Mit „Fast genial“ hat Wells, der mit seinem „Becks letzter Sommer“ 2009 ein fulminantes Debüt hingelegt hat, 2011 ein weiteres Road-Movie vorgestellt, das er diesmal in Amerika angesiedelt hat.
Es ist das Amerika des „White Trash“, wie er es an einer Stelle bezeichnet, die Realität jenseits des sogenannten „amerikanischen Traums“ von der Tellerwäscherkarriere zum Millionär. Es ist das Ende der Stufenleiter von den Träumen der Jugend über den gescheiterten Versuch, sie zu verwirklichen und dem täglichen Erwachen im Trailerpark am Rand einer unbedeutenden, miesen kleinen Stadt irgendwo in der Nähe von New York, umgeben von Arbeitslosen, von Dealern und ähnlichen Losern auf der Schattenseite des Lebens.
Francis gehört zu ihnen. Er ist siebzehn Jahr alt, auf der Schule, in der er früher gar nicht so mies war, hat er mittlerweile große Schwierigkeiten, seine „Karriere“ als Ringer hat er an den Nagel gehangen, weil er gemerkt hat, daß ihm das gewisse Extra, der unbedingte Willen zum Sieg fehlte. Seinen Vater kennt er nicht, die Ehe der Mutter mit dem Stiefvater, einem Anwalt, ist gescheitert, der Kontakt zwischen beiden mittlerweile eher mäßig. Francis also, die Hauptperson des Romans sitzt in der Psychiatrie, im Wartezimmer, weil seine Mutter, Katherine Angela Dean, wieder mal eine manische Phase und einen Zusammenbruch gehabt hat und er sie einweisen lassen musste. Die Situation ist nicht neu für ihn, es ist das Bleigewicht, das an seinem Leben hängt….
Auf der Station lernt er Anne-May kennen, eine junge Frau, ein wenig älter als er, die nach einem Suizid dort hin gekommen war. Er freundet sich mit ihr an, es ist eine seltsame Freundschaft, bei der man das Gefühl nicht los wird, sie gehe nur einseitig von Francis aus, für den das Mädchen ein täglicher Lichtblick ist auf dieser Station. Und tatsächlich, das Mädchen warnt Francis, sich in sie zu verlieben….
Die Wende kommt mit dem Suizidversuch der Mutter. In ihrem Abschiedsbrief erzählt sie Francis Einzelheiten über seinen Vater, es ist ein letzter, hilfloser Versuch, ihren Sohn aus seiner Schicksalsergebenheit aufzuwecken, indem sie ihm sagt, was für Möglichkeiten doch in ihm stecken. Zwar ist sein biologischer Vater auch ihr nicht bekannt, aber sie wurde seinerzeit im Rahmen eines obskuren „Züchtungsversuchs“ mit dem Sperma eines hochintelligenten Mannes befruchtet und daher wären dessen Anlagen auch in ihm vorhanden…
Diesen Mann, seinen Vater, will Francis nun unbedingt finden, auch wenn die Hinweise nur spärlich sind. Anne-May, der er davon erzählt, bietet ihm ein Geschäft an: sie will mit ihm schlafen, wenn er sie mitnimmt…. natürlich kann Francis dem Angebot nicht widerstehen, es geschieht an ihm in einem absolut dunklen Raum, ohne jede Romantik, ohne Liebe, er ist enttäuscht und frustriert. Aber er hält sein Wort, überredet Glover, seinen einzigen Freund, mitzukommen und mit dem Auto samt Kreditkarte, die dieser seinen Eltern unter Vorwänden entlockt, geht es los: sie „entführen“ Anne-Mary auf ihrem täglichen Freigang in der Klinik und machen sich zu dritt auf auf den Weg nach Süden, nach Kalifornien.
Sie sind alle drei aus unterschiedlichen Beweggründen unterwegs. Glover, der linkische, schüchterne Typ, vllt weil er einmal Mut beweisen, aus seinem Schatten treten will, Anne-May weil sie aus der Klinik heraus und ihren Eltern entkommen will, die sie völlig vereinnahmen und natürlich Francis, der seinen Vater sucht und damit die große Leere in sich füllen will – und der einem zweiten, tatsächlichen Traum nachjagt: dem großem Gewinn, den er am Roulettetisch in Vegas machen wird…
… endlose Straßen, Junk-Food, billige Motels, Alkohol… Schweigen und Reden… das abgerollte Asphaltband weist ihnen den Weg. Es gibt unbeschwerte Momente, wenn sie zu dritt im Pool der billigen Unterkünfte baden, es gibt spannungsgeladene Augenblicke, wenn Anne-May sich in Kneipen anflirten läßt und Francis die Eifersucht in sich aufsteigen spürt… Am Grand Canyon wird der schüchterne Glover, ein Einzelgänger wie er selbst, zum Star, zum Minutenstar, als er halsbrecherisch und selbstmörderisch für ein gutes Fotomotiv sein Leben riskiert, „Mut“ beweist…., Francis dagegen kann nicht verstehen, daß Anne-May ihn nicht liebt, seine Liebe nicht erwidert… Es ist alles etwas vorhersehbar, Höhen und Tiefen wechseln sich in diesen wenigen Tagen der Fahrt ab, bis sie endlich in Los Angeles sind. Auch der Zwischenstopp in Vegas und das Spiel am Roulette bieten nicht wirklich überraschende Momente.
