Deborah Feldman: Unorthodox

Ich denke, die im ungarisch/rumänischen Grenzgebiet liegende rumänische Stadt Satu Mare [3] nicht zu kennen, ist keine Schande. Um so größer für mich die Überraschung, daß ich innerhalb einer Woche zwei Bücher lese, in denen dieses Städtchen eine große Rolle spielt – welch ein Zufall! Zum einen waren dies die biographischen Aufzeichnungen von Robert Scheer über das Schicksal seiner jüdischen Großmutter [3a] unter den Nazis und eben diese „autobiographische Erzählung“ von Deborah Feldmann, die ihre problematische Kindheit in der ultra-orthodoxen chassidischen Gemeinschaft der ‚Satmarer‘ (die vom Rabbi der Gemeinde in Satu Mare, der vor der Deportation gerettet worden war und in die USA kam, ins Leben gerufen worden war) in Williamsburg/Brooklyn/NY erlebt hat und die jetzt nach einem langen Entwicklungsprozess ein säkulares Leben führt.

feldmann cover


In dem vom Verlag als „autobiographische Erzählung“ kategorisierten Buch erzählt Deborah Feldman über ihre Kindheit, die von den sehr strengen Vorschriften der Gemeinde (nach Klappentext: „die strengsten Regeln … weltweit“) bestimmt war, Vorschriften, deren Sinn sie schon früh im Leben hinterfragte und die sie schon als Kind im Rahmen ihrer Möglichkeiten unterlief. Entscheidend war später, daß sie als junge Mutter in einer unglücklichen, arrangierten Ehe ihrem Sohn ein ähnliches Schicksal wie sie es aus ihrer eigenen Kindheit kannte, ersparen wollte. Nach langen Jahren des inneren und auch äußeren Kampfes beschloss sie, sich von ihrem Mann und der Gemeinde zu trennen und ein säkulares Leben zu führen. Die deutsche Übersetzung ihres ersten Buches ist Anfang diesen Jahres 2016 passenderweise im Secession-Verlag (Zürich) erschienen.

Deborah oder Devoireh, wie sie als Kind auf Jiddisch hieß, war schon von früher Kindheit an Aussenseiterin. Der Vater fiel durch das soziale Raster der Gemeinschaft und verkam zu einer ungepflegten Person. Er wurde mit einfachsten Arbeiten betraut, spielt im Buch und damit in der Biographie der Autorin keine große Rolle – beziehungsweise nur indirekt eine Rolle, indem er seine Vaterrolle nicht ausgefüllt hat. Die leibliche Mutter des Kindes wird quasi totgeschwiegen, für die Satmarer existiert sie nicht mehr. Viele Jahre später erst sollte Deborah mehr durch Zufall erfahren, was der Grund dafür war, daß sie die Gemeinschaft verlassen hat: in einer kurzen Filmsequenz einer Dokumentation über das Schicksal homosexueller Juden trat auch ihre Mutter auf und bekannte sich zu ihrer Neigung zu Frauen.

Ursprünglich sollte Devoireh bei ihrer Tante Chaya aufwachsen, das kleine Mädchen wehrte sich jedoch dagegen, da Chaya eine sehr strenge, keine Gefühle zeigende, beherrschte Frau war. So nahmen letztlich die Großeltern Bubby und Zeidl das Kind bei sich auf und kümmerten sich um seine Erziehung.

In den folgenden Abschnitten will ich versuchen, wesentliche Eckpunkte des Lebens dieser chassidischen Gemeinde wiederzugeben, unter denen auch Devoireh Feldman aufwuchs.

