Anna Mitgutsch: Die Annäherung

mitgutsch

Von der österreichischen Autorin Anna Mitgutsch habe ich vor einigen Jahren an dieser Stelle schon den Roman Wenn du wiederkommst vorgestellt [2]. Es war ein gedankenschweres Buch (ist es natürlich immer noch), zu dem ich seinerzeit schrieb: „Das Buch verlangt hohe Aufmerksamkeit, zu differenziert und tiefgründig sind die Gedankenwelten, die Mitgutsch schildert.“ Wenn ich mich jetzt also ihren neuesten Roman Die Annäherung widmete, wusste ich daher, auf was ich mich einlasse…

Aber zuvor zum Inhalt.

Im Zentrum des Romans Die Annäherung steht Theo, der gleich zu Anfang einen leichten Schlaganfall erleidet. Theo ist zu diesem Zeitpunkt sechsundneunzig Jahre alt, er ist verheiratet mit der siebzehn Jahr jüngeren Beate, zur Tochter Frieda aus seiner ersten Ehe ist das Verhältnis abgekühlt: Beate stellte Theo seinerzeit, es sind mittlerweile Jahrzehnte verflossen, vor die Alternative: sie oder ich. Theo entschied sich für seine Frau und seine Tochter bekam Hausverbot.

Der Schlaganfall Theos macht dem alten Paar ’schlag’artig klar, daß sie spätestens jetzt in die letzte Lebensphase eingetreten sind. Zwar erholt sich Theo recht gut von den Symptomen, findet auch seine Sprache wieder, er wird jedoch nicht wieder derjenige, der er vor dem Schlaganfall war. Ein großer Sprecher war er eh nie, er war schweigsam, schluckte Gegenworte lieber hinunter, ordnete sich unter, wenn jemand die Regie übernahm. So wie es Berta gleich anfangs ihrer Ehe gemacht hatte, sie, die ihn gleich richtig eingeschätzt hatte, die die Welt realistisch sah, durchsetzungsfähig war und die Theo damals mit ihrer sinnlichen Wärme einhüllte. Von letzterer ist nicht mehr viel geblieben, mittlerweile und verstärkt durch Theos Handicaps schleichen sich immer wahrnehmbarer Misstöne und Nickeligkeiten in ihr Leben ein.

Berta ist nach der Rückkehr ihres Mannes nach Hause bald schon mit dessen Pflege überfordert, muss sogar selbst als Notfall ins Krankenhaus. Die beiden wissen auf die Schnelle keine andere Möglichkeit, als Frieda, die ungeliebte Tochter/Stieftochter ins Haus zu holen, damit diese sich um ihren Vater kümmern kann.

Frieda nimmt diese unverhoffte Gelegenheit, sozusagen offiziell wieder mit ihrem Vater in Kontakt zu kommen, ohne Zögern wahr. Nach all den Jahrzehnten der Entfremdung hat sie es nicht aufgegeben, auf eine Annäherung an ihren Vater zu hoffen. Und auf die Wahrheit, denn eine Frage quält Frieda ebenfalls schon seit Jahrzehnten, seit ihr eine Freundin in Jugendtagen ein Foto gezeigt hat, auf dem ein Mann in Uniform einem anderen in den Kopf schießt und in der Grube hinter diese Szene ein einer Schlangenbrut gleichendes Gewirr menschlicher Glieder und Körper zu erkennen war: Hat ihr Vater, der als Soldat den Krieg sechs Jahre lang mitmachte, solches auch auf seinem Gewissen, hat er Schuld auf sich geladen? Schon als Jugendliche drang Frieda mit dem inquisitorischen Eifer von Menschen, die überzeugt sind, es gäbe eine Wahrheit und Schuld und Unschuld seien eindeutig zu bestimmen, auf ihren Vater ein, aber dieser verneinte, stritt ab, wich aus, gab keine Antwort mehr und verschloss sich. Für Theo gab es mehr als nur Schuld und Unschuld, es sah hier auch Zwischentöne, aber von denen wollte Frieda nichts wissen.

