Lukas Bärfuss: Koala

„Der aufregendste schweizerische Autor, Lukas Bärfuss, hat ein grandios-großartiges Buch vorgelegt, Koala, ein Ereignis, auf das das Warten sich gelohnt hat.  Das Warten auf dieses tief bewegende Buch, einer sprachlichen Meisterleistung, kühn und komplex, einem der schönsten Bücher, die seit langem zu lesen waren.“ (Zusammenfassung der Kritikeräußerungen von Richard Kämmerlings, Christine Lötscher, Stefan Zweifel und Elke Heidenreich, nach Schutzumschlag).

Dazu passt, daß Koala ausgezeichnet ist mit Preisen und zumindest auf der Longlist 2014 des Deutschen Buchpreises stand, auch wenn es dann für die Endauswahl nicht gereicht hat. Und doch… aber dazu später.

Worum geht´s in dem Roman?

Dem Text selbst ist es nicht zu entnehmen, liest man jedoch das Interview von Bärfuss [1], das in der „Welt“ [2] veröffentlicht worden ist, so kann man den Roman zumindest als mit stark autobiographischen Elementen versehen einstufen. Der Suizid des Bruders, von dem der Erzähler der Geschichte erschüttert wird und der im Mittelpunkt des Romans steht, hat im Dezember 2011 tatsächlich stattgefunden, der Bruder von Lukas Bärfuss hat sich mit einer Überdosis Heroin zu Tode gespritzt.

Hier setzt dann auch schon mein erster Ärger ein: die permanente Verwendung des Terminus „Selbstmord“. Es sollte sich mittlerweile herumgesprochen haben, daß dies ein unzutreffender, in die Irre führender Ausdruck ist: denn Mord (und dies gilt auch für die Schweiz) ist per definitionem durch die Tat (das Töten) und gleichzeitig durch die niedere Gesinnung des Täters bzw. sein besonders skrupelloses Handeln bestimmt, mit dem Terminus Mord ist automatisch also ein bestimmter Charakter verbunden, der sicherlich bei Suizidalen und ihrer Tat so nicht gegeben ist.

Der Erzähler also, ein Literat, kommt nach vielen Jahren wieder in seine Schweizer Heimatstadt Thun, einen Vortrag zu halten über einen Schriftsteller, der um 1800 sich in dieser Stadt aufhielt und der einige Jahres später in Berlin, nachdem er seine an Krebs erkrankte Begleiterin erschossen hatte, selbst Suizid begangen hat: Heinrich von Kleist. Man traf sich anläßlich des Vortrags mit einigen Leuten, auch der Bruder des Erzählers (im gesamten Roman werden keine Namen genannt) war eingeladen und auch erschienen. Daß er sich bei solchen Treffen nicht sonderlich wohl fühlte, war bekannt, so daß die Tatsache, daß er sich an den Gesprächen nicht beteiligte, nicht weiter auffiel…

Nach einem knappen halben Jahr wurde der Erzähler von einer Frau angerufen, die sich als Chefin seiner Bruders (dieser arbeitete in einer sozialen Einrichtung) vorstellte. Sie teilte dem Erzähler mit, sein Bruder sei tot in der Badewanne gefunden worden. Schnell entschlossen fuhr der Erzähler in seine alte Heimatstadt. Dort traf er sich mit Bekannten des Bruders, aber alles sei unauffällig gewesen, man wisse eigentlich nichts. Entgegen des Eindrucks am Telefon war der Bruder nicht ertrunken und hatte sich auch nicht die Adern aufgeschnitten, sondern er setzte sich eine Überdosis Heroin. Ein kurzes Testament gab es, das die Verteilung der wenigen Habseligkeiten regelte, die Asche sollte im See verstreut werden. Einen Abschiedsbrief gab es nicht.

Viel zu erfahren gab es für den Erzähler nicht, es wurde nicht viel geredet, zum einen des Ereignisses wegen, zum anderen aus übergeordneten Gesichtspunkten: wer redet, kann nicht gleichzeitig arbeiten und das ist schlecht in der calvinistischen Schweiz. Außerdem beinhaltet jede Frage auch gleichzeitig einen Vorwurf, deshalb sind Fragen prinzipiell nicht wohlgelitten. Die zwischenmenschliche Verständigung läuft eher nonverbal über das, was nicht gesagt wird….

