Lebens darstellen: Es hat auf der Welt genauso viele Pestepidemien gegeben wie Kriege [was schätzungsweise nicht stimmt…]. Und doch treffen Pest und Krieg die Menschen immer unvorbereitet. … Wenn ein Krieg ausbricht, sagen die Leute: „Das wird nicht lange dauern, das ist doch zu dumm.“ Und zweifellos ist ein Krieg mit Sicherheit zu dumm, aber er dauert trotzdem lange. Dummheit ist immer beharrlich. [S. 46]

Daß Camus seinem Roman ausgerechnet ein Zitat von Defoe voranstellt, ist sicherlich kein Zufall, denn Daniel Defoe, sonst eher als Autor des Robinson Crusoe bekannt ist, hat selbst eine Chronik über eine reale Pest geschrieben. Die ‚Große Pest‘, die 1665/66 im Süden Englands tobte, forderte damals allein in London 70.000 Todesopfer [vgl. z.B. https://de.wikipedia.org/wiki/Große_Pest_von_London ]. Schon Defoe hat einen Chronisten die Pest miterleben und sowohl statistische Daten als auch die Auswirkung der Seuche auf die Menschen aufzeichnen lassen; da er selbst zu jung war, als der Pestausbruch stattfand, nimmt man an, daß er die Aufzeichnungen seines Onkels für seinen Bericht benutzte. Btw: Wer sich für das Thema „Literatur und Epidemie“ erwärmen kann, findet hier eine kleine Einführung:  Daniel Graf: Die Krankheit der anderen; in: https://www.republik.ch/2020/04/04/die-krankheit-der-anderen, vgl auch meine Hinweise am Ende des Beitrags]

Doch zurück zu Camus. In seinem Roman finden sich einige biografische Elemente: der Autor hat selbst einige Monate in Oran gelebt (1941/42), seine Frau stammte aus dieser Stadt. Nachdem er 1942 für eine Kur nach Frankreich zurück gekehrt war, wurde ihm durch die Kriegsereignisse die Rückkehr nach Oran unmöglich. In Paris, wohin er dann ging, erlebte er den Krieg letztlich hautnah am eigenen Leib mit. Setzt man für den Begriff ‚Krieg“ den der ‚Pest‘ hat man eines der grundlegenden Motive im Roman: die Trennung von liebenden/geliebten Menschen, die diese sinnlose Krankheit mit sich bringt und unter der auch einige der Hauptfiguren des Romans leiden.

Die wichtigste dieser Figuren ist zweifellos der Arzt Dr. Rieux, durch die Ereignisse von seiner Frau, die in Kur ist, getrennt. Ihn begleitet der Erzähler durch die Monate, in denen die Pest in Oran herrscht, in seinem Umfeld begegnen wir ob als Bekannte oder Patienten weiteren Charakteren wie dem jungen Tarrou, der politisch aktiv ist, der ebenfalls eine Chronig der Ereignisse führt, die sich mehr auf die alltäglichen Dinge des Lebens konzentriert und der später dann im Verlauf der Pest eine Schutztruppe gründet. Der Journalist Rambert ist noch zu erwähnen, der einer Reportage wegen nach Oran gekommen war, dort jetzt aber nicht mehr wegkommt und derart von seiner Liebe getrennt ist. Nachdem ein Fluchtversuch schon im Ansatz scheiterte schließt er sich der erwähnten Schutztruppe an. Als letzten möchte ich noch den unbedeutenden städtischen Hilfsangestellten Grand (sic!) erwähnen, der einen Roman schreiben will, aber schon bei der Formulierung des ersten Satzes hängen bleibt. Er ist eine tragische Figur, dem das ganze Leben schlecht mitgespielt hat, aber er gehört zu denen, die Camus am Ende die Pest überleben läßt. Zusammen mit weiteren Charakteren bilden diese Personen die Fluchtpunkte des Romans, um die herum Camus die Geschehnisse und Entwicklungen erzählt.

Die Geschichte spielt im Jahre 194., ist also zeitlich nicht fest fixiert, der Roman selbst wurde 1947 veröffentlicht. Er beginnt mit einer toten Ratte, die der Concierge es Hauses, in dem Dr. Rieux mit seiner Mutter (die Frau ist krank und zur Kur) lebt. Ein ekliges Ärgernis, der Concierge vermutet einen unappetitlichen Streich, den man ihm spielen wollte, aber es tauchen in der nächsten Zeit immer mehr tote Ratten im Haus und in der ganzen Stadt auf. Nachdem dann auch Menschen erkranken, schwer erkranken und sterben, mit Symptomen sterben, die ganz eindeutig auf die Pest hindeuten, wird einigen wenigen klar, daß sich hier ein großes Unglück anbahnt. Obwohl, so richtig erfassen, was geschieht, kann es auch der Arzt nicht: Selbst als Doktor Rieux seinem Freund gegenüber zugegeben hatte, dass eine Handvoll verstreuter Kranker ohne Vorwarnung an der Pest gestorben war, blieb die Gefahr für ihn unwirklich. [S. 47]. Präfektur und Verwaltung wollen nichts hören von der Pest, aber ‚Pest‘ ist ja nur ein Wort, und wie man es nennt, ist egal, denn die Kranken und die Toten, deren Zahl immer weiter zunimmt, sind und bleiben Realität.

