Evelyn Waugh: Wiedersehen mit Brideshead

Des 1966 verstorbenen englischen Autoren Evelyn Waughs [1] bekanntester Roman Wiedersehen mit Brideshead, der vor wenigen Jahren in einer gelobten Neuübersetzung bei Diogenes wieder erschienen ist, stand seit Jahren ungelesen bei mir in einer/der alten Übersetzung von Franz Fein im Regal. Mit zunehmendem Lesealter jedoch gewinnen diese englischen Gesellschaftsromane für mich immer mehr Reiz, ich habe weiter unten aufgelistet [3], welche ich davon – und alle mit Begeisterung – bis jetzt gelesen und hier vorgestellt habe. Jetzt also Brideshead, mir noch im Gedächtnis als (damals, Anfang der 80er Jahre) unvorstellbar dröge Fernsehserie [2], die ich mir konsequenterweise auch nicht angetan hatte. Vielleicht lag es die ganzen Jahre an dem dieser Serie entnommenen Umschlagbild der einfachen Taschenbuchausgabe, die ich mein eigen nenne:  es zeigt u.a. Jeremy Irons in der Figur des Erzählers Charles Ryder, dessen, den Niedergang einer aristokratischen Familie nachzeichnenden Erinnerungen der Roman wiedergibt.


Es ist eine Szene gleich vom Beginn des Buches. Verliebt betrachtet Charles Ryder den mit geschlossenen Augen an seinem Wein kostenden Sebastian Flyte. Beide sind neunzehn Jahre alt, in ihrem ersten Jahr als Studenten in Oxford, zum ersten Mal aus der Obhut der Familien in die eigene Verantwortlichkeit entlassen – und diese Freiheit ausnutzend. Sie genießen ihr Studentenleben, und dieser Genuss ist nicht der Zuwachs an Wissen….. Geld spielt bei beiden keine große Rolle, obwohl der Sproß des alten Adels der Marchmains, Sebastian, noch bedeutend besser gestellt ist als Charles… Es ist eine Sommerpartie, die die beiden mit einem Auto unternommen haben, sie liegen unter einem Baum, genießen sich und den Wein und das Essen, die Sonne, die laue Luft, das Leben, das vor ihnen liegt und so viele Möglichkeiten offenhält….

Wiedersehen mit Brideshead schildert die Geschichte der auf Brideshead residierenden Marchmains in den Jahren von 1923 bis 1939. Die Marchmains, das sind die Kinder ‚Bridey‘, Sebastian, Julia und Cordelia sowie die getrennt lebenden Eltern: die ihren Glauben lebende Mama Teresa und Edward Marchmain, der damals, 1918, nach dem Ende des Krieges, nicht mehr nach England zurück gegangen ist, sondern in Italien blieb, wo er mit Cara in Venedig lebt. Unnötig zu sagen, daß sein katholischer Impetus bei Null liegt.

Sebastian und Charles haben sich in Oxford kennen- und lieben gelernt, obwohl die homoerotische Komponente von Waugh nie ausgeschmückt wird und sich nur in Andeutungen wiederspiegelt. Obwohl Sebastian es am liebsten ganz vermieden hätte, lernt Charles die Familie der Marchmains kennen und wird als Freund von Sebastian, aber auch als eigene Persönlichkeit dort geschätzt. Das Verhältnis von Sebastian zur Familie ist gestört, ist neigt eher zu einer Art Nicht-Verhältnis. Es ist vor allem die subtile Art der Mutter, von der er sich unter Druck gesetzt fühlt, der Mutter, die mit ihrem Katholizismus – und sie versteht es prächtig, Gespräche mit ihr in diesem Sinne zu lenken – wie ein Bollwerk steht. Daß Charles sich als Agnostiker versteht, tut der gegenseitigen Sympathie keinen Abbruch, aber je mehr sich diese Sympathie zeigt, desto mehr fürchtet Sebastian, Charles an seine Mutter zu verlieren.