Das Ereignis, die Trauer arbeiten im Erzähler, gären im Untergrund, bis sie dann lange Zeit später nach aussen durchbrechen. Er stellt fest, daß viele seiner Bekannten Suizidfälle in der Verwandschaft haben. Der Versuch, darüber ins Gespräch zu kommen, in dem er das Schicksal seines Bruders erzählt, misslingt. Er löst damit beklemmtes Schweigen in der Gesellschaft aus, schon bald haftet ihm der Ruf einer peinlichen Spaßbremse an.

Wer war der Bruder?

Genauer gesagt, war es der Halbbruder mit der selben Mutter. Diese war etwas unstetig, was die Männerbekanntschaften anging; die beiden Buben, die getrennt aufwuchsen und sich besuchten, bestanden jedoch darauf, Brüder zu sein (obwohl der Erzähler den Bruder nie beim Namen nennt). Der Bruder hatte in der Jugend einen schweren Unfall, war lange behindert und wurde ein wenig zum Aussenseiter. Später sollte er auf Drogen kommen, auch Heroin nehmen.

In der Pfadfindergruppe, in der er war, wurde ihm nach einem recht heftigen Initionsritus der Totemname „Koala“ gegeben nach diesem Beuteltier vom anderen Ende der Welt, das sich träge und faul kaum vom Platz bewegt…. liegt hier, in diesem Totem, der Schlüssel zum Verständnis des Bruders? Ist hier ein sich selbst verstärkender logischer Zirkelschluss verborgen? Der Bruder war faul, man gab ihm den Totemnamen eines faulen Tieres und der Bruder sagte sich: Wenn ich schon so heiße, kann ich auch so leben…. man kennt den Spruch: ist der Ruf erst ruiniert, lebt es sich ganz ungeniert….

Soweit, so gut. Aber an dieser Stelle bricht der Roman auseinander. Die nächsten -zig Seiten erfahren wir in groben Zügen (aufgehangen am Koala) die Geschichte der Besiedlung Australiens durch die Engländer, für die der Kontinent als riesiges Freiluftgefängnis dienen sollte. Diebe, Räuber, Huren: Verdammt waren sie alle und sie litten und starben wie die Fliegen, sie wurden gehängt, ausgepeitscht, sie verdursteten, verhungerten, wurden von den Eingeborenen mit Speeren aufgespießt – die Verdammten ebenso wie die Soldaten. Und der Koala, der alles verbinden soll.. wo ist er? Er wird erst spät entdeckt, Jahre nach der Ankunft der Engländer auf dem Kontinent und er wird gejagt, von den Bäumen geschüttelt, ihm wird das Fell über die Ohren gezogen, er kann sich nicht wehren, nicht weglaufen, er ist ein Opfer. Zu seinem Glück hört Australien irgendwann auf, Gefängniskontinent zu sein und da man ein Wahrzeichen braucht, macht der Koala einenImagewandel durch zum niedlichen, possierlichen Liebhab-Tierchen…. und jetzt, nach vielen, vielen Seiten Australien kehrt der Autor langsam wieder zurück zu sich und seiner Trauer… In Rückblenden wird die Bestattung des Bruders erinnert, das anschließende, kleine Totenmahl erfolgte im Pfadfinderheim, dem *Tempel des Totems“… von dort aus fährt der Erzähler nach Hause, setzt sich an seinen Schreibtisch und arbeitet.


Bärfuss arbeitet sich mit diesem Roman an zwei Hauptpunkten ab. Zum einen reflektiert er seine eigene Trauer um den Bruder, zum anderen kommt er immer wieder auf die moralischen Grundsätze der (in diesem Falle) Schweiz zurück, die der Arbeit und dem Ehrgeiz einen hohen Stellenwert zuweisen.

Der Suizid eines Verwandten (natürlich auch der eines Freundes oder Bekannten) ist immer ein besonderer Schock: ein Mensch, der in eine Lebenssituation gekommen war, in der er nur noch eine einzige Handlungsoption kannte, die Selbsttötung. Das dies nicht selten ist, auch dies erschreckt immer wieder: mehr als doppelt soviele Menschen sterben in Deutschland an Suizid als an Verkehrsunfällen, wobei nicht bekannt ist, wieviele Verkehrsunfälle verkappte Suizide sind. Nicht als solche erkannte Suizide oder Suizidversuche sind in dieser Zahl ebenfalls nicht enthalten. In Altersgruppen, in denen der (natürliche) Tod durch Krankheiten noch keine große Rolle spielt, gehört der Suizid zu den absolut häufigsten Todesursachen [3].