Das Leben ist dem Juden nicht zur Freude geschenkt, es ist in dieser Hinsicht kein Wert an sich. Das irdische Leben ist die Prüfung für den gläubigen Juden, nach der Gott entscheidet, wie es nach seinem Tod weitergeht. Es ist der alttestamentarische Gott, dem wir hier begegnen, dem strafenden Richtergott, dem Vatergott, dessen Liebe verdient werden muss… Daraus folgt für die Satmarer zweierlei: zum einen gilt, je strikter man die Gesetze befolgt (i.e. je frommer man ist), desto mehr erfreut man Gott und zum zweiten gilt, Unglück und Pech auf Erden ist die Strafe Gottes für Verfehlungen und Sünden. In dieser verquer erscheinenden Logik ist den Satmarern der Holocaust beispielsweise die Strafe Gottes für die z.B. die Anmaßungen des Zionismus. Denn der wahrhaft Gläubige hat auf das Erscheinen des Messias zu warten, sich selbst auf Erden um die Rückgewinnung und den Einzug in das Gelobte Land zu bemühen, ist Frevel. Daß in dieser Logik Hitler und seine Schergen zu Erfüllungsgehilfen Gottes werden, scheint niemanden zu stören. Wir lernen in der Schule, Gott habe Hitler gesandt, um die Juden dafür zu bestrafen, sich selbst erleuchtet zu haben. Er kam, um uns zu reinigen, um alle assimilierten Juden zu vernichten, alle frejen Jidden, die dachten, sie könnten sich selbst vom Joch, die Auserwählten zu sein, befreien. Nun büßen wir für deren Sünden. Mit einer analogen Begründung (auf den Messias warten) lehnen (ultra)Orthodoxe den Staat Israel ab (was mir zwar bekannt war, was ich aber bis ich hier die Ausführungen der Autorin las, nicht verstanden hatte). Der Kinderreichtum orthodoxer Juden wird als ultimative Rache an Hitler verstanden. Auf der anderen Seite läßt sich jedoch so ohne große intellektuelle Verrenkungen das Erscheinen und/oder Erstarken solch orthodoxer Gemeinschaften als Folge des von Deutschland Versuchs, die Juden auszurotten, verstehen – nicht im Sinne von „verantwortlich sein“, sondern als kausale Beziehung.

Ist dem gläubigen Juden das Leben nicht zur Freude geschenkt, so spielen positive Gefühle auch nur eine untergeordnete Rolle. Im Gegenteil: jeder hat die Verantwortung dafür, daß sein Mitmensch keine Fehler macht. Denn es fehlt nicht nur derjenige, der gegen Gesetze verstößt, sondern auch die anderen tragen Verantwortung. Die Autorin führt dazu ein drastisches Beispiel aus der Zeit ihrer Ehe an: Chassidischen Männern ist es untersagt, zu masturbieren, erklärte mir Eli [i.e. ihr Mann] immer wieder. Folglich, so erklärt er mir, bin ich dazu verpflichtet, ihn zu befriedigen. damit sich [während der Zeit ihrer „Unreinheit“] keine sexuelle Frustration bei ihm bildet. Wenn ich mich weigere, würde ich ihn zwingen, zu sündigen und damit die Bürde seiner Missetat tragen. (Feldman hat übrigens für diese seinerzeit von ihr zu vollziehenden Verrichtungen den schönen Begriff der „Trockensexsitzung“ geschaffen) [4]. Kontrolle, Tadel, Vorhaltungen, Massregelungen sind also die Regel und das erzieherische Konzept.

Der gesetzliche Rahmen (mit „Gesetz“ ist immer das „religiöse Gesetz“ gemeint [5]), in dem der Satmarer sich einzurichten hat, geht auf die alten mosaischen Vorschriften zurück, maßgebend sind die Thora, der Talmud und andere Schriften. Mer wellen tun und mer wellen heren. Mit diesen Worten wird das blinde Vertrauen auf die am Berg Sinai empfangenen Gesetze bezeugt und die Entscheidung, ein Auserwählter zu sein, gilt für immer und alle, denn nach den Lehren war jede jüdische Seele anwesend, als die Thora dem jüdischen Volk ausgehändigt wurde. Und „jede“ umfasst auch die Seelen der jetzt lebenden Juden. „Koscher“ ist der Begriff für gesetzeskonform, aber koscher ist auch nicht gleich koscher. In einzelnen Gemeinden, die sich z.B nach ihrer Herkunft herausgebildet haben wie Satmarer oder Lubawitscher, bestehen durchaus unterschiedliche Ansichten, ein für Lubawitscher koscherer Wein muss für Satmarer noch lange nicht erlaubt sein….