Nach Bertas Rückkehr aus dem Krankenhaus müssen die beiden Alten eine Pflegekraft ins Haus holen, es ist Ludmila, die aus der Ukraine stammt. Ludmila weiß mit Theo umzugehen, sie hat mit ihm keine Vergangenheit gemein, die sie hemmen könnte und vorsichtig machen. Sie findet genau das richtige Maß an Fürsorge, läßt ihm, wo es geht, seine noch vorhandene Eigenständigkeit, läßt ihn auch ihre Wärme spüren, wenn sie ihn, was zu ihren Aufgaben gehört, vorsichtig wäscht und pflegt. Es sind Momente, in denen Theo sich wie ein Baby geborgen fühlt, in denen er die Fürsorge, die Vorsicht eines anderen Menschen wahrnimmt und er sich in dieses Wohlgefühl hineinfallen lassen kann. Es entwickelt sich ein Vertrauensverhältnis zwischen den beiden, bei Ludmila findet Theo wieder Worte, ihr erzählt er wie sonst noch nie im Leben, so wie sie ihm von sich erzählt.

Doch Berta wäre nicht Berta, wenn ihr das nicht mißfallen würde. Nach dem Geburtstag Theo eskaliert die Situation, es kommt zum Streit und konsequent, wie sie ist, sorgt Berta dafür, daß Ludmila geht und eine andere Pflegerin ins Haus kommt, mit der sie sich besser versteht – auf Kosten von Theo, der nach dem Verlust ‚Milas‘ in sich zusammenfällt. Zu einer Großtat kann sich dieser jedoch noch aufraffen: er bittet Frieda, dafür zu sorgen, daß Ludmila wiederkommt und Frieda will ihm diese Bitte erfüllen.


Der Roman überstreicht einen Zeitraum von etwas mehr als einem Jahr, das erste und das letzte Kapitel des Buches, das nach den Jahreszeiten unterteilt ist, spielen im Winter. Es ist das letzte Lebensjahr Theos, dessen Nachnamen wir nicht erfahren. Daher ist Die Annäherung auch ein Buch über das Altern, das Alt-werden und das Warten auf den Tod, ein Buch, das diesen Teilen des Lebens sensibel und genau nachspürt. Theo, der praktisch so begabt war, fast alles reparieren konnte, wird immer unselbstständiger, braucht immer mehr Hilfe, zum Schluss sogar bei den besonders schambesetzten Funktionen seines immer hinfälliger werdenden Körpers. Er konnte fast alles reparieren, dieses ‚fast‘ ist wichtig, denn es ist das Schicksal, das ihm zweimal seinen Berufswunsch zerstörte: seine Lehre als Uhrmacher konnte er nicht beenden, weil sein Meister starb und Feinmechaniker konnte er seiner Kriegsverletzung an der Hand wegen nicht mehr werden. Überhaupt war sein Leben von Armut und Beschränkung geprägt. Der Nachzügler auf einem alten Hof, das zwölfte Kind, siebzehn Jahre nach dem ersten….

Nach dem Krieg die Hochzeit mit der Tochter des Bürgermeisters, aber gesellschaftlich aufgestiegen war er nicht deswegen. Und gut ging die Ehe auch nicht… Bis Wilma dann starb und er ein Jahr später Berta kennenlernte und sich die pubertierende Frieda sofort gegen die neue Frau stellte. Sie nahm es dem Vater übel, daß er so schnell nach Mutters Tod eine neue Frau gefunden hatte. Peu a peu entblättert sich für uns Leser das Leben dieser drei Menschen, aus immer wieder anderen Gesichtspunkten (die einzelnen Abschnitten werden alternativ aus der Perspektive von Theo und Frieda erzählt) schildert Mitgutsch die Ereignisse, so daß häufig die Eindrücke, die man gewonnen hat, revidiert werden müssen. Es gibt eben nicht die Wahrheit, für jeden hat die Wahrheit auch einen subjektiven Anteil. Es gibt die Zwischentöne, die Frieda damals nicht sehen wollte und die sie immer noch nicht sieht.

Weder Theo, noch Berta oder Frieda kommen aus ihren Rollen und Verhaltensweisen heraus. Theo ist derjenige, der um des Friedens und seiner Ruhe willen zu allem Ja und Amen sagt, Berta achtet darauf, daß niemand Theo zu nahe kommt und Frieda ist unfähig, aus ihrem emotionalen Wagenburg herauszutreten. Wesentlich ist das Verhältnis von Vater und Tochter, von Theo und Frieda. Auch hier erweist sich erst spät, daß die zurückhaltende Art Theos gegenüber seiner Tochter auch seine Gründe hat – mag man sie billigen oder nicht, sie scheinen erst einmal nachvollziehbar. Und Friedas schon in früher Jugend einsetzende geradezu Besessenheit von der Frage nach der Schuld des Vaters im Krieg hat das Verhältnis ebenfalls nicht gerade gut getan. So sitzen sie jetzt, Jahrzehnte sind vergangen, unfähig, sich zu berühren, die Hand des anderen zu nehmen und zu halten, geschweige dann eine Umarmung.. immer, wenn sie ihm zu nahe kam, ergriff ihn Unbehagen. … diese Stelle der Tochter sollte dann für kurze Zeit Ludmila einnehmen


