David Grossman: Aus der Zeit fallen

grossmann

Neschúmme nannten sie ihn, denn er war durch und durch neschamá, eine Seele. [1]

Eine Besprechung von Grossmans „Aus der Zeit fallen“ ist ein schwieriges Unterfangen. Dieses Buch ist der Versuch eines Vaters, den nicht enden wollenden Verlust seines Kindes zu artikulieren, es ist insofern selbst aus der Zeit gefallen, in dem Sinne, daß diese Klage zeitlos ist. Der Verlust eines Kindes ist, war und wird es zu allen Zeiten sein: eine katastrophale Verwundung der elterlichen Seele, mit der ein Leben lang zu kämpfen ist.

Uri Grossman, der Sohn, wurde am 27. August 1985 geboren. Am 12. Augst 2006, zwei Wochen vor seinem 21. Geburtstag wurde sein Panzer im Libanon-Krieg von einer Panzerabwehrrakete getroffen und er fiel [1].

Der erste Gedanke Grossmans bei der Überbringung der Nachricht vom Tode seines Sohnes war:  „Das war’s, das Leben ist zu Ende.“ [2]. Diese Nachricht, solch eine Nachricht, öffnet von einem Moment zum anderen ein schwarzes Loch, das alles verschlingt, das einen aus der Zeit sowohl als auch aus dem Raum, aus dem Leben fallen läßt…. Zwar geht das Leben äußerlich betrachtet weiter und natürlich redet man sich ein, daß das Leben nicht zu Ende ist, und das Leben geschieht ja auch weiter mit den Trauernden, aber es hat seine Wurzeln verloren, es ist nicht mehr geerdet, es ist aus allem heraus gefallen.

„Aus der Zeit fallen“ ist fünf Jahre nach dem Sohnestod der Versuch des Vaters, den immer noch währenden Schmerz, die immer noch schwärende Wunde aus sich herauszuschreien. So wenig wie dieses Buch als literarisches Dokument eingeordnet werden kann (die Übersetzerin schildert ihre schwierige Arbeit an dem Text in einem unbedingt lesenswerten Nachwort), denn es ist weder Roman noch Gedicht, es ist weder Prosa noch Lyrik, es hat von allem etwas (und ist auch in diesem Sinn aus dem Üblichen herausgefallen) und am ehesten könnte man es vielleicht noch mit dem Chor antiker Tragödien vergleichen.

… doch mit dem Tod der andren muss man leben!
[Mascha Kaléko]

Offensichtlich lastet der Verlust des Sohns auch nach fünf Jahren noch so schwer auf der Seele des Vaters, daß er sich ein seiner Profession gemäßes Ventil sucht, mit dem er diese Last hinausschreien kann. In seinem Text versammelt er verschiedene Figuren, denen es gemeinsam ist, ein Kind verloren zu haben. Es sind (als Beispiele) der Chronist der Stadt, dessen Tochter Hannah vor 13 Jahren im See ertrank, der greise Rechenlehrer, der einen Suizid seines Sohnes („…ein Streich, der schiefging, Badewanne, Rasierklinge…“) sich als Unfall schönt, der Zentaur, dessen Sohn Adam vor 15 Jahren starb so wie seine Frau drei Jahre später und natürlich der gehende Mann, mit dem sich Grossman selbst meinen dürfte, läßt er ihn doch den Krieg anklagen, der ihm den Sohn nahm…. auch Frauen natürlich trauern und klagen mit, sie weinen um die Toten wie die Hebamme, die ihre Tochter durch Krankheit verlor…

All diese Menschen quälen sich mit dem Tod ihrer Kinder, klagen an, verstehen nicht, akzeptieren nicht, schreien ihre Qual hinaus. Sie finden sich im Lauf des Textes zu einer Trauergemeinde, die ziellos umherwandert, immer wieder dieselben Gedanken wälzend, dieselben Erinnerungen hervorholend bis sie schließlich an eine Mauer stoßen, an der sie nicht weiterkommen. Sie sind auf der Suche nach dem dort, dem Ort, an dem ihre Kinder sind, nicht wissend, ob es dieses dort überhaupt gibt, ob es ein Wiedersehen geben kann, eine Verbindung zwischen ihnen und den Verstorbenen.

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Aber dort, an dieser Mauer, an der der Marsch zu enden scheint, geschieht etwas anderes. In diesem zweiten Teil des zweigeteilten Textes finden die Trauernden einen rituellen Weg zu den Verstorbenen. Sie erkennen, daß diese wieder zur Erde gegangen sind und sie graben in der Erde und legen sich ebenfalls hinein, hinein in ein Grab, welches sie für sich, die noch nicht Gestorbenen schaufelten. Hier, in diesem Grab, in der Verbindung zur Erde, in der ihre Kinder ruhen, spüren sie eine spirituelle Verbindung, eine geistige Nähe, die ihnen Trost wird, die ihnen Hoffnung gibt und Ruhe und einen Weg weist zurück in ihr eigenes Leben.