Suizid ruft bei den Hinterbliebenen unterschiedlichste Reaktionen hervor, Wut und Zorn über das feige Verschwinden sind nicht die seltensten…. das Fehlen eines Abschiedsbriefes ist eine zusätzliche Belastung: mag die Selbstbegründung für den Suizid noch so wenig stichhaltig erscheinen: sie ist immerhin da und vorhanden, man kann sich an ihr „abarbeiten“. Dies konnte der Erzähler nicht und so verfiel er schließlich auf den Gedankengang, daß sein Bruder möglicherweise eine „Existenzform“ gewählt hat, die man ihm – ohne dies zu beabsichtigen – mit diesem Totemtier vorgegeben hat: ein Leben ohne Ehrgeiz, ohne (viel) Arbeit, das Ausharren an einem Ort… mit dieser Mentalität (so der Gedankengang zutreffend wäre) wäre der Bruder zwar in Opposition zur regionalen Auffassung über das Leben und die Arbeit geraten – allein: auch dies nicht nachvollziehbar ein solcher Konflikt, daß man den Tod suchen müsste.

Faulheit …. war nicht hinzunehmen. Wer auf ihr bestand, musste vernichtet werden.

Verirrt sich der Erzähler aus dieser quälenden Unsicherheit, dem peinigendem Unwissen heraus auf solche Schlussfolgerungen wie:

… er [i.e. der Mensch] war die Angst, und die Angst war er, sie war seine Erfindung. …. Sein Ehrgeiz …[war] … eine Folge der Angst. … Gott war tot, aber die Angst lebt weiter. Sie allein regierte, … am Ende vernichtete sie alle. .. Der Mensch konnte wählen, er war ein freies Wesen. Er konnte wählen zwischen der Angst und dem Tod. … Die Medizin gegen die Angst war der Fleiß.  [S. 167/8]

… und seine Conclusio aus diesen wirren Gedanken lautet:

…. ich begriff auf einmal, weshalb man es scheute, über den Selbstmord zu reden. Er war nicht wie eine Krankheit ansteckend, er war überzeugend wie ein schlüssiges Argument. Es war eine Lüge zu behaupten, dass man die Selbstmörder nicht verstand, im Gegenteil. Jeder verstand sie nur zu gut. Denn die Frage lautete nicht, warum hat er sich umgebracht? Die Frage lautete: Warum seid ihr noch am Leben? Warum verkürzt ihr nicht die Mühsal?   [S. 170, Heraushebung von mir]

 

Der Erzähler redet hier eindeutig vom „Ich“, meint sich also selbst, bezieht sich mit ein: „Auch ich war der Arbeit verfallen. … und so lebten wir, so lebte auch ich. … das wir nicht einmal merkten, wie krank und elend uns die Arbeit macht. …„, mit seiner obigen Frage: „Warum seid ihr noch am Leben“ beinahe schon suizidale Äußerungen ….

Immer wieder taucht die Frage nach dem Sinn des Lebens auf, nach dem Sinn des alltäglichen Einerleis, das sich schier endlos wiederholt und einen ewigen Kreislauf der Vergeblichkeit darstellt, den es zu verdrängen gilt, um Freude am Leben zu finden und den zu durchbrechen bedeutet, Einsamkeit anzunehmen. Denn „Das war, was man meinem Bruder und keinen Selbstmörder verzieh: Sie hatten endgültig und ohne Widerruf die Arbeit verweigert.“ Eine fürwahr bittere Abrechnung mit den Menschen….


Zwischen dem Lesen des Romans und dem Niederschreiben dieser Buchvorstellung sind ein paar Tage verstrichen und das war gut so. Anfangs gefiel mir das Buch gar nicht, einige Sätze darin, einige Aussagen fand ich einfach – entschuldigung – dumm. Erst beim Überdenken der möglichen Begründung, warum sie „dumm“ seien bin ich zu anderer Ansicht gelangt.

Der Erzähler durchlebt einen heftigen Konflikt. Ihn verlangt nach Verständnis, er will und muss (für seinen eigenen Seelenfrieden) für etwas nicht Rationalisierbares eine Begründung finden, auf die Frage nämlich, warum sich sein Bruder suizidiert hat. Zwei Eckpunkte bieten sich ihm an: zum einen die alternative Existenzform des Bruders, die dem Koalatum, der Faulheit also, Primat einräumte und zum zweiten die Opposition, in die dieser damit gegenüber seiner Umwelt geriet. Daraus konstruiert er eine Logik, die letztlich zur Umkehrung aller Werte führt: nicht mehr der Tod (also der Suizid des Bruders) ist zu begründen, die Frage lautet vielmehr: Warum lebe ich noch?