Das zweite große Thema des Buches ist Friedas Thema: Schuld und Verantwortung, hier herunter gebrochen auf die des Vaters als Soldat im Krieg. Ihr Vater, der schwache Mann, hätte sich nicht gegen seine Vorgesetzten gestellt: So etwas mache ich nicht. Die Frage ist für Frieda: An welchem Punkt wird Schwäche zum Vergehen? Oder: Gleichgültigkeit zur Schuld? Es ist ein Vertrauensbeweis, ein spätes Angebot, daß Theo ihr sein Kriegstagebuch gibt. Aber hilft es ihr wirklich? Ist sie nicht vielmehr enttäuscht? Die erste Zeit durchaus schwärmerische Einträge über die Natur, durch die sie marschieren, später dann nüchterne Angaben und Auflistungen von gefallenen Kameraden. Und die Tage, von denen nichts im Tagebuch steht? Frieda sucht nicht ergebnisoffen, sie sucht Beweise für die Schuld und jeder Tag, über den nichts im Tagebuch steht, ist ihr ein solcher Beweis. Noch an Theos siebenundneunzigstem Geburtstag sorgt sie mir ihrer Radikalität und unbedingen Wahrheitssuche für eine Eklat…

Eine allgemein gültige Antwort auf die Frage nach Schuld und Unschuld findet natürlich auch die Autorin nicht, sie läßt selbst die Frage, ob Theo Schuld auf sich geladen hat in der Schwebe – zumindest für den Leser. Für Frieda scheint sie durch das Tagebuch ihres Vaters beantwortet zu werden, welche Beweise brauchte ich denn noch? … Was passieren hatte können, das Gefürchtete, der Beweis seiner Schuld, war in Kloyzy passiert. Die Stunde der Wahrheit. …


Die Annäherung ist ein gedankenschwerer Roman über persönliche Schuld und Verantwortung, über die Unbarmherzigkeit derjenigen, die nach der Wahrheit suchen und der Gerechtigkeit. Es ist ein Roman über die Unfähigkeit zu verzeihen, eine Geschichte über die Sehnsucht auch nach Nähe, die dadurch unerfüllt bleibt. Tragische Verstrickungen und Brüche, wie sie das Leben der drei Protagonisten, insbesondere aber die Leben von Theo und Frieda, aufweist, brauchen, um überwunden werden zu können, die unbedingte Liebe und den Willen, auch zu vergeben. Dazu scheint Frieda nicht in der Lage zu sein.

Es fällt mir jetzt schwer, ein Resümee zu Mitgutschs Roman zu ziehen. Er hat mir als Roman, als Geschichte, die drei große Themen, miteinander verknüpft, gut gefallen: Auf der persönlichen Ebene ist dies die problematische Vater-Tochter-Beziehung, über die die Frage nach Schuld und Verantwortung für Kriegsverbrechen als zweites Großthema aufgeworfen wird. Und dann ist last not least das Altwerden ein Thema, mit seinen Problemen für alle Betroffenen. All das wird nachdenklich, festgefügte Meinungen immer wieder in Zweifel ziehend, dargestellt. In dieser Hinsicht kann Die Annähung jedem, der an der Thematik interessiert ist, empfehlen – mit einer Einschränkung…

… denn mein eigenes Lesevergnügen ist jedoch leider durch meiner Ansicht nach vermeidbare Ungenauigkeiten im Text getrübt worden. Ich habe sie weiter untenstehend aufgelistet [4], mögen diese einzelnen Punkte auch etwas ‚kleinkariert‘ wirken (ein Autor hat mich betreffend mal die Vermutung geäußert, ich bediene mich einer ‚Rezensionstechnik von gestern‘ [3]), aber wenn ich dauernd vor- und zurückblättern muss, weil ich versuche, die in meinem Kopf auftauchenden Fragezeichen aufzulösen, … ok, ich denke, jeder weiß, was ich meine.

anyway: wer damit leben kann, dem kann ich Die Annäherung zur Lektüre empfehlen.

