Rosemarie Marschner: Das Bücherzimmer

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Marie ist ein Bankert, ein uneheliches Kind auf dem Dorf. Ein geliebtes Kind einer selbstbewussten Mutter Mira, die sich der nachträglichen Legitimierung durch Heirat verweigerte, die sich den Lebensunterhalt für sich und ihre Tochter auf dem Bauernhof des Bruders verdient und dort trotz ihrer Schande gut gelitten ist – das ist nicht wenig in diesen Zeiten.

Wir sind in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen, in Österreich, in einem Dorf in der Nähe von Linz. Die Zeiten sind hart, viele Menschen haben viel, nicht wenige sogar alles verloren, ziehen umher, tauschen auf den Dörfern, bei den Bauern ihre Habseligkeiten gegen eine Seite Speck, gegen Brot und Butter und Wurst und Fleisch. Doch was will ein Bauer, eine Bauersfrau mit einem Diadem? Mit einem Ring, der auf die Arbeit gewohnten Finger nicht passt, mit filigranen Kettchen um den faltigen Hals? Mit zusammengerollten Teppichen, die an der Scheunenwand liegen und den Platz für das Werkzeug wegnehmen? Mit Pelzen, die nach Parfüm stinken, daß es den Landfrauen schlecht wird und sie im Winter lieber frieren, als sie anzuziehen…..Jetzt, wo es den Städtern schlecht geht, nehmen sie die Dörfler zur Kenntnis, vorher hatten sie allenfalls Verachtung über das dumme Landvolk übrig. Schon bald tauschten die Bauern nichts mehr, aßen ihr Essen lieber selber, spekulierten vielleicht auf einen erneuten Tausch, wenn die Zeiten sich gebessert haben und die Städter die mit Erinnerungen behafteten Teile wieder haben wollen…

Die vierzehnjährige Marie jedenfalls muss das Dorf verlassen, in die Stadt gehen, denn als Bankert hat sie hier keine Zukunft, obwohl sie seit Menschengedenken das beste Zeugnis auf der Schule hat, die intelligenteste Schülerin dort war. Es wird ihr hier auf dem Land nichts nutzen. Was der Lehrer für sie tun konnte, war, sie in die Stadt zu bringen, sozusagen einen Startplatz für die Zukunft zu besorgen. Ob es je ein Rennen geben wird und wie es ausgehen mag – das steht in den Sternen, ist vom Glück, von Maries Tüchtigkeit, vom Zufall abhängig.

So landet sie in Linz, als Hausmädchen im Haus der Horbachs, einem Haus, in dem ein Leben geführt wird, das von dem, was sie kennt, so weit entfernt ist, daß sie es kaum glauben mag. Doch sie ist intelligent, fleißig und lernt schnell, schon bald ist sie es (ohne, daß es ihr bewusst ist), die anstelle der durch viele Jahrzehnte Arbeit kreuzlahmen Frau Amelie die Hauswirtschaft schmeißt, so daß dies selbst den Horbachs auffällt, für die ihr Personal meist kaum sichtbarer ist als Luft.

Die Horbachs besitzen viel, aber noch mehr fehlt ihnen. Der Mann, ein Notar, ist immer in Eile, bei ihm muss alles schnell gehen. Die Frau, für die der Schein mehr ist als das Sein, trägt ein Dauerlächeln im Gesicht, fehlt dies mal, erkennt sie sich im Spiegel nicht mehr wieder. Ihr Lebensinhalt ist das Kaufen von schönen Dingen, um Platz im Kleiderschrank zu bekommen, geht sie dazu über, Marie ihre (kaum getragenen) alten Sachen zu schenken, aber nicht im Haus!, so daß diese, wenn sie an ihrem freien Nachmittag in die Stadt geht, gut gekleidet ist wie eine Dame…

Auf der Dinnerparty (Frau Horbach liebt das Englische, daher mutiert eine Einladung zum Abendessen bei ihr zur Dinnerparty) wird auch ein Herr Bellago erwartet mit seiner Frau, ein junges Paar, das Nachwuchs erwartet. Marie wird schwindelig, als sie dies erfährt, den Namen ihres Vaters kennt sie doch, wurde damit manchmal im Dorf gehänselt: Na, willst du nicht mal an die schöne See fahren?

Sie erkennt sich in ihm wieder, die Haare, die Hände, die sich so sehr von allen anderen Händen im Ort unterschieden hatten… für ihn ist sie einfach nur das Dienstmädchen, dem er ein großzügiges Trinkgeld gibt….

Der erste Urlaub nach einem Jahr, Marie besteht darauf, ihn zu nehmen, um nach Hause, in ihr Dorf, zu ihrer Mutter zu fahren. Es ist Winter, Horbachs sind Skifahren… fast gibt es ein Unglück, Marie hat vergessen, wie hart der Winter sein kann, verirrt sich fast im Schneesturm, findet ihr Mutterhaus nur knapp… ein Riss ist entstanden zwischen ihr und dem Dorf. Es ist nicht mehr alles selbstverständlich, was sie hier sieht, sie kennt jetzt anderes, sie vergleicht, bewertet auch… Steingeiß beschimpft der Onkel seine Frau, die bis jetzt kein Kind bekommen hat, die Tante bricht in Tränen aus. Eine Grobheit und Verletzung, die es bei Horbachs und ihren Leuten nie geben würde, Marie erkennt die Höflichkeit als Schutz für solchen Wunden…. der Onkel erklärt ihr, daß er sich erkundigt habe nach ihr in der Stadt und man sehr zufrieden und er wolle, da die Steingeiß ihm keinen Nachfolger geschenkt hat, für sie, für Marie in zwei, drei Jahren einen Mann finden und dem Paar dann den Hof überschreiben für den Erbfall….

