Ljudmila Ulitzkaja: Eine Seuche in der Stadt

Ludmila Ulitzkajas kurzes „Szenario“ (so die vom Verlag gewählte Kategorie, in die der Text eingestuft ist. Nach Wiki ist ein Szenario ein alternativer Begriff zu „Handlung“ und bedeutet eine „Abfolge von zusammenhängenden, [ursächlich] miteinander verketteten Ereignissen oder Vorgängen bezeichnet, die das dramatische Gerüst“ des jeweiligen Werks bilden. So, jetzt sind wir wieder ein bischen schlauer geworden.). Jedenfalls hat dieser Text, der im Moment ja durch die diversen Feuilleton geht, seine eigene Geschichte, die ursächlich sogar mit der ganzen Malaise namens Corona zu tun hat. Denn aufgrund der vielen frei gewordenen Zeit ordnete, so wird es kolportiert, die Dichterin ihren Hausrat und fand dabei ein lang vergessenes Manuskript. Eben jenes, das uns hier in deutscher Übersetzung vorliegt. Im Nachwort ist dessen Geschichte erzählt, vor vier Jahrzehnten reichte Ulitzkaja den Text nämlich für einen Drehbuchgrundkurs ein. Sie wurde nicht genommen, der Text auch nie verfilmt, liest man ihn, so wundert dies nicht. Es wundert natürlich auch nicht, daß der Verlag gerade in dieser Zeit die Gelegenheit wahrgenommen hat, einen solchen Text auf dem Markt zu bringen.

Für mich war es besonders interessant, da ich vor ein paar Tagen die Lektüre von Camus‘ Die Pest beendet habe (Buchvorstellung folgt in Kürze). Aber weniger als diese beiden Bücher können sich zwei Texte über ein Sujet glaube ich nicht ähneln. Während Camus‘ Text umfangreich ist, gespickt mit Reflexionen über die Reaktion der Menschen auf die Seuche, er langsam und aufmerksam gelesen werden muss, liest sich Ulitzkajas Text sehr schnell, hat hohes Tempo. Er ist (sic!) szenisch aufgebaut, man merkt ihm die Herkunft an. Man stelle sich ein Rollenbuch für einen Theaterstück vor, in dem typografisch zwischen Regieanweisung und Dialogtext nicht unterschieden wird, beide zusammen einen in viele Absätze gegliederten Fließtext bilden.

Jetzt aber zum Buch. Es führt uns zurück ins Jahr 1939 nach Moskau. Der Forscher R.I. Mayer arbeitet in seinem Institut an einem Impfstoff gegen die Pest. Er wird nach Moskau beordert, um zu berichten, die Reise tritt er mit der Bahn an. Er quartiert sich im Hotel ein, läßt sich rasieren, hält seinen Vortrag, muss sich einer Unpässlichkeit wegen ins Bett legen, ein Arzt kommt, diagnostiziert was an der Lunge, läßt ihn ins Krankenhaus bringen, wo der ihn in Empfang nehmende Arzt den Verdacht auf Lungenpest schöpft. Der Arzt meldet dies sofort weiter, isoliert den Kranken und sich mit ihm. Damit setzt er eine Ereigniskette in Gang, die sehr effektiv alle Kontaktpersonen des bald sterbenden Forschers aufspüren will und muss, um eine Epidemie zu vermeiden: Wer hatte Kontakt mit ihm in der Bahn, beim Vortrag, wer im Hotel, wer im Krankenhaus?

Russland im Jahr 1939, dieser Zwischenfall mit dem Ausbruch der Lungenpest war real, aber kaum bekannt. Durch Zufall hat die Autorin davon erfahren, weil sie die Tochter des Pathologen, der die Lungenpest nach dem Tod des Forschers endgültig bestätigt hatte, kennt. Russland im Jahr 1939 war ein unter der Herrschaft Stalins stehendes autoritäres Regime, das seine Bevölkerung mit Willkür und Terror überzog. Ulitzkaja bezeichnet dies als eine von Menschen gemachte Pest, die schlimmer ist als die natürliche und es ist eine Ironie der Geschichte, das ausgerechnet das schlimmste Werkzeug dieses Regimes in der Lage war, den Ausbruch der Pest zu verhindern, alle Kontaktpersonen aufzuspüren. Es war der russische Geheimdienst NKWD, der diesen Auftrag erhielt und die Menschen dann – so wie es seine gefürchtete Art war – ohne weitere Erklärungen mitnahm und isolierte. Er war erfolgreich, es kam zu keinem Pestausbruch in Moskau und nach Ulitzkaja war es wohl das einzige Mal, daß dieses Terrorinstrument NKWD tatsächlich zum Wohle des Volkes handelte. Wie sehr der NKWD als Terror wahrgenommen wurde, zeigt einer der letzten Sätze im Text. Der Heimkehrer beruhigt seine Frau mit den Worten, es war nur die Pest, sonst nichts… die Pest also weniger schlimm als der Terror Stalins.

Was sagt uns heutigen dieses Stück der Russin Ulitzkaja? Es passt natürlich gut in die aktuell geführte Diskussion, welches politische System besser geeignet ist, eine Seuche unter Kontrolle zu bekommen bzw. zu halten. Ein System, das führt Ulitzkaja klar und deutlich aus, das auf nichts Rücksicht nehmen muss, das im wahrsten Sinn des Wortes über Leichen gehen kann, hat natürlich ganz andere Möglichkeiten zu agieren und ist dann, betrachtet man nur das Ergebnis, wahrscheinlich effektiver als ein System, daß möglichst wenig Kollateralschäden verursachen will. Und was der Text noch hergibt ist die Tatsache, daß es lohnend ist, schnell zu reagieren. (Leider finde ich das Zitat nicht mehr, aber gestern habe ich die Äußerung einer Wissenschaftlerin hinsichtlich der aktuellen Pandemie gelesen, die sinngemäß kritisiert hat, daß manche Politiker vor ihrem Handeln erst einmal sehen wollen, ob die schlechten Prognosen der Wissenschaftler denn auch wirklich eintreten…. diese Einstellung bildet jedenfalls das andere Ende des möglichen Spektrums, wenn man das sehr schnelle Entscheiden des damaligen russischen Machtapparats bedenkt.)

Eine Seuche in der Stadt ist zusammenfassend gesagt ein mit hohem Tempo lesbares Szenario von historischem Interesse, da es im Grunde mehr über die Art und Weise, wie seinerzeit der NKWD agierte, aussagt, als über die Pest an sich.

Ljudmila Ulitzkaja
Eine Seuche in der Stadt
Übersetzt aus dem Russischen von Ganna-Maria Braungardt
Originalausgabe: чума, Moskau, 2020
diese Ausgabe: Hanser, HC, ca. 110 S., 2021

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