Trotzdem hinterläßt dieser Roman als Buch bei mir ein zwiespältiges Gefühl. Wenn ich auch nachvollziehen kann, daß sich der Erzähler als Suchender an dieser Frage „Australien“ festbeißt, sich vllt an sie klammert, als Leser zerbricht das Buch an dieser Stelle (die für sich gut lesbar und plastisch ist): mehr als einmal fragte ich mich: was soll das jetzt hier, worum geht es in diesem Roman eigentlich?#

Koala ist ein schmales Büchlein, knapp 180 Textseiten hat es. Es beginnt mit einer relativ nüchternen Schilderung der anfänglichen Ereignisse, schildert dann die gedankliche Suche des Erzählers nach Gründen, bevor er den langen Australienteil einschiebt. Zum Schluss des Romans beherrschen Spekulationen und Argumentationen den Text, sie zeugen davon, wie sich der Bruder an dieser nicht lösbaren Frage abarbeitet. Tröstend ist, daß er sich selbst nicht der Gedankenkette, die er konstruiert hat, unterwirft: nach der Bestattung begibt er sich wieder an seine Arbeit (wobei aber leider die zeitliche Abfolge der Ereignisse nicht eindeutig ist, da uns der Zeitpunkt der Bestattung nicht genannt wird. Es heißt nur „Ein Gefäß aus Kupfer, unscheinbar, blieb noch übrig, darin eine Handvoll Asche, die an einem klaren und kalten Morgen Anfang März auf den Grund des Sees versenkt wurde, …„).

So will ich abschließend mein anfängliches Urteil über den Roman modifizieren: es ist ein interessantes, lesenswertes, zum Nachdenken anregendes Buch.  Damit bleibe ich letztlich doch etwas moderater als die eingangs angeführten Kritiker….

Links und Anmerkungen:

[1] Kurzbio als Beitrag in der Wiki: http://de.wikipedia.org/wiki/Lukas_Bärfuss
[2] Richard Kämmerlings: „Ich fürchte mich immer noch vor diesem Buch“, Interview mit Lukas Bärfuss, http://www.welt.de/kultur/literarischewelt….
[3] einige statistische Angaben zum Suizid (D) sind z.B. hier zu finden: http://suizidpraevention.wordpress.com/suizide-in-deutschland-2012/

Lukas Bärfuss
Koala
diese Ausgabe: Wallstein, HC, ca. 184 S., 2014

5 Kommentare zu „Lukas Bärfuss: Koala

  1. Mich hat das Buch ein wenig ratlos zurückgelassen. Und ich teile deinen Eindruck, dass es in 2 Teile zerfällt. Ich kann zwar nachvollziehen, dass sich der Autor zur Bewältigung seines Verlusts mit dem Koala und Australien beschäftigt. Aber für den Roman schien es mir nicht plausibel. Beim Lesen der Australien-Episode bin ich immer wieder abgeschweift, habe keinen Sinn darin gesehen, wollte mich nicht darauf einlassen, obwohl das Thema für sich betrachtet interessant ist.
    Und wie so oft haben mich meine Erwartungen gestört – ich hatte ein Buch erwartet, das mich berühren würde, was aber dank des distanzierten Erzähltons nicht so eingetreten ist. Ach, ich sollte besser keine Rezensionen lesen … Ist natürlich nicht ernst gemeint.
    Ich werde es einfach mit etwas Abstand nochmal lesen. Dann werde ich vielleicht auch jene Qualitäten entdecken, die du beschrieben hast.
    Liebe Grüße,
    Petra

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    1. liebe petra, ich muss zugeben, daß meine besprechung jetzt selbst noch einmal gelesen habe, um festzustellen, welche „qualitäten“, die ich entdeckt haben soll, du meinst… ;-)
      im grunde sind wir doch einer meinung, wenn ich deinen kommentar richtig lese. was für mich interessant war, war meine gedankliche beschäftigung mit dem buch, weil es eben anfänglich bei mir auf heftigen widerspruch stieß. und den australien-teil vergessen wir mal, für uns leser ist der – behaupte ich – nicht weiter wichtig, wenngleich als einführender überblick für sich genommen, auch interessant!
      herzliche grüße
      fs

      p.s.: in der beilage zum print-spiegel werden auch einige interessant klingende wissenschaftliche titel vorgestellt… zu wenig zeit, zu wenig zeit….. es ist immer das gleiche!

      p.p.s. danke für deinen kommentar! :-)

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