Aber selbst eine ultraorthodoxe Gemeinde muss mit ihren jahrtausende alten Gesetzen in der Gegenwart leben, d.h., diese Gesetze für das Hier und Jetzt notfalls interpretieren. Dies ist Aufgabe der Rabbis und der Thoragelehrten, und nach Zeidl, dem Großvater Devoirehs, der selbst als Thoragenie gilt, ist ein guter Rabbi derjenige, der fähig ist, einen Heter zu finden, das Schlupfloch im Gesetz, das Flexibilität ermöglicht. Ein schlechter Rabbiner, der den Talmud nicht wirklich kennt, sagt immer nur „Nein“.

Die Rolle der Frau ist in dieser Gesellschaft im Wesentlichen auf zwei Bereiche eingeschränkt: zum einen ist sie Gebärerin möglichst vieler Kinder, zum zweiten muss der Haushalt gemacht werden und Essen auf dem Tisch stehen, wenn der Mann von der Arbeit oder von seinen Studien nach Hause kommt. Für beides, so sieht man es in der Gemeinde, ist Bildung nicht unbedingt von Nöten, Schulbesuch und Ausbildung der Mädchen und Frauen gehen über ein Basislevel nicht hinaus.

Erwähnt werden muss ferner, daß die Sprache der Satmarer das Jiddische ist, die Sprache, die die Juden im 14. Jahrhundert nach ihrer Vertreibung aus dem Rheinland mit nach Osten genommen und dort mit weiteren, lokalen Sprachelementen angereichert haben. Das ausgerechnet eine solch durchmischte Sprache geeignet sein soll, mit Gott zu kommunizieren (im Gegensatz zum verfemten Englisch, das den Geist trübe und unempfindlich mache für Gott) leuchtete dem Mädchen schon sehr früh nicht ein. Englisch wurde sowieso praktisch nicht gesprochen, in der Schule gab es einen Alibi-Unterricht, der zwangsweise auf Anordnung der staatlichen Behörden zur Zulassung der Schule durchgeführt wurde und der kaum mehr als rudimentäre Kenntnisse vermittelte. Lehrerinnen waren Chassidim anderer Gemeinschaften, die aber als nicht so authentisch angesehen wurden wie die Satmarer und entsprechend weniger Autorität genossen.

Damit wären einige Ingredienzien aufgezählt, die das Leben und die Isolation der Satmarer charakterisieren: ein buchstabengetreues Befolgen der alten Gesetze, die sprachliche Isolation, die lokale Isolation (geschlossene Wohngegend), das Arrangieren der Ehen, bei den Frauen kommt noch die untergeordnete soziale Stellung in der eigenen Gemeinde dazu.

Die aus dieser strengen Befolgung der Gesetze bedingte Unfreiheit der Menschen vermittelt ihnen auf der anderen Seite Sicherheit. Für alles und jedes gibt es Vorschriften und Anweisungen bzw. den Rabbi, der in Zweifelsfällen mit seiner Autorität entscheidet. Das ist ein Netz von Verhaltensweisen und Leitlinien, das den Einzelnen, so er sich unterwirft, sicher hält, ihn auch von eigenen Entscheidungen entbindet. Es ist das genaue Gegenteil dessen, was wir unter Aufklärung verstehen, die Eigenverantwortlichkeit und die Freiheit des Menschen, seine eigenen Angelegenheiten selbst zu entscheiden. Bei den Satmarern dagegen sind Gehorsamkeit und Sittsamkeit (‚Ervah‘) oberste Gebote.


In diesem engen religiösen und sozialen Umfeld (über das sich noch einiges andere sagen ließe) wird Devoireh groß. Sie ist intelligent, aufgeweckt und neugierig, das klaglose Akzeptieren aller Gebote ist ihre Sache nicht. Sie erlebt, wie sich Bubby, die das KZ überlebt hat und elf Kindern das Leben schenkte, im Haushalt plagt und wie Zeidl ihr beispielsweise die Anschaffung eines neuen Teppichs als „Luxus“ untersagt. Aber ist es tatsächlich Luxus, wenn Bubby nicht mehr auf Knien rutschen muss, um die heruntergefallenen Krümel aus dem alten, zerschlissen Teppich zu entfernen?