In der Folge schildert Camus in insgesamt fünf Abschnitten, wie die Pest auftritt, wie sie sich entwickelt und das Leben der Menschen beeinflusst, wie die Seuche ihren Höhepunkt erreicht, wieder abflaut und dann auf einmal, nach Monaten, wieder verschwindet, als hätte sie ihre Kraft verloren. Es ist müßig, den Inhalt des Romans hier wiederzugeben. Was beklemmend wirkt, ist die Tatsache, daß man, würde man den Begriff ‚Pest‘ gegen ‚COVID-19″ tauschen, ein fast getreues Bild aktueller Ereignisse erhielte. Angefangen vom Unterschätzen und dem Nichtwahrhabenwollen über die Verhängung einer Quarantäne über die gesamte Stadt bis hin zu der Tatsache, daß zu wenig Impfstoff beschafft werden kann und der nicht ‚massgeschneidert‘ ist für dieses spezielle in Oran wütende Bakterium. Was aktuell die Mutanten sind, ist bei Camus die Lungenpest, die zusätzlich zur Beulenpest auftritt und die Gesamtsituation verschärft. Die vor den Mund gewickelten Mullbinden als Schutz werden als unwirksam bezeichnet, aber sie schüfen Vertrauen – all das kommt einem bekannt vor. Erkrankte werden in Behelfskrankenhäusern isoliert, Familien von Erkrankten müssen in Quarantäne. Zeitweise liegt eine Ahnung von Rebellion in der Luft… Die Aufzählung solcher Entsprechungen ließe sich leicht erweitern. Einzig daß die Lokale, daß Kinos und Theater in Oran geöffnet bleiben und stark frequentiert werden, ist anders, auch die nach Einbruch der Dunkelheit sich teilweise ausbreitende Zügellosigkeit auf der Suche nach Nähe und Wärme finden wir im aktuellen Ereignis nicht so.

Alle leiden sie unter der Trennung von Liebsten, die am Morgen zur Kur gefahren sind, oder in die nächste Stadt, um Erledigungen zu machen und die am Abend nicht mehr nach Oran zurück durften. Kaum ist der Kontakt aufrecht zu halten, einzig Telegramme mit wenigen in gnädiger Absicht geschwindelten Worten gehen hin und her. Im Lauf der Wochen schwindet die Erinnerung an den/die Vermisste, wird undeutlicher, unklarer, undefinierter…. Apathie macht sich breit, Gleichgültigkeit und Abgestumpftheit…. Immer rigider werden die behördlichen Anordnungen, immer roher wird die Art und Weise, wie die Behörden mit den Verstorbenen verfahren, verfahren müssen, um den Mengen Herr zu werden. Waren anfangs noch wenige Familienmitglieder bei den Beerdigungen erlaubt, werden diese schon bald im Schutz der Nacht klandestin in Massengräbern bestattet, wenn man das Verscharren so nennen will….

Einzig derjenige im Panoptikum der Figuren, der Dreck am Stecken hatte, der sich früher vor der Polizei versteckte und Tag und Nacht Angst hatte vor Entdeckung, der lebt jetzt auf, da die staatlichen Strukturen überfordert sind und er keine Nachstellungen mehr zu befürchten braucht.

Aber es zeigt sich auch Altruismus. Dr.Rieux, der unbeirrt seine Patienten besucht, obwohl er irgendwann merkt, daß er nicht mehr als Arzt unterwegs ist, der heilt, sondern daß er nur noch verwaltet, die Kranken isoliert, Todesurteile verkündet. Tarrou, der eine Schutztruppe gründet, die die Kranken betreut, der Mitstreiter findet und sich der Gefahr der Ansteckung aussetzt…. Grand, der schreibblockierte Hilfsangestellte, der nach dem Dienst die notwendige Statistik führt und gewissenhaft seine Karteikarten ausfüllt…

Was ein Jubel – und die Nachricht verbreitet sich wie ein Lauffeuer – als nach Monaten wieder eine Ratte gesehen wird. Die Ratten gingen, als die Pest kam, die Ratten kehren zurück, als jetzt die Pest verschwindet….. Der Roman hat kein Happy End, wie sollte er. Das Leben wird sich wieder einspielen in Oran und für seine Bewohner, aber es wird anders sein, denn das Erlebte hat die Überlebenden geformt und gestaltet. Es wird nicht mehr sein, wie es vorher war.


