andrea riedinger: meine trauer traut sich was!

Die Autorin Andrea Riedinger [1] ist eine junge Frau, Jahrgang 1974, sie arbeitet als Medizinjournalistin, ist alleinerziehende Mutter und seit mehreren Jahren verwitwet. Ihr Mann Andreas starb im Alter von 35 Jahren an einem Hirntumor, zu dieser Zeit war die Tochter Svenja zwei Jahre alt. Die Krankengeschichte ihres Mannes zog sich über zehn Monate hin, sie war nicht einfach, von Komplikationen und Rückschlägen geprägt. Aufkeimende Hoffnungen waren meist schnell wieder zerstört. Am Beginn dieser Leidenszeit hatte die Autorin – wie sie im Lauf des Buches eher beiläufig erwähnt – auch noch eine Fehlgeburt zu verkraften.

Frau Riedinger begleitete ihren Mann sehr intensiv, versuchte, trotz der widrigen Umstände eine reduzierte Form von „Familienleben“ aufrecht zu erhalten. War ihr Mann in einer anderen Stadt zur Behandlung, mietete sie sich beispielsweise mit ihrer Tochter in einem Ferienhaus ein, um vor Ort zu sein. Soweit es irgend ging, war Svenja immer dabei, inwieweit andere Menschen sie unterstützt und entlastet haben, ist nicht deutlich erkennbar, da aber ein Abschnitt des Buches der großen Überforderung, der sie sich im Nachgang ausgesetzt sah, gewidmet ist, war sie wohl im wesentlichen allein auf sich gestellt. Außerdem berichtet sie davon, daß die Kontakte zu Freunden und Bekannten auch wegen deren Unsicherheit in Bezug auf die Situation generell abnahmen.

Der Tumor im Kopf ihres Mannes erwies sich als sehr aggressiv, weder Chemo- noch Strahlentherapie konnten sein Wachstum eindämmen. Noch nicht einmal ein Jahr nach dem Auftreten erster Symptome starb Andreas Riedinger.


riedinger

Der Tod des Lebenspartners ist mit das Schlimmste, was einem Menschen geschehen kann – er ist dies in jedem Lebensalter, aber trotzdem kommt einem so frühen Tod noch zusätzlich besondere Tragik zu. Er nimmt nicht nur dieses eine Leben, sondern zerstört auch eine Lebensplanung: einer jungen Familie zieht er den Boden unter den Füßen weg, vernichtet sämtliche Sicherheiten und hinterläßt Leere, ein großes, schwarzes Loch, das nur darauf wartet, die, die zurückgeblieben sind, aufzusaugen….. die Zukunft, alle Pläne, Hoffnungen, Vorhaben, die gemacht worden waren – es gibt sie nicht mehr. An ihre Stelle tritt zusätzlich zur Trauer der Zwang, weiterzumachen, sich zusammen zu reißen – für sich und für die Tochter. Mit dem Tod des Mannes fiel bei der Autorin das Familieneinkommen weg, der Plan zum Bau eines eigenen Häuschens war nicht mehr aufrecht zu halten: erst im Lauf der Zeit konnte realisiert werden, das sich eigentlich alles geändert hat, bis hin zum wöchentlichen Einkaufszettel: der immer wieder reflexhaft eingekaufte Schokoaufstrich, den der Mann mochte, stapelte sich bald im Kühlschrank….

In ihrem Buch schildert die Autorin die Erlebnisse, Gefühle und Erfahrungen, die sie in diesem Zeitraum gemacht hat. Es sind Momente des Unglaubens („das kann doch nicht wahr sein!“), der Hoffnung, der Enttäuschung. Das gesamte Leben hat sich von einem Moment auf den anderen geändert, der Tumor steht im Mittelpunkt allen Denkens, alles dreht sich nur noch darum, ihn zu bekämpfen und den Mann zu heilen. Durch Komplikationen wird dieser jedoch immer schwächer und pflegebedürftiger, eine Aufgabe, die die Autorin neben der Bewältigung des Restlebens und der Versorgung der kleinen Tochter auch noch übernimmt. Bald schon ist sie in diesem Teufelskreis der Überforderung, in dem man seine Grenzen nicht mehr sieht, glaubt, alles schultern zu müssen und garnicht auf den Gedanken kommt, sich Hilfe zu organisieren. In einer solchen Phase ist der eigene Zusammenbruch absehbar…

Immer wieder stehen sie und ihr Mann vor der Aufgabe, die Realität zu akzeptieren, angefangen mit dem Aussprechen des Satzes „Es ist Krebs“ über die Enttäuschung, wenn eine hoffnungsvolle Therapie nicht angeschlagen hat oder die Erkenntnis, an Grenzen der Leistungsfähigkeit zu stoßen bis hin zu der bittersten Wahrnehmung, daß das Sterben, der Tod, nicht mehr zu verhindern ist…