Früh entdeckt Devoireh Bücher für sich, in deren Welten sie sich zurückzieht, Bücher auf englisch, Bücher, die sie verstecken muss, mit denen sie sich nicht erwischen lassen darf. Ihr Zimmer wird natürlich kontrolliert…. älter geworden schleicht sie sich heimlich in Bibliotheken, leiht sich auch Bücher. Dadurch lernt sie gutes und flüssiges Englisch, nach Abschluss ihrer Schule (auf das College darf sie natürlich nicht, dies wäre der erste Schritt in Richtung Pritzus, Freizügigkeit) erhält sie sogar eine Stelle als Englischlehrerin an ihrer Schule. Eine andere Erfahrung: nach einem heimlichen Kinobesuch mit einer Freundin ist sie extrem verwirrt: sie kann das, was sie gesehen hat, nicht einordnen: Da ich über kein Bezugssystem zu ihren Stimmen, ihrer Ausdrucksweise verfügte, glaubte ich, dass diese Figuren ebenso lebendig waren wie Minny und ich, eingeschlossen in einen entsetzlichen Rahmen. Die vielen Toten in dem Film, was für eine alptraumhafte Welt da draußen… einige Jahre später sollte Devoireh aber merken, daß diese Alpträume auch in ihrer Welt existierten – aber totgeschwiegen wurden.

All diese Sachen (ebenso wie ein kleines Radio, wie eine Fahrt in die Stadt…..) werden heimlich unternommen, sind stets begleitet von der Angst, erkannt zu werden. Die Kleidung, die sie tragen muss, macht sie zur auffälligen Person. Sie hatte jedoch früh ihre „Macht“ erkannt, ich kann so tun als ob, ich kann mich derart überzeugend verhalten, dass niemand je die Wahrheit zu entdecken vermag.

Auf diese Weise wächst Devoireh heran, eingebunden in eine strikte und starre Gemeinschaft, aber mit Kontakten zur Aussenwelt, die sie mit ihrer Farbe, ihrer Freiheit und ihren Möglichkeiten, von denen sie ein paar wenige wahrnehmen kann. Kann man dem jungen Mädchen die Zweifel verdenken? Kann man den Ort, dem man entstammt, je wirklich verlassen? Ist es nicht am besten, zu bleiben, wohin man gehört, besser, als einen Versuch zu riskieren, sich woanders einzugliedern und dabei zu scheitern? versus: Ich weiß nicht wie, aber vielleicht wird meine Flucht, wie bei Francie, in kleinen, beständigen Schritten vollzogen werden. Vielleicht wird es Jahre benötigen. Aber ich weiß mit großer Sicherheit, dass es geschehen wird. 

An Devoireh haftet ein Makel: sie wächst ohne Eltern auf und die Eltern, die sie hat, sind eine Belastung für das Mädchen. Als sie ins heiratsfähige Alter kommt, versucht Zeidl, einen Mann für sie zu finden und unter diesen Bedingungen eine Ehe zu arrangieren. Und tatsächlich findet er einen heiratsfähigen jungen Mann, dessen Eltern mit der Verbindung einverstanden sind. Das Einverständnis von Devoireh und Eli wird zwar bei einem ersten, sehr formellen Treffen eingeholt, ist aber reine Formsache. Die junge Frau erhofft sich von der Ehe mit Eli, der ihr sogar recht sympathisch erscheint, mehr Freiheit für sich und mehr Möglichkeiten, ein Leben zu leben. Ein Vorteil hat ihr Status jetzt: Zeidl durchsucht ihr Zimmer nicht mehr, sie ist nicht mehr gezwungen, ihre Bücher zu verstecken.

Bis zu diesem Zeitpunkt hat Sexualität im Leben der jungen Frau schlicht und einfach nicht existiert. Die Menarche war ein Schock für sie und der Beginn der Teilung ihres Lebens in eine unreines Leben und ein reines, beide cirka zwei Wochen lang. Die Rituale, aus dem unreinen in den reinen Zustand zurückzukehren, sind für orthodoxe Frauen streng und umständlich, von aussen gesehen, sind sie entwürdigend – so, wie es die junge Frau auch empfindet.