Die Geschichte, die Waugh erzählt, ist eine Rahmenhandlung eingebunden. 1944 liegt die Einheit des Hauptmanns Ryder in einem Bereitstellungsraum, von dem aus sie in einen anderen wechseln muss. Dort wird die Brigade in einem riesigen alten Herrenhaus untergebracht, das Ryder als das Haus wieder erkennt, das er so gut kennt und in dem er einmal heimisch geworden war, bevor sein Lebenstraum dann innerhalb kürzester Zeit zusammengebrochen war. Dieses Wiedersehen weckt die Erinnerungen an damals, sie brechen auf in ihm und werden lebendig, die Freunde von damals, seine große Liebe von damals, all das erscheint wieder in seinem Gedächtnis, in dem das Geschehen wie ein Film abläuft….

… ein Film, der wie schon gesagt, 1923 einsetzt mit der ersten Zeit als Student in Oxford, die dem Genuss gewidmet ist, dem Trinken vor allem. Aber schon hier zeigt sich, daß Charles und Sebastian auf getrennten Wegen wandeln. Cara sollte es später, als die beiden den alten Marchmain und seine Geliebte in Venedig besuchen, ausformulieren: Charles trinkt, weil es schön ist, hilft, den Augenblick zu genießen, Sebastian trinkt, um dem Augenblick zu entfliehen…

Ist das erste Semester der ungebundenen Lebensfreude gewidmet, schleicht sich ins zweite Semester Melancholie und Traurigkeit, ins dritte gar Finsternis. Während Charles ernstlich anfängt, zu studieren, ergibt sich Sebastian immer mehr dem Alkohol, seine Eskapaden führen letztlich dazu, daß er nur noch unter Aufsicht in Oxford bleiben darf, eine Bedingung, die er nicht akzeptieren kann.

Charles seinerseits fällt in Brideshead in Ungnade: er hat Sebastian mit Geld ausgeholfen, das dieser in Alkohol umgesetzt hat…. beide verlassen Brideshead: Sebastian flieht der Kontrolle durch die Familie und landet letztlich in Marokko, Charles verläßt Brideshead für immer, so wie er glaubt, gibt auch das Studium auf und geht nach Paris, um Maler zu werden.

1926 herrscht in England ein Generalstreik, in Paris gewinnt man aufgrund der Zeitungsberichte das Gefühl, eine Revolution fände statt. Mit Gesinnungsgenossen kehrt Charles aus Patriotismus nach England zurück, das jedoch keineswegs im Chaos versunken ist. Bei den Marchmains steht ein Trauerfall an: die Mutter liegt im Sterben und die Familie, die von seiner Rückkehr nach England erfahren hat, bittet Charles, Sebastian zu finden. Den er dann in Marokko auftreibt, jedoch nicht nach England schaffen kann. Mit dem Tod der Mutter und ihrem Requiem wird die Hauskapelle der Marchmains geschlossen….

Ein Zeitsprung von vielen Jahren…. Charles ist mittlerweile ein renommierter Maler geworden, er ist mit Celia verheiratet, die er in seinen Erinnerungen nur als ‚meine Frau‘ bezeichnet, nie mit Namen nennt. Zwei Jahre ist seiner Familie und vor der englischen Gesellschaft nach Südamerika ausgewichen, kehrt jetzt mit Skizzen und Entwürfen von dort zurück, erinnert sich kaum noch daran, daß seine Frau bei seiner Abfahrt erneut schwanger war – ihre Briefe hat er nur unregelmäßig erhalten, ob er sie überhaupt gelesen hat, ist ungewiss.

Auf der Rückreise über den Atlantik findet Charles Julia, ebenso verheiratet wie er, als Passagier an Bord eingeloggt. Die auf dem Schiff Versammelten vergnügen sich zusammen, geben Gesellschaften, die Charles anöden und vertreiben sich die Zeit. Was ansonsten in der Literatur häufig die Flut symbolisiert, dafür steht hier der auftretende Sturm, der das Schiff durchschüttelt, Celia praktischerweise zwei Tage seekrank ans Bett fesselt und der derart die Leidenschaft und die Liebe zwischen den von der Seekrankheit verschonten Julia und Charles ausbrechen läßt.

