Der Marianengraben, auch als Marianenrinne bezeichnet,
ist eine Tiefseerinne (Tiefseegraben) im westlichen Pazifischen Ozean,
in der mit einer Maximaltiefe von etwa 11.000 Metern unterhalb des Meeresspiegels
die tiefste Stelle des Weltmeeres liegt und die ca. 2400 (2500) Kilometer lang ist.
Der Wasserdruck beträgt am tiefsten Punkt circa 107 Megapascal. [Wiki]
Da war die Dunkelheit, die mir so unendlich in die Magengrube schlug.
Das war der Marianengraben, er war das eigentliche Problem.
Es waren die Tentakeln, die aus der Schwärze kamen und mich nach unten zogen.
Der Griff um meine Beine, der mich nicht auftauchen ließ,
der aber auch dafür sorgte, dass ich dich nicht los lassen konnte, nicht loslassen musste. [S. 208]

Tröstlich ist, weil es sehr gut zu diesem Debüt der jungen Schriftstellerin Jasmin Schreiber (https://www.jasmin-schreiber.de) passt, die Tatsache, daß fast bis zum Grund, bis in 8000 m dieser riesigen Tiefe, Leben zu finden ist. Denn genau das ist das Thema dieses wunderbaren Romans, es geht um die Dunkelheit einer riesigen Trauer und um den Weg, wieder ins Leben zurück zu finden.
Paula ist eine junge Biologin, die prinzipiell an ihrer Doktorarbeit sitzt. Prinzipiell heißt, daß die Arbeit seit geraumer Zeit ruht, Paula leidet an ihrer Trauer um den geliebten kleinen Bruder Tim. Die beiden waren ein sehr enges Geschwisterpaar, Tim war begeisterter Freund der Fische und aller Tiere, die es so im Meer gibt. Paula war seine Lehrerin, seine Beschützerin, seine Freundin, war immer für ihn da, bis auf dieses eine Mal, wo sie ihre eigenen Interessen über die Bitten des Bruders gestellt hatte. So blieb sie zu Hause, während Tim mit den Eltern nach Mallorca flog und dort ertrank.
An meinem Kühlschrank hängt ein kleiner Graph, ein Ausdruck vom 23.09.2016, auf dem man sieht,
wie mein Herz von vierundsiebzig Schlägen pro Minute auf einhundertsechsundfünfzig Schläge beschleunigte,
wie die Herzrate dann noch auf einhundertzweiundsiebzig kletterte
und sich dort eine Weile stabilisierte und nicht mehr sank, minutenlang
… als Mama mich aus eurem Urlaub auf Mallorca angerufen hat ….
Ich dachte, dass das wieder einer ihrer berüchtigten versehentlichen Hosentaschenanrufe sei und dann sagte sie:
‚Der Tim ist tot’.
An meinem Kühlschrank hängt bis heute ein Graph, auf dem man sieht, wie ein menschliches Herz zerbricht.
Nach zwei Jahren leiden an der Traurigkeit und wachsender Lebensunlust sucht sie einen Therapeuten auf, mit dem sie sich jedoch hauptsächlich über Nudeln unterhält, wie könnte sie einem fremden Menschen von ihrem Leid erzählen? Aber immerhin kommt von ihrem Therapeuten die Anregung, Tims Grab zu besuchen, an dem sie bis dahin noch nicht war. Der vielen Menschen wegen, die sie nicht treffen will, plant sie ihren Besuch am Grab in der Nacht, heimlich steigt sie, die Unsportliche, über die Mauer. Der Besuch dort gibt ihr nichts und als dann noch Stimmen zu hören und ein flackerndes Licht zu sehen ist, deucht ihr der Plan vollends misslungen.
Der, den sie da hört, ist Helmut, ein etwa achtzigjähriger, wackliger Mann, der sich, mit einem Grabspaten bewaffnet, an einem Grab zu schaffen macht. Es ist Helgas, seiner Ex-Frau Grab und er will an die Urne, um ein Versprechen zu erfüllen, nämlich noch einmal in die Berge mit ihr zu fahren, in die alte Heimat der beiden….
Notgedrungen kommt man ins Gespräch, letztlich hilft Paula dem schwächlichen Helmut bei der Grabschändung, was hat sie schon zu verlieren. Beim etwas plötzlichen Abgang (sie hören Stimmen!) über die Mauer öffnet sich Helgas Urne und Paula, die als erste über die Mauer gestiegen war, steht im Staub der Verblichenen….

Marianengraben ist ein Buch über die Trauer, aber auch und vor allem über das Leben und über die Schwierigkeit, aus der Trauer wieder zurück ins Leben zu finden. Es ist ein Roman, der, und das habe ich im letzten Satz versucht, anzudeuten, ein Kunststück fertig bekommt: ein Buch über den Verlust geliebter Menschen, also ein Buch über die Trauer und trotzdem kein durchgängig trauriges Buch, auch wenn ich mir nicht vorstellen kann, daß man diesen Roman trockenen Auges lesen kann. Ich jedenfalls konnte es nicht, im Gegenteil, ich gab in einigen Passagen voll die Paula, die von Helmut in seiner reizenden Art an einer Stelle als „Wasserwerk“ bezeichnet wird.