Aufklärung findet nicht statt. Vor der Hochzeit gehen beide, Eli und Devoireh zum Heiratslehrer. Die letzte Lektion ist die geheimnisumwitterste: mit plumpen Gesten und ungelenken Worten erfährt Devoireh, die diese Stunde allein ist, technische Details. Ich habe dieses Ding einfach nicht, über das Sie hier reden. Es miss san, ich bin ohnedem geboirn! … Ich wüsste doch wohl, wenn ich dort unten ein Loch hätte! … In gewisser Weise hat die junge Frau sogar recht, der prachtvollen Hochzeit (Zeidl scheut keinerlei Kosten) folgt eine erfolglose Hochzeitsnacht, der erfolglosen Hochzeitsnacht folgen viele weitere erfolglose Nächte……

Sowenig wie Devoireh ihren Körper kannte, so wenig wusste Eli, wie eine Frau aussieht. Seine sexuellen Erfahrungen beschränkten sich auf gegenseitiges Masturbieren in der Jeschiwa…. Der Nichtvollzug der Ehe führt auch interfamiliär zu großen Problemen (eine Privatsphäre existiert nicht), Ärzte werden konsultiert und es stellt sich heraus, daß bei Devoireh vor lauter Ängsten, die sich verselbstständigt haben, die Muskulatur so verkrampft ist, daß sie tatsächlich „unten kein Loch hat“…. Die beiden bekommen dieses Problem schließlich in den Griff, aber es dauert lange…. Eli ist begeistert von dem, was er erlebt, der Begriff „Nachspiel“ existiert für ihn jedoch nicht… Devoireh leidet ausserdem sehr unter einem weiteren emotionalen Druck: nach den zwei ‚reinen‘ Wochen, in denen sie langsam Nähe zu ihrem Mann aufgebaut hat, wird sie wieder unrein, darf nicht berührt werden….

Den jungen Paar gelingt es, ausserhalb von Williamsburg eine Wohnung zu bekommen. Es ist eine Siedlung, in der viele junge jüdische Familien wohnen, die der Enge ihrer alten Gegend entkommen wollen. Hier sind die Regeln nicht ganz so streng, die gesellschaftliche Kontrolle nicht so umfassend. Devoireh ist jetzt neunzehn Jahre alt und schwanger.

Die glatte Oberfläche ihrer Welt bekommt weitere Risse: in der Gegend gibt es einen Pädophilen, der sein Unwesen treibt, ein Junge bekommt vom Vater mit der Stichsäge seinen Penis abgeschnitten, weil er beim Masturbieren erwischt worden war… all dies wird verschwiegen, verheimlicht unter der Oberfläche, die von aussen zu sehen ist und trägt zu den Zweifeln Devoirehs bei. Nach der Geburt des Sohnes fängt sie an, heimlich auf´s College zu gehen, in diese andere, bunte, fröhliche Welt, sie freundet sich an, zieht sich bei Verabredungen in der Stadt um, ihre Haare wachsen wieder ein wenig (verheiratete orthodoxe Frauen müssen sich ihr Haar abscheren und tragen Perücken, siehe dazu auch hier [6]). Es reift in ihr…

Als ihr Sohn im Alter von drei Jahren vor der „Einschulung“ in die ‚Cheder‘, die Thora-Schule, steht, steht ihr Entschluss fest: ihr Kind soll nicht unter solchen Bedingungen wie sie aufwachsen. Devoireh trennt sich von ihrem Mann, sie zieht aus, sie hat sich endgültig für ein säkulares Leben entschieden. Die Tragweite dieses Entschlusses läßt sich für Aussenstehende kaum ermessen: mit diesem Schritt hat Deborah ihre Wurzeln abgetrennt, sie hat keine Familie mehr, keine Unterstützung, nichts. Sie muss ihr Leben von vorne an wieder neu aufbauen und hat eine schwierige Sorgerechtsauseinandersetzung mit ihrem (Ex-)Mann vor sich.

Deborah Feldmann, 2015 Bildquelle: [B]
Deborah Feldman, 2015
Bildquelle: [B]
 Deborah Feldmann wird von ihrem Mann geschieden und hat auch gegen jede Wahrscheinlichkeit den Prozess um ihren Sohn gewonnen. Sie lebt heute mit ihrem Sohn Yitzy in Berlin, hat dort Freunde gefunden, Wurzeln geschlagen. Sie kann in dieser Stadt sie selbst sein, die Authentizität finden, die sie gesucht hat, sie hat ausgerechnet in der Stadt, die ihre Familie so brutal hinausgeworfen hat ihre wahres Zuhause zurückerobert. (dem Sinn nach zitiert)