Trotzdem gelingt es dem Dreien, die kleinen Glücksmomente, die das Leben auch in dieser Situation noch bietet, wahrzunehmen und zu geniessen: zusammen in der Sonne sitzen und Händchen halten, sich an der Tochter freuen. Die zeitliche Planungstiefe reduziert sich auf das „Hier und Jetzt“: was hier und jetzt möglich ist, Freude bereiten kann, das wird gemacht, muss gemacht werden. Ein Verschieben auf später ist unmöglich, niemand kann sagen, wie lange die guten Momente dauern…

Die Schuldfrage… gerade, wenn ein junger Mensch stirbt, an einer solche Krankheit leidet: Warum? Aber auch hier ist zu akzeptieren: es gibt keine Antwort und das Suchen nach einem Schuldigen ist ein Blick in die Vergangenheit, der eine Weiterentwicklung, ein Vorwärtskommen, ein „Hier und jetzt“ blockiert. Man kennt diese Geschichten von Menschen mit -zig Aktenordnern, die ein Leben lang darum kämpfen, Recht zu bekommen, die Schuld eines anderen zu beweisen, die sich letztlich nur noch durch diese Fixierung definieren.


Der Tod des Mannes – ihm folgt eine große innere und äußere Leere. Wieder hat sich das Leben von einem Moment zum anderen geändert, all die Aufgaben rund um die Versorgung des Mannes fallen weg, einzig die Bestattung und die Trauerfeier ist noch zu organisieren. Hier geht die Autorin ungewöhnliche, kreative Wege der Gestaltung… und danach? Leere, Isolation, Antriebslosigkeit. Mehr funktionieren als leben, die Tochter muss versorgt werden, ein starkes Motiv, überhaupt was zu machen. So viele Fragen, die jetzt auftauchen: in der Wohung bleiben oder nicht, was mit den Sachen des verstorbenen Mannes machen, es besteht der Zwang, spätestens wenn die Elternzeit vorbei ist, wieder in einen Beruf zu gehen und Geld zu verdienen…. Viele Freunde von früher sind unsicher, wissen nicht, wie mit der jungen Witwe umgehen, meiden sie. Reden ist nur über Unverfängliches mögliches…. Aber auch die Autorin selbst ist nicht mehr der Mensch, der sie mal war: die Erfahrungen haben sie grundlegend geändert, sie hat sich weiterentwickelt, ist auch gewachsen an all den Herausforderungen. Auch nach längerer Zeit kann sie nicht mehr an das alte Leben wieder anknüpfen, dies existiert einfach nicht mehr – wieder etwas, was zu akzeptieren ist – und was andererseits den Blick nach vorne wieder öffnet.

Rituale helfen, Geburtstagsgrüße an den Papi werden mit Luftballons hoch in den Himmel schicken z.B. Ein sehr schönes Projekt ist das „Papa-Buch“ für Svenja: eine Sammlung von Bildern und Geschichten vom Papa, um die die Autorin auch Freunde und Bekannte gebeten hat, gut…  In Trauergruppen trifft Riedinger Menschen mit gleichen Erfahrungen, hier versteht man sie, hier kann sie sich fallen lassen und wird aufgefangen. Auch für Svenja gibt es solche Gruppen, sie tun dem Kind, das als einziges im Kindergarten oder später in der Schule keinen Papa hat…. zwischen Mutter und Tochter wächst so eine große Vertrautheit, sie können über den Papa reden, sie können auch über den Tod reden: er ist kein Tabu mehr für sie, er fesselt sie nicht mehr. Und eines Tages schreckt das „Papa-Lied“, das plötzlich aus dem Radio schallt, nicht mehr und macht nicht mehr traurig: nein, es ist zur freudigen Verbindung geworden so wie der Regenbogen Erde und Himmel eben verbindet…. Svenja und Andrea Riedinger haben gelernt, mit dem Tod ihres Papas bzw. Mannes zu leben.


Andrea Riedinger ist Journalistin, man merkt es dem Text an: er ist leicht lesbar und flüssig geschrieben, die biographischen Abschnitte, die ihr eigenes Schicksal betreffen, sind kursiv abgesetzt gegen die Passagen, in denen sie daraus ihre Lehren zieht und sie uns Lesern darstellt. Damit versucht die Autorin einen Spagat zwischen zwei Polen eines möglichen Spektrums: Bücher, die sich übergreifend mit diesem Thema „Trauer“ befassen und von Psychologen, Seelsorgern oder Trauerbegleitern u.ä. Menschen geschrieben werden, bieten Schlussfolgerungen aus einer Vielzahl von Schicksalen, bilden eine gewisse Bandbreite menschlicher Reaktionen ab. Biographische Bücher dagegen beschreiben ein Einzelschicksal, eben die Reaktion dieses einen Menschen (dieser einen Familie) auf den Verlust eines geliebten Menschen.