Links und Anmerkungen:

[1] Autorenseite von Mitgutsch beim Verlag: Anna Mitgutsch
– Wiki-Beitrag zur Autorin:  https://de.wikipedia.org/wiki/Anna_Mitgutsch
[2] Anna Mitgutsch: Wenn du wiederkommst (Besprechung hier im Blog)
[3] https://radiergummi.wordpress.com/2015/08/25/ruprecht-frieling-weltberuehmt-durch-self-publishing/#comment-4782

[4] Vermeidbares bzw. Fragezeichen im Kopf:

Zahlen waren nicht zum Übertreiben da, sondern um Genauigkeit herzustellen ... legt die Autorin ihrer Hauptperson Theo auf S. 261 in den Mund. Und so ist es sicherlich auch im Sinne Theos, wenn ich die folgenden Anmerkungen, bei denen ich die von Theo reklamierte Genauigkeit vermisse, hier exemplarisch anführe…:

  • auf S. 181 ist davon die Rede, daß die lange Linie von Vätern und Söhnen irgendwo im Kaukasus ihren Anfang genommen hatte, auf den Seiten 145 und 182 dagegen werden die Karpaten als Herkunftsort des Großvaters genannt.
  • Theo erleidet einen Schlaganfall, also einen Hirninfarkt, der durch Minderdurchblutung (Verstopfung) von Blutbahnen hervorgerufen wird. Auf S. 148 ist dagegen davon die Rede, daß in seinem Hirn eine Ader platzte (–> Aneurysma)
  • auf S. 232 ist davon die Rede, daß einen ’siebenundneunzigjährigen etc pp‘. Der 97. Geburtstag wird aber erst Wochen später, auf S. 259 begangen.
  • Die Pflegerin Ludmila hat zwei Mittagsstunden frei, sie geht in dieser Zeit in die Stadt (S. 200), einundzwanzig Stunden  am Tag verbringt sie im Haus. (S. 210)
  • Edgar, mein treuer Freund seit fünfzig Jahren (S. 213) vs. .. in den fast fünfundvierzig Jahren, die ich ihn kenne…. (S. 219)
  • mein Versuch, die Altersangaben der Personen und die Angaben über verflossene Zeiträume in ein plausibles Schema zu bekommen, dazustellen, würde ausufern: es ist mir nicht gelungen. Daher nur ein einziges, übersichtliches Beispiel: … es war ein für seine sechsundzwanzig Jahre recht naiver Jüngling, der am 20. Mai 1940 … heißt es auf S. 341. Daraus leitet sich mit dem siebenundneunzigsten Geburtstag ab, daß die Jetzt-Zeit im Jahr 2010/11 angesiedelt ist. Auf S. 224 ist dagegen eine andere Rechung aufgemacht worden: Berta gibt Frieda das Kochbuch ihrer verstorbenen Mutter. Das erste Rezept trug ein Datum, den 1. Dezember 1944. …. zwanzig Jahre Einträge …. Wie hatte er es zulassen können, daß diese Frau fünfzig Jahre lang ein Buch besessen hatte, …. mit diesen Zahlen kommt man auf 2014 für die Jetzt-Zeit. Apropos ‚fünfzig‘, auf S. 441 taucht wie aus heiterem Himmel die Zahl ’sechzig‘ auf..

Anna Mitgutsch
Die Annäherung
Originalausgabe
diese Ausgabe
: Luchterhand Literaturverlag, HC, ca. 450S., 2016 

Ich danke dem Verlag für die Überlassung eines Leseexemplars.

4 Kommentare zu „Anna Mitgutsch: Die Annäherung

  1. Solche Fehler kann ich auch nicht leiden. Das sollte einem Lektor doch auffallen, oder?
    Ich las letztens in einem Krimi im ersten Absatz, dass zwei Männer nach einem zwei-Augengespräch auseinander gingen. Das Buch konnte ich nicht mehr ernstnehmen. Ich habe nur weitergelesen, weil ich dachte: wie originell , zwei einäugige Hauptpersonen…

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    1. ups…. da ist ja ein kommentar! den habe ich leider erst heute gesehen, aber so spät ist es ja auch noch nicht… ja, ist schon seltsam mit solchen fehlern, eigentlich sollten die erst gar nicht passieren und wenn unsereiner als leser/-in das schon merkt…

      das zwei-augengespräch ist ja niedlich… ;-)

      mein bisheriges hightlight ist folgendes: hintere umschlagseite: „Sommer 1945 ….“ und dann auf der ersten Seite des ersten Kapitels: „Schnee. Die Luft roch nach Schnee. Es war viel zu kalt für diesen November….“

      herzliche grüße
      fs

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