Camus Roman ist viele Jahrzehnte alt, aber unseligerweise brandaktuell. Was er schildert, teilweise minutiös darstellt, sind Erscheinungen, die wir auch jetzt zu Zeiten von Corona beobachten können. Dabei meine ich weniger die Parallelitäten der Seuchenbekämpfung, die gleichen sich vom Prinzip her, mit der gegen eine Infektionskrankheit her vorgegangen werden muss. Interessanter ist daher die genaue Beobachtung dessen, was im Menschen, im Betroffenen, geschieht, wie dieser auf die extreme Situation der Bedrohung einerseits durch eine Krankheit, die (im Fall der Pest) mit hoher Wahrscheinlichkeit zum Tod führt reagiert, während er andererseits von grundlegenden menschlichen Bedürfnissen abgeschnitten wird: der Nähe zu Menschen, dem Zusammensein mit den Liebsten, der Möglichkeit, sich frei zu bewegen. Die Folgen lassen sich (zumindest geht es mir so) an sich selbst beobachten: zunehmende Resignation, Gleichgültigkeit, Desinteresse. Man stumpft ein ab, nimmt nur noch zur Kenntnis, selbst das Aufregen über z.B. unsinnig erscheinende Anordnungen fällt schwer. Und am Ende des Romans, als die Bewohner Orans ausgelassen ein Freudenfest feiern ob des Rückzugs der Pest, weiß nur der Arzt, daß der Kampf nie vorbei ist: Während Rieux den Freudenschreien lauschte, die aus der Stadt aufstiegen, erinnerte er sich nämlich daran, dass diese Freude immer bedroht war.

So ist Die Pest eine scharfsichtige, scharfsinnige Analyse und Beschreibung menschlichen Verhaltens im Fall einer lang andauernden Bedrohung und Katastrophe. Sie ist leider wieder hochaktuell geworden und zeigt, daß Camus Darstellung, die dieser unter dem Einfluss eines verheerenden Krieges geschrieben hat, nach wie vor gültig ist, man kann wohl mit Fug und Recht sagen, sie ist zeitlos. Vermutlich läßt sie sich auf alle Katastrophen anwenden, die in der Zeit nicht punktuell stattfinden, sondern lange andauern, der Autor selbst zieht den Vergleich und die Analogie mit dem/einem Krieg. So ist die Lektüre des Romans unabhängig auch von seiner hohen literarischen Qualität immer noch und allzeit empfehlenswert.


Weitere Bücher, die ich zum Thema „Pest, Epidemie“ hier im Blog vorgestellt habe:

GEO-Epoche: Die Pest (https://radiergummi.wordpress.com/2016/01/28/geo-epoche-die-pest/)
Hilde Schmölzer: Die Pest in Wien (https://radiergummi.wordpress.com/2015/11/19/hilde-schmoelzer-die-pest-in-wien/)
Anna Bergmann: Der entseelte Patient (mit Abschnitten über die Pest): (https://radiergummi.wordpress.com/2015/03/05/anna-bergmann-der-entseelte-patient/)
Alessandro Manzoni: Die Verlobten (Kapitel 31ff beschreibt sehr eindringlich den großen Pestzug in Mailand): (https://radiergummi.wordpress.com/2014/11/25/allessandro-manzoni-die-verlobten-das-2-buch/)
Ljudmila Ulitzkaja: Eine Seuche in der Stadt (https://radiergummi.wordpress.com/2021/02/17/ljudmila-ulitzkaja-eine-seuche-in-der-stadt/)


Albert Camus
Die Pest
Aus dem Französischen übersetzt von Uli Aumüller
Originalausgabe: La Peste, Paris, 1947
diese Ausgabe: rororo, TB, ca. 350 S., 2021
(100. Auflage)

3 Kommentare zu „Albert Camus: Die Pest

  1. Guten Tag,

    interessiert verfolgen wir Ihre Blog-Beiträge bei aus.gelesen.

    Im Herbst ist bei uns im Konkursbuch Verlag das Konkursbuch Nummer 56 zum Thema Tod erschienen. Vielleicht hätten Sie ja Lust, mal hineinzuschauen?

    Ich hänge das Cover und eine Presseinformation an. Bei Interesse schicken wir natürlich gerne ein gedrucktes Exemplar.

    Viele Grüße aus Tübingen von

    Amancay Kappeller und Verlegerin Claudia Gehrke

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