„…. um eins würd ich dich gern bitten:
Ich möchte trennen die Erinnerung vom Schmerz;
zumindest den Teil, den man trennen kann,
denn sonst ist die Vergangenheit für immer schmerzgetränkt.
….
Ich sag ihm auch: ich muss mich von dir lösen.

„Aus der Zeit fallen“ ist ein Buch, das man nicht mit der Ratio lesen darf, sondern mit der Anima, der verwundeten, geschundenen, in sich zusammengefallenen Seele eines/r Trauernden… eigentlich ist der ganze Text nur ein einziger Aufschrei, der sich irgendwelche Worte sucht, um auf Papier gebracht zu werden. Denn wie fasst man einen Seelenschrei des Verlustes, der unsäglichen Trauer in Worte? Man kann es vllt nur mit solchen Texten, die intuitiv zu verstehen sind, auf die man sich innerlich einlassen muss. In gewissem Sinn muss sich der Leser genauso entblößen und offenbaren wie es Grossman als Autor getan hat: ungeschützt ist man seinem Wort gewordenen Schmerz ausgeliefert und ausgesetzt. Dies – so auch der Wunsch des Autoren – braucht Zeit, es ist kein Buch zum Durchlesen, es ist eins zum Mit-Leiden, zum Mit-Fühlen, zum Mit-Trauern.

Ich habe in den letzten Tage selbst intensive Gespräche mit Menschen gehabt, die nahe Angehörige verloren haben bzw. deren Sterben begleiten. In diesen Gesprächen tauchten Bemerkungen auf wie „es ist wie in ein schwarzes Loch fallen“ und in diesem Momenten fühlt ich den Sinn dieser oft seltsamen Texte und Sätze Grossmans, sie wurden klar, es war, als ob sich ein Mantel gehoben hätte auf den Zustand, der sie ins Buch schrieb.

Das Büchlein selbst, der Text, ist schmal, gerade mal 120 Seiten. Grossman läßt seine Personen mit Ausnahme des Gehenden Mannes und des Zentaurs, denen er meist Prosa zuordnet, in Gedicht-/Liedform reden, damit erhält das Dokument einen fast archaischen Charakter, vom Schauplatz her siedelt man das Stück assoziativ, wahrscheinlich wegen der Herkunft des Autoren, in einer Wüstengegend an. Das Archaische wird noch durch die mythische Figur des Zentaurs unterstützt. Mit diesen szenischen und stilistischen Hilfsmitteln verdeutlicht Grossman die völlige Entblößung seiner Figuren, denen der nach so vielen Jahren immer noch wütende Schmerz, auch der Zorn, die Wut, das Unverständnis, die Sehnsucht alle schützenden Schichten von der Seele gerissen hat: die Figuren sind Schmerz geworden, sind Wut und Zorn, sind Sehnsucht…

Ich vermute, Grossman hat dieses Buch nicht mit der Absicht geschrieben, beim Leser etwas Bestimmtes zu erreichen. Es ist vielmehr eine äußerst persönliche, äußerst intensive Offenlegung von Schmerz und Trauer, vllt um sich durch diesen wortreichen Aufschrei selbst zu befreien, nachdem über fünf Jahre lang dies offensichtlich nicht möglich war. Den Autoren auf diesem Weg (im wörtlichen Sinn) zu begleiten, ist eine Herausforderung ob der Intensität des Weges. Läßt man sich als Leser darauf ein, aber das ist auch die Grundvoraussetzung dafür, erwartet einen ein tiefer Einblick in das Wesen von Trauer und Verlust.

Er ist tot.
Er ist tot, doch sein Tod
sein Tod
ist nicht tot.

Links und Anmerkungen:

[1] Die bewegende Trauerrede David Grossmanns am Grab seines Sohnes ist in der ZEIT abgedruckt [2]. Siehe auch hier: Neta Sela: Author David Grossman’s son killed, Ynetnews  13.08.2006
[2] David Grossmann: Am Grab meines Sohnes (Die Trauerrede am Grab des Sohnes Uri), DIE ZEIT, 24.08.2006
[3] Wiki-Artikel über David Grossman: http://de.wikipedia.org/wiki/David_Grossman
[4] ich möchte nicht versäumen, auf die bemerkenswerte Buchvorstellung bei buzzaldrin hinzuweisen

Herzlichen Dank an Herrn Maassen-Pohlen für die Genehmigung, sein Foto „Klageweiber – Theben Westbank“ zu verwenden.