Deborah Feldman hat mit ihrem Buch „Unorthodox“ ein beeindruckends Debüt vorgelegt. Und dieses Buch ist sicherlich einer der Fällen, in denen auch schon ein 25jähriger Mensch berechtigterweise seine Biographie verfassen darf, weil sie Wesentliches enthält. Das Erzählte fungiert auf mehreren Ebenen: zum einen ist es eine Darstellung ihres Lebens, ihres Aufwachsen in einer orthodoxen Familie, aber es ist auch eine Darstellung des Lebens in einer jüdisch-orthodoxen Gemeinschaft an sich. Dies beides bedingt, daß die möglichen Auswirkungen eines solch starr und strikt reglementierten Lebens auf den Einzelnen sichtbar werden.

Feldman öffnet mit ihrem ein Fenster zum Innenleben einer Gemeinschaft, die nach Regeln lebt, die an der Schwelle des Verschwindens gestanden hatten. Die Sinnhaftigkeit dieser Regeln ist für uns, die wir von außen auf sie blicken, kaum zu erkennen, mit dem Wertesystem, in dem wir leben, betrachtet, erscheint im Gegenteil ein großer Teil der Vorschriften geeignet, natürliche Bedürfnisse des Menschen an sich zu ignorieren bzw. zu unterdrücken. Als Gemeinschaft leben die Satmarer in einer gegenüber den anderen streng abgetrennten Welt [7]: die Sprache insbesondere isoliert und die Tatsache, daß im Grunde alles außerhalb der satmarischen Gemeinschaft trejfe ist, nicht koscher also. Das auf uns etwas befremdlich wirkende Beispiel mit den Perücken für die verheirateten Frauen, bei denen es sich mehr durch Zufall heraus stellte, daß sie nicht koscher waren [6], zeigt, in welche „Gefahr“ ein orthodoxer Jude gerät, wenn er Kontakt hat zum Welt ausserhalb seiner Gemeinschaft.

Die Erziehung der Kinder ist auf Gehorsam gegründet, auf Verbote, auf Tadel und Missbilligung. Eigene Entscheidungen, das eigenständige Gestalten des eigenen Lebens, gibt es nicht, insbesondere für Mädchen und Frauen ist der Ablauf des Leben vorherbestimmt. Das Recht auf Bildung nach ihren Möglichkeiten gibt es nicht, ihre Rolle in der Gesellschaft ist vorher bestimmt und eine weiter gehende Bildung ist dafür nicht nötig. Die Ehen werden arrangiert, Gefühle der Eheleute spielen kaum eine Rolle.

Das Repressive des Systems wird überall, aber besondere beim Thema Sexualität deutlich. Die Frau als solche ist die Hälfte ihres Frauseins „unrein“, darf nicht berührt werden, lebt diese „unreine“ Zeit unter strikten Sanktionen. Das Procedere, wieder rein zu werden, ist entwürdigend und erniedrigend. Das Fehlen jeglicher Sexualaufklärung führt dazu, daß zwei völlig ahnungslose Menschen in der Hochzeitsnacht (und dem Druck der Familie, die einen „Erfolg“ erwartet) auf einander losgelassen werden. Wie es die Autorin von sich selbst schildert, kann dies zu psychosomatisch bedingten Problemen führen, aber auch schwere Verletzungen der Frau können die Folge sein, wenn der junge Ehemann in Panik einfach zustößt, auch davon berichtet Feldman.

Für uns ist es kaum zu ermessen, wie groß der Schritt für eine jungen Frau ist, eine solche Gemeinschaft zu verlassen.  Sie läßt damit alles hinter sich, steht in einer bunten, komplizierten Welt, muss praktisch bei Null wieder anfangen, denn durch die Entscheidung, säkular zu leben, kappt sie den Verbindung zu allem, was bisher für sie die Alltagswelt war. Jetzt ist sie auf sich selbst angewiesen, muss sich den Lebensunterhalt verdienen, eine Wohnung finden, sich einen Freundeskreis aufbauen. Die Autorin zumindest hatte relativ gute Voraussetzungen: für ihre Aufzeichnungen zeigten Verlage Interesse, sie spricht gut Englisch (das ist nicht trivial) und ich gehe davon aus, daß sie über ihr College, das sie heimlich besuchte, auch Freund und Bekannte gewonnen hatte, die sie unterstützten.