Schließlich gelingt es Francis aber tatsächlich, nach all den Jahren noch Zeugen des damaligen Experiments aufzutreiben und von ihnen Informationen zu erhalten, zu guter Letzt erhält er eine Adresse in Mexiko, in Tijuana, die ihn in eine alte, mit Möbeln vollgestellte Garage führt…..
Der Rückweg ist schweigsam. Francis hat Klarheit über seine Herkunft gewonnen, auch weiß er jetzt endgültig, daß Anne-May seine Liebe nicht erwidert. Glover hat einen Geistesverwandten getroffen, ihn wird eine gehörige Abreibung zu Hause erwarten, all die Kreditkartenbrechnungen…. Anne-May.. sie wird die kurze Freiheit des Trips eintauschen müssen gegen die fürsorgliche Abschirmung der Eltern.
… in diesem Moment überrascht uns Wells mit einer Weiterentwicklung der Geschichte… die eine Nacht, in der Francis seine Unschuld verlor, blieb nicht ohne Folgen, Anne-May ist schwanger. Zwar ist Francis bereit, die Verantwortung zu übernehmen, er strengt sich an in der Schule, macht einen Abschluss, kann aber nicht weiter auf die Uni, sonder muss arbeiten und strampelt sich ab: allein, Anne-Mays Eltern wollen den Loser nicht in ihrer Familie und versuchen, den Kontakt zwischen den beiden jungen Menschen möglichst zu verhindern. Schließlich sieht Francis nur noch eine Möglichkeit, mit Anne-May und seinem Sohn John eine Familie zu gründen..
Vegas… beim ersten Mal stimmte das „Setting“ nicht mit seinem Traum überein, aber jetzt hat er die Möglichkeit, das zu ändern. Mit seinem vom Mund abgesparten Geld kommt er noch einmal nach Vegas zum Spielen, er braucht eine Million, um das Haus zu kaufen, das er damals zusammen mit Anne-May sah und in dem ihre Träume sich verwirklichen könnten… Er als Angehöriger des „White Trash“, der zappeln und strampeln kann, der aber keine Chance hat, kann nur hier, in Vegas, in der Hauptstadt des White Trash sein Los verändern… und verändern wird sich sein Leben, entweder er gewinnt (und hechelt dann einem neuen Traum nach) oder er geht ins Rekrutierungsbüro….
Drei junge Menschen auf der Suche nach ihrer Identität, das ewige Thema, von Wells hier locker, flott und einfühlsam in Szene gesetzt. Es ist nichts Neues, was uns Wells erzählt, aber er verpackt das Alte gut, die Geschichte läuft, ist flüssig konstruiert (siehe unten) und unterhaltsam. Mit seiner Story, die auf wahren und realen Fakten beruht (es gab solche speziellen Samenbanken), streift er oberflächlich an (offene) Fragen wie, welchen Anteil Vererbung und welchen Anteil die Umwelt an den Eigenschaften eines Menschen haben. Natürlich ist auch ein gerüttelt Maß an Sozialkritik an den amerikanischen Lebensumständen im Roman formuliert, sie bedient genau das, was wir alle zu wissen meinen und wäre aus der Feder eines Amerikaners sicherlich authentischer.
Wells umgeht die letzte Klippe seiner Geschichte, es gilt sozusagen: alia iacta non est…. das Buch hat also weder einen unwahrscheinlichen noch einem deprimierenden Ausgang, das Ende bleibt offen. Die letzten Seiten sind vllt die eindrucksvollsten Szenen des Romans, sehr dicht schildert Wells die aufgewühlte Gefühlswelt seines Protagonisten am wirklichen Scheidepunkt seines Lebens, das er, da ihm Arbeiten und Fleiss nichts genutzt haben, dem Glück anvertraut, das Auf und Ab der Emotionen zieht beim Lesen in Bann….