Beide lassen sich scheiden, wollen einander heiraten. Daß es letztlich nicht dazu kommt, woran liegt das…. letztlich läßt es sich wohl an der völlig unerwarteten Rückkehr des alten, mittlerweile siechen Lords auf seinen Sitz zurückführen, der das zwischen den Kindern ausgeklüngelte Arrangements wer wo wohnen und leben soll (auch der hölzerne Bridey wandelt zu dieser Zeit auf Freiersfüßen) durcheinander wirbelt… und am Horizont wütet auf dem Kontinent dieser kleine Mann mit seinen wahnsinnigen Ideen, die – so erkennt man mittlerweile – auf einen Notfall, vulgo: Krieg, hinauslaufen werden…..


Wiedersehen mit Brideshead ist ein Gesellschaftsbild mit einer katholisch gebliebenen Adelsfamilie in England, eine der wenigen. Das ist ein Problem für die Familie, besonders für die jungen Frauen, die eine standesgemäße Ehe eingehen wollen: die Auswahl möglicher Partner ist klein und die Frauen können nicht einfach nur warten, bis sie erwählt werden, sondern müssen selbst auf die Jagd gehen. An Julia, deren erste Ehe mit Rex Mottram (der seinerseits auf einen gesellschaftlichen Aufstieg spekuliert) auf diese Art zustande kommt, zeigt Waugh dies. Am Ende der Ehe ist Julia für Rex nur noch zwei Gemälde wert, für die er in die Scheidung einwilligt…

Der Roman zeigt jedoch in der Hauptsache den Zerfall einer Familie, verursacht (zumindest mitverursacht) durch die Religiosität, die besonders von der Mutter gelebt wird. Insbesondere der Sohn Sebastian ist diesem von der Mutter ausgehenden Druck nicht gewachsen, Cara (die Geliebte des Vaters) hat mit ihrer Beobachtung, der Trunk Sebastians sei Flucht, völlig recht. Sein relatives Lebensglück soll Sebastian, der nach der Abschied aus Oxford niemals mehr von sich aus mit der Familie Kontakt hat (die ihn ihrerseits jedoch finanziell unterstützt), tatsächlich erst in Marokko finden, gegen Ende des Romans schildert Cordelia, wie Sebastian (in ihrer Vorstellung) sein Leben halbwegs geordnet als Faktotum eines Klosters beschließen wird….

Das Netz, das die katholische Kirche auswirft, ist eng, keiner entkommt ihm… gegen Ende des Romans sind alle gefangen, Sebastians Schicksal habe ich schon erwähnt, Lord Marchmain, jahrelang im Konkubinat lebend, akzeptiert in der Sterbeminute noch die Sakramente, die die Familie ihm – gegen den Rat von Charles – geben läßt, Cordelia, ebenso wie Bridey nie am Glauben zweifelnd, empfindet zwar nicht den Ruf in sich, Nonne zu werden, widmet sich jedoch der Nächstenliebe als Krankenschwester im Krieg. Und Julia…. schreckt auf einmal vor der letzten Sünde zurück, will sich dieser nicht ergeben, dieser nicht… ist mit Sebastian schon der verlorene Sohn in gewissem Sinn heimgekehrt, kehrt mit Julia sozusagen die verlorene Schwester ebenfalls ‚heim‘: später, als Hauptmann, sollte Charles erfahren, daß Lady Julia Flyte zusammen mit ihrer jüngeren Schwester nachPalästina ist, dorthin also, wo Christus wirkte – eine auch geographische Heimkehr. Und Charles, der selbsternannte Agnostiker? Hauptmann Ryder, dem die Kirche letztlich sein Lebensglück im letzten Moment aus den Händen gerissen hatte, ging – und damit endet der Roman -im neuen Quartier in die alte Kapelle von Brideshead und sprach ein Gebet, eine alte, neuerlernte Wortfolge.