David Grossman
Aus der Zeit fallen
Übersetzt aus dem Hebräischen von Anne Birkenhauer
Carl Hanser Verlag, HC, ca. 126 S., 2012
Originalausgabe: Tel Aviv, 2011

Bei dem Titelbild des Beitrags handelt es sich nicht um das Originalcover des Buches. Auf dessen Wiedergabe wurde aus Urheberrechtsgründen verzichtet.

6 Kommentare zu „David Grossman: Aus der Zeit fallen

  1. Danke für diese ergreifende Besprechung, die mir noch einmal sehr nahe gegangen ist und mich zurückversetzt hat in meine eigene Lektüre dieses Buches. „Aus der Zeit fallen“ ist für mich eines der ungewöhnlichsten, aber auch berührendsten Bücher, die ich bisher gelesen habe. Auch wenn ich vieles, was beschrieben wird, sicherlich nicht ganz so gut nachvollziehen kann, wie Menschen, die bereits Kinder haben. Ich glaube aber zu erahnen, das der Verlust des eigenen Kindes unheimlich schmerzhaft sein muss für Eltern. Ich danke dir auch für die ergänzenden Links, die Trauerrede kannte ich z.B. noch gar nicht.
    Das Bild empfinde ich als unheimlich passende Untermalung des Textes, auch dafür danke ich.

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    1. liebe mara, ich muss dir danken: du hast mich auf dieses buch aufmerksam gemacht!

      ich habe einmal eine todesnachricht (der sohn….) in eine türkische familie überbringen müssen. dort habe ich dieses „archaische“ miterlebt: die unmittelbarkeit des schmerzes, der trauer, die sich nicht wie so häufig bei „uns“ hinter einer starren maske versteckt, sondern hervorbricht mit einer gewalt, die alles mit reißt. diese trauer läßt uns als „westler“ etwas ratlos agieren, wir wissen kaum, damit umzugehen. aber ist es nicht das natürlichste der welt, wenn es so furchtbar wehtut, genauso furchtbar zu weinen und schreien?

      lg
      fs

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  2. Der Tod, zumal des eigenen Kindes, ist nicht vorstellbar, wir wissen, daß es eines Tages geschehen könnte und doch sind wir ahnungslos, wie wir das Geschehen dann verarbeiten.
    Grossman’s Schmerz, den er auch schon in seinem großartigen Buch „Eine Frau flieht vor einer Nachricht“ verarbeitet hat, ergreift einen tief, er wühlt auf mit seinen archaischen Worten in diesem Büchlein….das Lesen erfordert seelische Kraft……ich mußte es auch immer wieder zwischendurch aus der Hand legen…..
    Im Carl Hanser Verlag ist 2010 ein ganz zartes poetisches Kinderbuch (bzw. ein Bilderbuch für Menschen jeden Alters) von Grossman erschienen, es hat den Titel Die Umarmung. Diese Geschichte hätte er sicher gern seinem Sohn erzählt und daß er sie aufschreiben konnte nach dessen Tod, ist umso ergreifender.

    einen lieben Gruß an Sie, lieber Flattersatz

    Karin

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    1. liebe karin, den tod eines geliebten menschen allgemein, den seines eigenen kindes insbesondere, kann man nicht verarbeiten, der begriff suggeriert etwas, was nicht ist. man kann lernen, mit dem schmerz zu leben, mit dem verlust umzugehen, auch wieder selbst ins leben einzutauchen. aber es wird immer wieder flash-backs geben, der schmerz wird ein leben lang dasein – ändern wird er sich, es wird anders weh tun. es wird nie wieder sein, wie vorher.
      dies zu akzeptieren, ist ein großer schritt.

      ich danke ihnen auch die hinweise auf weitere werke grossmans, ich habe selbst noch „stichwort liebe“ im regal stehen, ungelesen…

      lg
      fs

      p.s.: bei susanne (kommentar oben drüber) ist noch ein link zum thema versteckt… ;-)

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  3. Es ist ergreifend. Über meinen eigenen Tod kann ich gut nachdenken, aber den Tod meines Kindes kann ich mir nicht ansatzweise Vorstellen. Unterschwellig ist da immer eine Angst, es könnte etwas passieren. Aber das drücken Eltern denke ich immer weg.

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    1. liebe susanne, du hast recht, der tod des eigenen kindes ist auf der persönlichen katastrophenskala ganz oben, nicht mehr zu über“treffen“. schlimmer geht nicht. er stellt die ordnung der welt auf den kopf und reißt eltern aus jeglicher sicherheit. wenn es möglich ist, daß ein kind vor den eltern geht, dann ist alles möglich…. und die angst, natürlich. lebenserfahrung bedeutet schließlich auch, mehr risiken zu kennen und zu fürchten….. gerade auch die, die kinder nicht sehen können oder auch wollen

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