Robert Scheer: Pici. Erinnerungen an die Ghettos Carei und Satu Mare und …..

pici

Der Autor, Robert Scheer [1] ist gebürtiger Rumäne aus Carei (1973), der Stadt, der wir auch in den Erinnerungen seiner Großmutter begegnen. 1985 emigrierte er mit der Familie nach Israel, ging dann einige Jahre später nach Deutschland und nahm schließlich die deutsche Staatsangehörigkeit an.

Im März 2014 besuchte er seine Großmutter Elisabeth Scheer in Israel, die mittlerweile neunzig Jahre alt war, um endlich ihre Geschichte zu hören. Eine Geschichte, die ganz normal im Jahre 1924 anfängt, mit einem liebevollen jüdisch-orthodoxen Familienleben, in das sich nach und nach die politisch bedingten Repressalien für Juden schoben, von denen niemand ahnte, daß sie nur die harmlosen Präliminarien einer nicht fassbaren Katastrophe sein sollten.

Elisabeth („Pici“) Scheer wurde 1924 als viertes Mädchen (nach Leona (Lulu), Ana (Anci) und Ilona (Icu) im Hause Meisels geboren. Carei, ihre Geburtsstadt, gehörte nach dem Ende des Habsburger Reiches so wie heute auch auch zu Rumänien, während  des Zweiten Weltkriegs dagegen zu Ungarn, es liegt im Grenzgebiet beider Staaten [2]. Um die Zeit der Geburt Picis gab es ca. 2000 Juden in der Stadt. Nach Pici wurde noch ein langersehnter Junge, Béluska (Bela), geboren.

Die Familie lebte nicht im Überfluß, hatte jedoch ihr Auskommen. Der Vater, Hermann Meisels, den Pici verehrt, betrieb einen kleinen Holzhandel, er muss ein sehr besonnener, ruhiger Mensch gewesen sein, der in sich und seinem Glauben ruhte. Mit den Nachbarn, obwohl katholisch, gab es keine Probleme, man respektierte sich gegenseitig.

Pici erinnert sich, daß sie das erste Mal mit ihrem Judentum im Alter von fünf Jahren konfrontiert worden ist, ein Knabe schrie ihr auf der Straße „Jude, Jude“ hinterher. Das Mädchen ging gerne in die deutsche Volksschule, lernte gut, sehr gut und war ehrgeizig. Im Schuljahr 1934/35 wurde sie als Jüdin jedoch von der Schule verwiesen und musste auf die rumänische Schule gehen, wo sie die Sprache nicht verstand. Es waren bittere Zeiten für das Mädchen, aber Pici biss sich mit viel Willensstärke durch. Um diese Zeit tauchte der ‚Volksbund‘ im Straßenbild auf, in schwarzen Uniformen mit Ledergürtel und um die Brust führenden Lederriemen stolzierten die Jungens durch die Stadt.

Nach der Schule musste dem Mädchen aber, auch aus finanziellen Gründen, einen Beruf zu lernen, ein weiterführender Schulbesuch war ihr nicht möglich: sie wurde Näherin. In den Jahren 38/39 nahmen die Repressalien weiter zu. Es wurden Berufsverbote für Juden ausgesprochen, der Vater musste seinen Handel mit Holz einstellen, auch die Schwestern konnten ihrem Beruf nicht mehr nachgehen. Für die Familie wurde das tägliche Auskommen damit immer schwieriger. Im Herbst 1940 wurde Carei ungarisch, viele Rumänen flohen, manche empfangen die Ungarn mit Freuden. Im Hause Meisels quartierte sich der Hauptmann der ungarischen Truppen ein, ein unangenehmer Mensch, für den die Bewohner des Hauses nicht existent waren.

Bis zum 2. Mai ´44 konnte Pici als Näherin arbeiten, am nächsten Tag, dem 3. Mai, mussten die Meisels ins Ghetto Carei. Wir packten einen Koffer mit Kleidungsstücken für sechs Personen, ein wenig Lebensmittel, in ein Laken waren Federbett und Kissen gewickelt. Für die meisten der nicht-jüdischen Bewohner Careis schien die Vertreibung der Juden ein freudiges Ereignis zu sein, nur wenige zeigten Mitgefühl.

Nun erzähle ich dir, wie es ist, drei Tage in einem Viehwaggon zu verbringen, in dem siebzig Menschen eingeschlossen sind. Männer, Frauen, Kinder und Babys. Juni-Schwüle. Ohne Wasser. Ohne Luft. Ein Eimer mit Trinkwasser. Der zweite Eimer dient als Toilette. Wir fuhren ins Ungewisse. Damit habe ich das Wesentliche gesagt. Ziel des Transports aus Carei war das Ghetto Satu Mare [3], ca. 17-18.000 Juden wurden hier in zwei Straßenzügen eingepfercht….