So ist „Fast genial“ ein sehr unterhaltsamer, flott, fast routiniert geschriebener Roman, der keine höheren Ansprüche stellt, da er dafür nicht genügend in die Tiefe geht (als trivial würde ich ihn jedoch auch nicht bezeichnen). Aber davon sollte man sich nicht abschrecken lassen, das Buch zu lesen lohnt in jedem Fall, denn mitreissend und fesselnd zu schreiben, das kann Wells ….
Was mir aufgefallen ist, sprich: offene Fragen:
– wenn man bedenkt, daß Anne-May den Trip von ihrem Freigang in der Anstalt aus gestartet hat und ihre beiden Begleiter vorher sicher nicht bei ihren Eltern zu Hause waren, um Kleider auszusuchen, kann ich mir nicht so richtig erklären, wo sie das phantastische dunkelgrüne Kleid von S. 145 her hat….
– wenn man sich die Einzelheiten von Francis` Vater und seiner Karriere als Spender vor Augen hält, ist es erstaunlich, daß nach über 20 Jahren jemand ihn innerhalb weniger Stunden ausfindig machen kann….
Hinweis:
BBC-Bericht über die „Samenbank der Genies“ (Spiegel-TV)
Benedict Wells
Fast genial
Diogenes-Verlag, Sonderausgabe, HC, 321 S., 2012
Ist schon eine Weile her, dass ich das Buch gelesen habe, aber ich hab es richtig gerne gelesen. Wie auch die anderen beiden Bücher von B.W. Ist sicher Unterhaltungsliteratur, aber eine der intelligenteren Art, ähnlich seinem Verlagskollegen Suter.
Kann mich noch daran erinnern, dass ich eigentlich schon längst schlafen wollte, aber das Finale hat mich so gefesselt, dass ich das Buch nicht mehr aus der Hand legen konnte – das schafft auch nicht jeder Autor.
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ja, so seh ich das auch. bei wells kommt noch das alter hinzu, oder besser gesagt: die jugend. da ist noch viel zu erwarten (hoffe ich) und ich denke, er hat auch schon jetzt eine treue leserschaft…
es ist leider immer so, daß bei besprechungen die kleinen kritikpunkte so wirken, als wolle man das ganze werk damit herabwürdigen. das ist meist nicht so, die kritik ist ja immer auch eine subjektive einschätzung, die der nächste vllt garnicht teilen wird..
lg
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mit leichter Hand viele sozialkritische Themen und Gefühlsverwirrungen dieser 18-Jährigen geschildert…. so kann es wahrscheinlich nur ein selber noch junger Schriftsteller und ich werde auch noch den anderen Roman von ihm, den Sie hier schon vorgestellt haben, lesen, weil ich neugierig geworden bin .
Es hat sich soviel geändert seit der Zeit, als ich selber so jung war…..und auch wiederum nichts….
Diese wissenschaftlichen Spielereien mit ungeborenem Leben, sei es Fremdbefruchtung, das Austragen der Kinder bei Leihmüttern usw. ich mag diese Experimente nicht, aber letztendlich müssen das Paare ganz für sich allein entscheiden. Kinder haben nie eine Wahl…
Mir hat noch eine Passage gut gefallen, und zwar der Ausspruch von Alistair: „Objektiv gesehen ist der Tod das Beste, was den Menschen passieren konnte. Er zwingt sie, sich dem Leben zu stellen, jede Sekunde davon zu genießen und sich zu verwirklichen. Er ist das einzig richtige Ende, notwendig und ein starker Antrieb“.Er machte eine Pause.“ Subjektiv gesehen ist der Tod natürlich scheiße.“
einen netten Abendgruß an Sie, lieber Flattersatz, von der
Karin
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ja, der satz ist mir auch aufgefallen, eine abwandlung des bekannten: „lebe dein leben in dem bewusstsein, daß du morgen sterben könntest“. im prinzip zwingt einen dieser satz dazu, ein „gutes“ leben zu führen, in der praxis… ;-) man versucht´s halt….
danke für den gruß, liebe karin, den ich hiermit morgendlich erwidere…
fs
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Hach, das Buch habe ich echt gern gelesen. Es ist in der Tat nichts Schweres oder Tiefschürfendes, aber es ist intelligente Unterhaltung. Wegen des grünen Kleids .. das hat sie bestimmt irgendwo auf dem Weg gekauft! (;
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.. dann hat die truppe aber einen netten umweg gemacht, lt wells ist das kleidchen aus chicago… :-)
danke für deinen besuch!
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Was tut man nicht für eine Frau, die man liebt .. *lach*
Nichts zu danken, gern.
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hihi… das könnte der grund sein!
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