Es gibt komische Szenen in diesem Buch, angefangen von diesem slapstickartigen Unfall mit der Urne mit der nachfolgenden Dusche, unter die Paula genötigt wird, um Helgas Asche wiederzugewinnen (die Duschwanne legt Helmut mit Filterpapier aus….. ) über die Situationskomik, wenn die beiden, die – ich verrate es hier schon – roadnovelartig im altersschwachen Wohnwagen in die Alpen fahren und am Campingplatz mitten in die Horde der FKK-Freunde Bad Wildungen geraten: „Hallo Helmut, wie schön dich wieder mal zu treffen!“ baumel-baumel….. bis hin zu Helmuts „Beichte“ an Paula, daß der Friedhof seines Heimatdorfes, den sie am Mittag besuchten, leer sei. Den gäbe es nur wegen der feinen Pinkel mit den Krawatten aus der Stadt. Man mache die Beerdigung dort, die Totengräber häufeln die Erde nur locker wieder ins Grab und abends hole man seinen Sarg nach Hause um ihm nach alter Väter Sitte auf dem Hof die letzte Ruhestätte zu geben.
Aber wie gesagt, es passt alles zusammen, nichts wirkt übertrieben oder aufgesetzt. Die Geschichte entwickelt sich, weil Paula keinen Plan hat für ihr Leben und Helmut die Seelenverwandtschaft zwischen ihm und ihr spürt und außerdem, dies zeigt sich im Lauf der kommenden Tage immer deutlicher, braucht er einfach auch Hilfe. So fragt Helmut Paula, ob sie nicht mitkommen will auf diese Fahrt in die Berge und sie sagt ja, was risikiert sie schon damit? Helmut ist nicht sehr gesprächig, eher grantig, unzugänglich, wortkarg, aber damit kann Paula umgehen. Wenn es jedoch drauf ankommt, weiß er die richtigen Worte, weiß er Paula eine Richtung zu geben, denn natürlich steht für sie nicht nur der Verlust ihres Bruders im Zentrum ihrer Trauer, sondern und vor allem auch die Frage nach ihrer Schuld daran. Wäre sie doch bloß und hätte sie nicht, dann…
Langsam schält sich heraus, daß auch Helmut eine Menge Erfahrungen hat mit Verlusten, mit unendlicher Trauer, mit Schuldgefühlen und auch mit dem Gefühl, daß es das Beste sei, nicht mehr zu leben, weil man mit dieser Schuld nicht leben kann. Es ist dieses deja-vu, das Paula beim Verlust von Lutz hat. Nun muss sich Lutz hier noch vorstellen: Lutz ist das Huhn, das von der Straße nicht weichen wollte, auf der das klapprige Wohnmobil ankam. Und bei dem Paula ein gebrochenes Bein feststellte, und daß sie kurzerhand mitnahm – zur Begeisterung von Helmut: wenn sie mir das Auto vollkackt, mach ich Frikassee aus ihr! Nämliche Lutz wird dann Tage später auf einem der Campingplätze vom Fuchs geholt, und wieder, wie bei Tim, war Paula nicht da…
4100 (die Kapitel sind nach aufsteigenden Meerestiefen benannt) ist für mich das Schlüsselkapitel im Buch. Helmut erzählt seine eigene Geschichte und macht Paula, die sich unter der Last der von ihr gefühlten Schuld am Tode Tims selbst wünscht, tot zu sein (oder will sie einfach nicht mehr leben, für Helmut ist dies ein wichtiger Unterschied), klar, daß Leben einfach passiert, daß man oft machtlos ist, daß man nicht alles, vielleicht sogar nur sehr wenig, wirklich verhindern kann, daß man sich Mühe gibt, sein Bestes gibt, aber daß das manchmal einfach nicht reicht…. Helmut kennt dies reichlich, auch er ist durch viele Verluste gegangen…. das Leben, so Helmut zu Paula, wartet nicht auf einen und irgendwann ist Zeit, auf diesen wilden Ritt namens Leben wieder aufzuspringen. Es wegzuwerfen hilft niemandem und ungeschehen kann man auch nichts machen. Für Paula ist das zwar „homemade küchenpsychologie“ der schrillen Art, aber Helmuts Gedanken knacken den festen Panzer namens Trauer und Todeswunsch um ihre Seele doch merklich an.
… und Paula wird die neu gewonnene Kraft brauchen, denn Helmut hat ihr eine entscheidende Rolle in seinem Leben zugedacht….

Es ist wohl eines der ältesten Bilder, die die Literatur kennt: das Fahren, Reisen, auf der Straße sein als Symbol dafür, zu sich selbst (zurück) zu finden. So auch hier. Paula, durch den Tod ihres Bruders völlig aus der Bahn geworfen, bis hin zu einer latenten Suizidalität findet durch Zufall in Helmut einen Seelenverwandten, einen Menschen nämlich, der das Leid des Verlustes kennt, der die gleiche Sprache spricht wie Paula, der nicht die sorgenvollen Fragen nach dem Befinden stellte, sondern, der einfach weiß, wie dieses Befinden ist. Und der seine Erfahrungen weitergeben kann an diese junge Frau, die dabei ist, ihr Leben wegzuwerfen, weil sie sich unter der Last einer vermeindlichen Schuld glaubt. Wie in jeder guten Roadnovel löst sich die Situation auch für Paula am Ziel auf, sie hat gelernt oder ist zumindest dabei, die Trauer um ihren Bruder in ihr Leben zu integrieren und mit der Trauer zu leben, die immer da sein wird, die aber ihr Leben nicht mehr bestimmt.