Es fällt Pici schwer, weiter zu erzählen. raus, weiter, schneller, los, los.. mit diesem Geschrei wurden sie im Juni ´44 aus den Waggons getrieben. Drei der Schwestern, Icu, Anci und sie selbst, blieben zusammen, von Mutter und Vater wurden sie getrennt: sie waren in Auschwitz angekommen. Immer noch war die grausame Realität nicht durchgedrungen: die glatzköpfigen Skelette, die sie hinter dem Stacheldraht um Essen betteln sehen, widern sie an, und sie dachte mit Anerkennung an die Deutschen, die diese kahlköpfigen Wahnsinnigen eingesperrt hatten. Dies erinnert an eine Szene, wie sie auch Kertész in seinem Roman eines Schicksallosen [6] schildert: auch hier dünkten dem Erzähler die Jammergestalten hinter dem Zaun als so erbärmlich, daß er davon ausging, sie seien ja wohl zurecht eingesperrt worden…

Auf einmal fragten Hunderte, wo ihre Familienangehörigen seien. „Dort im Himmel. Im Rauch.“ … Aber wir glaubten nicht. Wollten nicht glauben.

Der Hunger ist ein großer Herr!

Immer wieder der Gedanke, sich selbst zu töten, zu erlösen: die zwei Schwestern reden ihr dies aus. …. Pici und ihre Schwestern durchleiden das gesamte Grauen eines Nazi-KL, den Hunger, die Schikanen, die stundenlange Appelle, die Schläge, Krankheiten, Verletzungen, Angst, Schrecken, Mutlosigkeit, Verzweiflung und den immer gegenwärtigen Tod… Pici entgeht den Selektionen, sie wird in verschiedene andere Lager zu teilweise grotesken Arbeitseinsätzen deportiert. Unter anderem war sie im KL Walldorf. Offensichtlich gehörte sie zu den 1700 von der Organisation Todt angeforderten Zwangsarbeiterinnen, die dort am Ausbau des Flughafens eingesetzt wurden [4].

Ich konnte die Tage nicht mehr auseinander halten, nur so, dass an einem Tag dies und an einem anderen Tag jenes geschah. Aber immer waren wir sehr hungrig und froren. Das Lager Ravensbrück [5] im Winter, ein großer Schritt Richtung gänzlicher Untergang. Keine Baracken, in der Dezemberkälte hausten fünfzehnhundert Menschen in einem Zelt auf einem Steinboden….

Während Picis Schwestern die Lager nicht überlebten, kam sie selbst noch nach Rechlin und von dort aus in einem Todesmarsch nach Malchow. Anfang Mai ’45 zeigten sich deutliche Auflösungserscheinungen bei den Deutschen, als Bewachung wurden entweder Halbwüchsige oder Alte eingesetzt, weggeworfene Uniformteile lagen in Straßengräben… am 9. Mai versetzte die Überlebenden die Sirene „Fliegeralarm“ noch einmal in Angst und Schrecken, doch diesmal verkündete sie das Ende des Krieges.

Pici hat das Grauen dieses einen Jahres als einzige der Familie überlebt, sie selbst war schwer erkrankt. Auf dem Heimweg nach Carei lernte sie Izidor Scheer kennen und lieben. Ihr Sohn wurde am 25. Dezember 1946 geboren.

Nach dem Erzählen war sie erschöpft, sie schloss die Augen und fiel in einen tiefen Schlaf. Sie hatte sich viel von ihrer Seele geredet.


Pici. Erinnerungen an …. ist ein besonderes Buch, das aus dem Stil anderer Erinnerungsliteratur herausfällt: es ist sehr persönlich. Der Autor, Robert Scheer, behält den Charakter seiner Gespräche mit Pici auch in der Schriftform bei. Er streut seine Fragen an die Großmutter in die einzelnen Passagen mit ein, auch seine Lenkung der Erzählungen („Erzähl nun etwas über deine Mutter.“) und ebenso die Reaktion seiner Großmutter auf die Erinnerungen, die mit ihrer Schilderung wieder wach werden, ihr vor Augen treten. Nicht alles ist für sie einfach zu erzählen: Jetzt kommt das, wovor ich solange ausweichen wollte, wie nur möglich. Es wird aber auch deutlich, daß das Reden ihr offensichtlich Erleichterung schafft: …. ich spüre, ich sollte über jeden Schrecken berichten, vielleicht kann ich mich auf diese Weise davon befreien.