Wiedersehen mit Brideshead ist ein atmosphärisch sehr dichte Geschichte, über die jederzeit ein nie reißenden Schleier melancholischer Elegie geworfen ist. Eine willkürlich herausgegriffene Textstelle gegen Ende des Romans soll dies verdeutlichen. Am Abend sitzen Julia und Charles in Brideshead zusammen, er betrachtet sie: … es war ein Gewand, dessen Gewicht und steife Falten die Ruhe ihrer Haltung betonten; ihr Hals stieg köstlich schön aus dem einfachen Goldkreis oben auf; ihre Hände lagen still zwischen den Drachen [i.e. ein Muster im Kleid] in ihrem Schoß. … es fiel mir ein, daß sie so auf dem Schiff gesessen war, vor dem Sturm; daß sie so ausgesehen hatte und ich bemerkte, daß sie wieder besaß, was sie mir für immer verloren zu haben schien: die magische Traurigkeit, die mich angezogen hatte, das entbehrungsvolle, verkümmerte Aussehen, das zu sagen schien: Sicherlich bin ich doch für etwas anderes als das da gemacht worden? Es wäre interessant, den Stil der Neuübersetzung mit diese hier zu vergleichen.

Die Aristokratie ist wie in anderen Romanen dieser Zeit auch in Waughs Roman im Niedergang begriffen: sie lebt über ihre finanziellen Verhältnisse, hat sich den nach dem Ende des Ersten Weltkrieges geänderten gesellschaftlichen Bedingungen nicht angepasst. Aber der normativen Kraft des Faktischen kann auch sie sich kaum wiedersetzen: auflaufende Schulden müssen bezahlt, die Ausgaben den Einnahmen angepasst werden; es werden keine Einführungsbälle mehr für die Debütantinnen ausgerichtet. Die Phänomene werden im Roman nicht ausgewalzt, sondern Waugh stellt sie in wenigen Passagen, als z.B. Inhalt eines Monologes dar.

Vielleicht sollte ich noch erwähnen, daß das Buch in zwei Teil gegliedert ist: Es beginnt mit der Freundschaft zwischen Sebastian und Charles, wendet sich dann jedoch von Sebastian, der hin und wieder noch erwähnt wird, ab und konzentriert sich auf die Charles und Julia sowie deren Beziehung.

Ich habe mich beim Lesen dem Zauber, den das Buch ausströmt, hingegeben. Wie gesagt, eine stete Melancholie, elegische Passagen, tragische Schicksale: ein Sitten- und Gesellschaftsbild, das mich – obwohl es meine Lebensumwelt so fern ist – in seinen Bann gezogen hat. Daß der Roman in England in der Phalanx der besten eingeordnet ist, kann ich gut verstehen.

Links und Anmerkungen:

[1] Wiki-Beitrag (engl.) zum Autoren: https://en.wikipedia.org/wiki/Evelyn_Waugh
[2] dto zur TV-Umsetzung des Buches: https://de.wikipedia.org/wiki/Wiedersehen_mit_Brideshead
natürlich auch bei youtube zu finden: https://www.youtube.com/watch?v=_ZtPGYLEzpw
[3] weitere englische (Gesellschafts)Romane, die ich hier auf dem Blog schon vorgestellt habe:

Pat Barker
– Niemandsland
– Das Auge in der Tür
– Die Straße der Geister
Nancy Mitford: Englische Liebschaften
D.H. Lawrence: John Thomas & Lady Jane (Lady Chatterley)
Thomas Hardy: Im Dunkeln
Sarah Waters: Die Muschelöffnerin

Evelyn Waugh
Wiedersehen mit Brideshead
Die heiligen und profanen Erinnerungen des Hauptmanns Charles Ryder
Übersetzt aus dem Englischen von Franz Fein
Originalausgabe: Brideshead Revisited, 1945
diese Ausgabe: Ullstein, TB, ca. 320 S., 1982

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