Die Frage nach der Schuld, nach der Verantwortung ist zentral im Buch. Für Paula steht es fest: sie ist schuld am Tod ihres Bruders, weil sie nicht da war, um ihn zu beschützen, weil sie – und das ist noch verschärfend – eigene Interessen wahrgenommen hat: Ich weiß, dass es meine Schuld ist, weil es als große Schwester meine verdammte Aufgabe gewesen wäre, auf ihn aufzupassen. … Wenn ich nicht auf dieses dumme Konzert gegangen wäre, wäre ich dabei gewesen am Strand. … [182/3] Es ist Helmut, der ihr hier entgegnet: Diese Dinge geschehen. Söhne und Brüder ertrinken und Schlimmes kann immer passieren. … Wir machen alles, so gut wir eben können. … Meistens reicht es, manchmal nicht. … [man kann] nicht dauernd und für immer auf einen anderen Menschen aufpassen, ihn die ganze Zeit übewachen… [186/7]. Diese Fragen nach Schuld, die in bitteren Selbstvorwürfen endet, in einem „Hätte ich nur“ oder „Wäre ich doch bloß“ ist zermürbend wie die Autorin an Paula zeigt und sie ist sinnlos und falsch, wie sie es Helmut in den Mund legt. Aber, auch daran kommen wir nicht vorbei, sie existiert und jeder, der Verantwortung für einen anderen trägt, kennt sie, sobald etwas passiert (es muss ja nicht gleich ein Sterben sein).
Sich bewusst zu machen, daß man nicht für alles verantwortlich, daß im Grunde jederzeit etwas passieren kann, was nicht zu verhindern ist, gehört sicherlich zu den Königsdisziplinen im Trauerprozess. Man kann das machen, was möglich ist, aber eben nicht mehr, den Rest bestimmt das Unwägbare, der Zufall, das Schicksal… Es sind Entscheidungen, die man getroffen hat oder trifft, so wie es Paula getan hat, indem sie eben nicht mit Tim nach Mallorca geflogen ist. Man hat sich für oder gegen diese eine Therapie/Operation/Behandlung entschieden, die grundlegende Frage des Buches ist in diesem Sinn verallgemeinerbar. Und selbst sich nicht für einen bestimmten Weg zu entscheiden, ist eine Entscheidung mit bestimmten Konsequenzen, mit denen man sich auseinandersetzen muss, aber eben nicht als Diskussion um eine eingebildete Schuld: Wir machen alles, so gut wie eben können.
Es gibt noch, was die Trauer angeht, eine zweite Komponente, die in diesem Roman jedoch nur angeschnitten wird: gibt es so etwas wie krankhafte Trauer, eine Trauer also, die den Trauernden daran hindert, nach einer gewissen (individuell möglicherweise sehr unterschiedlich langen) Zeitspanne wieder am Leben teilzunehmen und zwar auch mit Freude am Leben. Paulas Trauer ist nach Schreiber so eine Trauer, die dies nicht zuläßt, Paula schmeißt ihre Abschlussarbeit, hat keine Freude mehr am Leben, scheint latent suizidal. Aber wo liegt diese Grenze, denn grundsätzlich darf Trauer alles, alles ist erlaubt in der Trauer, man kann nicht falsch trauern. Eine schwierige Frage, die im Roman keine Rolle spielt, die ich jedoch im Zusammenhang mit diesem Roman mit einer guten Freundin diskutiert habe. Es gibt keine prinzipielle Antwort darauf, wo die „Normalität“ von Trauer endet und möglicherweise in eine „krankhafte“ Trauer übergeht, aber, da waren wir uns dann sehr einig, die Grenze liegt weit, weit draußen und wird nur selten überschritten, dies zu wissen ist für alle, die Trauernde auf die eine oder andere Weise begleiten, wichtig.

Mir hat dieser Roman sehr gut gefallen. Er liest sich flüssig, ist sehr berührend und doch nicht marianengrabentief traurig. Es ist eine gelungene Idee der Autorin, die Kapitel des Buches nach sozusagen aufsteigenden Meerestiefen zu „benennen“, es beginnt bei „11000“, also der tiefsten Stelle des Meeres und endet an der Oberfläche bei „0“. Eine schöne Symbolik für Paulas „Heilung“sprozeß. Summa summarum also eine richtig dicke Empfehlung für den Roman!
Jasmin Schreiber
Marianengraben
diese Ausgabe: Eichborn, HC, ca. 250 S., 2020
mehr Buchvorstellungen zum Themenkreis Trauer finden sich hier im Blog unter diesem Link:
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