Wie ungeheuerlich die Ereignisse damals für die junge Frau gewesen sein müssen, kann man daran erkennen, daß sie sich teilweise gar nicht mehr daran erinnern kann: Ich kann mich nicht erinnern, wie wir vom Ghetto in Carei zu den Viehwagons gelangten, wo wir eingestiegen sind, wie wir gereist sind. Ich weiß nicht, wo wir ausgestiegen sind und ich kann mich nicht daran erinnern, auf welchem Weg wir nach Satu Mare hineingelangt sind. Bis heute fehlen mir diese Erinnerungen. ….

Der Schrecken der Konzentrationslager im Dritten Reich ist mittlerweile bekannt und gut dokumentiert, ebenso wie die damit zusammenhängenden Deportationen, Vertreibugen, „Arisierungen“ etc pp. Details, die möglicherweise noch bekannt werden, ändern das grauenhafte Gesamtbild wohl nicht mehr, obwohl sie manchmal schon erstaunen. Daß in Lagern, so erzählt Pici, nachts zeitweise Schallplatten abgespielt wurden, auf denen wütendes Hundegebell und das Gehgeräusch von Männer in Stiefeln zu hören waren, was in der Dunkelheit der Nacht die Frauen in Angst und Schrecken versetzte, war mir beispielsweise unbekannt.

Dessen ungeachtet hat dieses Erinnerungsbuch an die Leiden von Elisabeth Scheer seine Berechtigung. Jedem, der damals unter dem Terror des Regimes leiden musste und nur ganz knapp dem Tod entkommen ist (und die Ermordeten sowieso) hat das Recht darauf, daß wir seine Geschichte anhören, daß wir ihm die Stimme, sie zu erzählen, zubilligen, daß wir nicht in die manchmal zu hörende reflexartige Ablehnung: „nicht schon wieder, es reicht…“ verfallen. Auf diese Weise erhält Pici etwas zurück, wenn man es so will, nämlich die Würde, die man ihr damals nehmen wollte. 

So erreichen Pici und Robert Scheer dreiererlei: eine Schilderung des Lebens einer jüdischen Familie im Rumänien vor dem 2. Weltkrieg, eine Dokumentation des Grauens, das Pici überlebte und last not least wird die Erinnerung an einige Menschen, die in Picis Leben wichtig waren und die fast alle ermordet worden sind, lebendig gehalten: den Vater Hermann, die Mutter Gizella, die Schwestern Anci, Icu und Luluka mit ihrer Tocher Zsuzsika sowie an den Bruder Béla. Aber auch an Nachbarn, Schulkameradinnen und Freude wird erinnert, ebenso an Leidensgenossinnen in den Lagern….

Pici. Erinnerungen … ist ein zutiefst menschliches Buch auch über Unmenschliches, in dem wir eine bewundernswerte Frau kennen lernen, die sich nach dem Grauen des Krieges und der Lager ein neues Leben aufgebaut hat und hier kurz vor ihrem Tod im vergangenen Jahr 2015 ihrem Enkel ihre Geschichte als Vermächtnis anvertraut und hinterlassen hat.

Ergänzt wird ihre Geschichte durch viele Familienbilder und weitere Dokumente, sowie durch ein Nachwort der Verlegerin

Links und Anmerkungen:

[1] Website des Autoren: http://robertscheer.de
Facebook-Seite des Autoren: https://www.facebook.com/robert.scheer.3572
[2] Wiki-Beitrag zu Carei: https://de.wikipedia.org/wiki/Carei
[3] englische Wiki-Seite zu Satu Mare: https://en.wikipedia.org/wiki/Satu_Mare_ghetto
[4] vgl. z.b. hier: https://de.wikipedia.org/wiki/KZ-Außenlager_Walldorf und
hier: http://www.kz-walldorf.de
[5] vgl. z.B. hier: http://www.ravensbrueck.de, hier: https://de.wikipedia.org/wiki/KZ_Ravensbrück oder hier: http://www.bpb.de/geschichte/nationalsozialismus/ravensbrueck/
[6] Imre Kertész: Roman eines Schicksallosen, Buchvorstellung hier im Bloghttps://radiergummi.wordpress.com/2010/01/04/imre-kertesz-roman-eines-schicksallosen/

Robert Scheer
Pici. Erinnerungen an die Ghettos Carei und Satu Mare und die Konzentrationslager Auschwitz, Walldorf und Ravensbrück
Übersetzt aus dem Ungarischen von Robert Scheer
diese Ausgabe: Marta Press, Softcover, 228 Seiten, 33 Abbildungen, 2016

Ich danke dem Verlag für die Überlassung eines Leseexemplars.

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