Die Aufzeichnungen Feldmans erschienen 2012 in den USA und waren sofort ein großer Erfolg. Von den Satmarern schlug ihr Hass und Anfeindungen entgegen, es ist nachvollziehbar, daß diese Gemeinschaft sich aus ihren Verständnis heraus verraten fühlte. Dabei hat die Autorin konsequent jede Verurteilung ihrer ehemaligen Gemeinschaft vermieden, sie analysiert, stellt Fragen, stellt in Frage und zieht Rückschlüsse. Sie versteht es ferner, vom subjektiven Erleben (der Text ist ja autobiographisch) aus in eine objektive Perspektive zu wechseln, in der beispielsweise religiöse Vorschriften und Procederes beschrieben und dargestellt werden. Analog gilt, daß Feldman ihrer Familie keine Vorwürfe macht: auch hier beschreibt sie und beschränkt sich darauf, ihre Lebensumstände darzustellen. Für ihre Großmutter Bubby, das entnehme ich dem Text, empfindet sie nach wie vor viel Liebe (oder Sympathie?), auch Mitleid, für ihren Großvater Zeidl Respekt.


Mein Text ist etwas länger geworden, ich bitte um Entschuldigung. Aber Feldmans Buch Unorthodox läßt hat mich nicht unberührt gelassen. Der Blick in das Innenleben einer orthodoxen jüdischen Gemeinschaft – er läßt viele Fragen offen, möglich ist, daß man/ich das eine oder andere falsch verstanden habe. Der Text Feldmans enthält eine Menge Fakten über das chassidische Judentum jenseits einer gewissen Verklärung, wie sie manchmal in den Geschichten jiddischer Schriftsteller zu finden ist. Die für uns von aussen gesehen grundlegende Frage, wie es möglich ist, heute, in der heutigen Zeit nach Regeln zu leben, die vor Jahrtausenden aufgestellt wurden und die damals wahrscheinlich ihre Berechtigung hatten, beantwortet das Buch nicht – kann es nicht beantworten, denn das Wesen einer Religion ist es, daß sie nicht auf Vernunft, sondern auf Glauben gegründet ist. Als bedrückend empfinde ich, daß auch dieser orthodoxe Fundamentalismus zumindest in Teilen eine Konsequenz aus dem Grauen des Holocaust ist – eine Erkenntnis, die mir so noch nicht bewusst war.

Nicht zuletzt aus diesem Grund ist diese (zudem noch sehr gut geschriebene) „biographische Erzählung“ von Deborah Feldman absolut empfehlenswert.

Links und Anmerkungen:

[1] Die Autorin ist im Internet in vielfacher Weise vertreten, z.B.:
– Webseite: http://www.deborahfeldman.com
– tumblr: http://deborahfeldman.tumblr.com (ab 2011 bis 2015)
[2]
[3] Wiki-Seite zu Satu Mare:  https://de.wikipedia.org/wiki/Satu_Mare
– (a) Robert Scheer: Pici. Erinnerungen an die Ghettos Carei und Satu Mare und ….. (Buchvorstellung hier im Blog)
[4] Das klingt absurd (ist es auch), es ist aber keineswegs so, als ob die dahinter stehende Logik bei uns ausgerottet wäre. Gerade Frauen, die von Männer (sexuell) angegriffen werden, wird immer wieder vorgehalten, durch z.B. Kleidung oder allgemeines Verhalten provoziert zu haben. Im Spiegel (19/2016, S. 50 ff: Sexismusopfer im Bierzelt wehrt sich – und wird bestraft) ist ein Bericht über eine junge Frau enthalten, die auf der „Wies´n“ sexuell belästigt worden war und sich mit dem ersten Gegenstand, den sie greifen konnte (es war ein Maßkrug) wehrte. Sie wurde später u.a. zur Zahlung eines Schmerzensgeldes verurteilt, die Männer dagegen bekamen die Auslagen (Fahrtkosten etc pp) ersetzt.
[5] Vom Berliner Moses Mendelsohn stammt die Feststellung, daß das Judentum keine geoffenbarte Religion sein, sondern ein geoffenbartes Gesetz, das allein für die jüdische Gemeinschaft verpflichtend sei und dieses ausmache (1783, nach: Juden in Berlin, Nicolai, 1988, S. 13)
[6] zum Problem der Perücken hier ein Text aus dem Wall Street Journal:
http://www.wsj.com/articles/SB108509606433917593#:JBcrc5460jnPCA bzw. der NYT:
http://www.nytimes.com/2004/05/17/nyregion/orthodox-jews-in-brooklyn-burn-banned-wigs.html?_r=0
[7] ein einziges Mal berichtet Feldman davon, daß Zeidl von sich aus Zeitungen mit nach Hause gebracht hatte, sogar einen kleines Radio kaufte: nach dem 11. September 2001 waren die Nachrichten aus der Aussenwelt so ungeheuer und so wichtig geworden, denn es gab Befürchtungen, man würde die Juden für den Terrorakt verantwortlich machen.