In meine trauer  traut sich was! versucht Riedinger, aus ihrem Einzelschicksal Allgemeineres abzuleiten.  Zum einen überträgt sie ihre Erfahrungen über den Umgang mit dem Verlust ihres Mannes auch auf andere, weit weniger einschneidende Verluste wie den des Arbeitsplatzes oder den unfall- oder krankheitsbedingten Zwang, im Rollstuhl zu sitzen, dies ein weiteres Beispiel, das sie öfter verwendet. Zum anderen könnte die Verallgemeinerung ihrer persönlichen Erfahrung zu der Konsequenz führen, daß sie zu wenig berücksichtigt, daß jeder Mensch anders trauert, jede Trauer sich anders äußert, eine andere Intensität hat, sich auf anderes bezieht, anders gelebt wird. So führt Riedinger in einem Beispiel Eltern an, die nach dem Verlust eines Kindes dessen Zimmer unverändert lassen und bewertet dies so: „.. wer sich an unveränderliche Dinge klammert, wird selber unveränderlich. …. Das Leben ist plötzlich eingefroren wie ein lebenslanger Winter, denn man schaut nicht mehr nach vorne, sondern nur noch zurück.“ [S. 178] Kann man das wirklich so verallgemeinern? Könnte es nicht auch gerade umgekehrt sein, daß Eltern genau in diesem Raum ihre Trauer ausleben und außerhalb ihr Leben wieder anpacken können? Ich halte es für möglich, daß durch solche Generalisierungen die Gefahr besteht, daß Menschen, die anders empfinden oder handeln, auf einmal denken, daß sie etwas falsch machen, falsch trauern und sie dadurch zusätzlich verunsichert werden. Vielleicht wäre hier eine vorsichtigere Formulierungsweise, ein wenig mehr Konjunktiv, ein wenig mehr: meistens, oft, häufig, fast immer, ein „besteht die Gefahr“ „besser“ gewesen, da es niemanden ausgrenzt.


meine trauer  traut sich was! ist ein „Mutmachbuch“, theoretische Ausführungen über Trauer, Trauerbewältigung etc pp findet man hier nicht. Das Buch zeigt insbesondere jungen Witwen (und sicherlich können auch  junge Witwer davon profitieren), am eigenen Beispiel, daß es Wege gibt, das eigene Leben wieder zu gestalten, in die Hand zu nehmen. Der Verlust des geliebten Partners, des einstigen Lebensentwurfs ist nicht rückgängig zu machen, er wird immer empfunden werden, aber man kann – Riedinger zeigt es – lernen, damit zu leben. Mit der oben gemachten kleinen Einschränkung, daß das Feld der Trauer ein weites ist, gibt die Autorin ganz handfeste Ratschläge und Hinweise in die Hand, wo besondere Schwierigkeiten lauern, in welchen Situationen man aufpassen muss und wo man sich auch ganz bewusst entscheiden sollte, ich mach das jetzt so oder so. Wichtig ist es, nach vorne zu schauen, ohne die Vergangenheit zu verdrängen, wichtig ist es aber auch, der Trauer, die notwendigerweise rückwärts gewandt ist, die Zeit zu geben, die sie braucht….

Der Zufall wollte es, daß ich gerade in den Tagen, in denen ich das Buch Riedingers las, Menschen traf, die einige der angesprochenen Probleme hatten: sie waren überfordert von der Situation, sie hatten Bedürfnisse, deren Formulierung schwer fiel bzw. die dann noch nicht einmal erfüllt wurden….

Zusammenfassend kann man festhalten, daß diese offene Beschreibung einer existentiellen Krise und ihrer Lösung für jeden, der in einer ähnlichen Situation steht, eine Hilfe sein kann. Es wird ein Weg aufgezeigt, diese Krise zu überwinden, und auch, wenn man vielleicht nicht alles genauso anpacken kann wie Frau Riedinger, findet man in ihren Ausführunge Halt und gewinnt Mut.

Links und Anmerkungen:

[1] Webseite der Autorin: http://www.andreariedinger.de und Facebook-Account: https://www.facebook.com/andreariedingerjournalistin/timeline

mehr Bücher zum Thema im Blog: Sterben, Tod, Trauer: http://mynfs.wordpress.com/

Andrea Riedinger
meine trauer traut sich was!
nach einem schicksalsschlag wieder mut zum leben fassen
diese Ausgabe: adeo-Verlag, HC, ca. 266 S., 2014 (Neuerscheinung)

Ich danke dem Verlag für die Zusendung eines Leseexemplars.

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