[B]ildquellehttp://www.jewiki.net/wiki/Deborah_Feldman; Lizenz: Attribution 3.0 Unported

Deborah Feldman
Unorthodox
Aus dem amerikanischen Englisch übersetzt von Christian Ruzicska
Originalausgabe: NY, 2012
diese Ausgabe: Secession Verlag für Literatur, HC, ca. 320 S., 2016

9 Kommentare zu „Deborah Feldman: Unorthodox

  1. „verheiratete orthodoxe Frauen müssen sich ihr Haar abscheren und tragen Perücken, siehe dazu auch hier“

    Verheiratete orthodoxe jüdische Frauen müssen ihre Haare BEDECKEN, nicht abrasieren – und sie tragen häufig Kopftücher, Hauben, Hüte, etc., keineswegs zwangsläufig Perücken.

    Ich fürchte, Sie werfen hier unterschiedliche religiöse Gruppen und Strömungen zu sehr in einen Topf.

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    1. erst einmal (ich antworte zusammenfassend nur zu diesem kommentar von ihnen) einen herzlichen dank für die anmerkungen und die kritik. letztere ist sicher berechtigt, ich hätte differenzierter formulieren können und müssen. andererseits nehme ich für mich in anspruch, daß ich (i) im text angemerkt habe, daß nicht alle orthodoxen gemeinschaften in gleicher strenge leben und daß ich (ii) ferner darauf hingewiesen habe, daß mir – als dem thema fernstehend – missverständnisse unterlaufen sein können. dessen ungeachtet bleibt die feststellung, der zu undifferenzierten formulierungen, richtig.

      was das abscheren der haare bei verheirateten frauen angeht, beschreibt feldmann diese prozedur in ihrem buch auf seite 210: es ist so schnell vorbei, es ist, als hätte ich niemals haare gehabt. ….

      mfg

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  2. „Mit einer analogen Begründung (auf den Messias warten) lehnen (ultra)Orthodoxe den Staat Israel ab (was mir zwar bekannt war, was ich aber bis ich hier die Ausführungen der Autorin las, nicht verstanden hatte).“

    Einige ULTRA-orthodoxe jüdische Gruppen lehnen die Existenz des Staates Israel ab, keineswegs „DIE Orthodoxen“. Schließlich sind die Nationalreligiösen in Israel auch orthodox – und bei ihnen handelt es sich um überzeugte Zionisten.

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  3. Deinen extra-langen Text habe ich mit angehaltenem Atem gelesen, so voller Informationen zum orthodoxen Leben (und zum Holocaust) ist er, so wirklich existentiell hast Du die die Entscheidung, diese Gemeinschaft zu verlassen, geschildert. Je hermetischer eine Gemeinschaft sich von der Außenwelt abschließt, umso schwerer ist ja diese Entscheidung, anders leben zu wollen, weil das ja immer den komplette Bruch mit der Familie, mit Freunden und Bekannten nach sich zieht.
    Viele Grüße, Claudia

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    1. .. es ist nicht nur er Bruch mit dem Alten, denke ich. Es ist ja auch die Notwendigkeit, sich in einer völlig anders funktionierenden Welt zurecht zu finden. Der Kinobesuch, den Deborah beschreibt, ist dafür symptomatisch: die beiden Mädchen kannten weder Film noch Fernsehen, sie konnten daß, was sie dort sahen, weder inhaltlich (viele Tote) noch technisch einordnen. Ein mühsames Lernen, auch unter dem Druck, den Alltag finanziell meistern zu müssen….
      lg
      gerd

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