…. derweil im Dorf die Gerüchte kochen, denn die einfachen Dorfleute sehen den Riss auch, die anderen Kleider, die städtische Sprache.. bestimmt trägt sie ´was unter´m Herzen, hat sich was andrehen lassen, wird nach vierzehn Tagen nicht wieder in die Stadt fahren…. von Hof zu Hof wabernd wird aus dem Gerücht immer mehr eine Gewissheit….

Maries Kindheit ist endgültig zu Ende.

Ein Hausmädchen, das liest… es war schon Beate Horbach aufgefallen, daß Marie abends die Zeitungen, die für´s Feuermachen gedacht waren, mit auf´s Zimmer nimmt und sie offensichtlich liest…. aber Marie ist mittlerweile so „wertvoll“, daß sie den Tadel unterläßt. Auch der Senior des Hauses, der Herr Notar, merkt eines Tages die unerwartete Fähigkeit des Mädchens und setzt im Haushalt durch, daß Marie täglich eine Stunde zu ihm in´s Bücherzimmer kann, um ihm aus der Zeitung vorzulesen.

Zum ersten mal weitet sich jetzt der Gesichtskreis des Mädchens.. las sie bis jetzt das Lokale, will der Herr Notar die Nachrichten über die Vorgänge in der Welt hören und er kommentiert sie fleißig mit eigenen Gedanken. Und es unruhige Berichte, die Marie liest… der große Nachbar bäumt sich auf gegen Restriktionen, die ihm die Niederlage aufbürdete, ficht innere Kämpfe aus, die auf das eigene Österreich ausstrahlen… dieser Hitler, diese Partei, diese Kämpfe…. Namen, die Marie bis dato noch nie gehört hatte, Dollfuß, Schuschnigg… der Herr Notar fühlt sich erinnert an Zeiten, die er schon einmal erlebte und die in einem Weltenbrand mündeten…

… und noch etwas erlebt Marie in diesen Tagen, ein Gefühl schleicht sich ein für einen jungen Mann, Richard Ohnesorg, der eigentlich von Elvira, der Tochter des Hauses, angeschwärmt wird, sich aber erkennbar eher dem Hausmädchen zugeneigt fühlt… doch Marie denkt an ihre eigene Herkunft als Bankert, als Schande.. das, was ihrer Mutter geschehen ist, soll ihr nicht passieren.. spröde ist sie gegen ihre eigenes Gefühl…

Still sind die Straßen, Polizei an allen Ecken.. die Bäckerei, in die Marie jeden Morgen geht, die Brötchen für´s Frühstück zu kaufen, ist dunkel, kein Licht in der Auslage… erst nach langem Klopfen wird sie eingelassen vom Junior Franz. Schüsse sind zu hören auf den Straßen.. sie bleibt erst einmal in der Backstube.. spürt ganz zart eine Berührung im Nacken… läßt sie geschehen… Tage später, als diese Kämpfe vorbei sind, lädt Franz sie ein zum Platzkonzert, sie kann die Einladung annehmen, da die Herrschaften unterwegs sind und Amalie froh ist, allein zu sein, um ihres kaputten Kreuzes wegen ruhen zu können…. gut sieht sie aus, die Marie, in den Kleidern von Beate Horbach, gar nicht wie ein Hausmädchen. Franz ist stolz auf seine Begleitung….

Doch Maries Tage bei Horbachs sind gezählt. Der Onkel, ihr Vormund, kündigt ihre Stellung dort: die Mutter ist erkrankt, schwer erkrankt, und braucht Pflege, will die Tochter sehen. So fährt Marie den Weg, den sie vor ein paar Monaten in ein neues Leben genommen hatte, wieder zurück in ihr altes…

Sie trifft die Mutter schwer krank an, etwas wächst schon seit Jahren in ihr und nun ist sie an ihr Ende gekommen. Sie ist ruhig und gefasst, zwischen ihr und der Tochter entsteht etwas, was bei aller Liebe, die immer da war, neu ist: Zärtlichkeit, Vertrautheit, Intimität. Sie erzählt Marie die Geschichte ihrer verbotenen Liebe zu diesem Studenten, der sie dann entsprang…

Der Tod der Mutter nimmt Mira, die im Leben an den Rand gedrängt war, wieder auf in die Gemeinschaft, die Schande ist getilgt und so ist es eine große Beerdigung, die Mira als Mitglied einer alteingesessenen, bedeutenden Familie bekommt. Doch nach dem Tod kommen die Trauer, die Einsamkeit, die Erinnerungen, die Zweifel. Kommen die Tränen, die Wünsche und auch das Selbstmitleid… Marie ist allein, nur der stumme Knecht ist noch treu mit auf dem Hof.

Mit der Schwägerin gibt es Streit. Die Mutter hatte es in den letzten Wochen noch geschafft, Marie etwas von dem Erbe, aus dem sie, Mira, nach der Schande hinausgedrängt worden war, zu sichern. Nicht sehr viel, aber immerhin… die Schwägerin nimmt es übel, bricht mit Marie..

In diese Situation, mitten im Winter, kommt Franz Janus mit dem Motorrad angefahren. Marie fällt in seine Arme, sie hat keine anderen, die sie halten und sagt „Ja“ zu der Frage, die sich Franz unterwegs ausgedacht hat. Zwischen dem Familien gibt es harte Verhandlungen über die Mitgift, Franzens Mutter, Emmi Janus ist eine gewiefte Geschäftsfrau…. die Herkunft Maries wird verschwiegen und hinter Lügen versteckt, nur Franz weiß davon. Seine Mutter, so sind sich alle sicher, würde die Verbindung verbieten, wenn…. auch das Problem katholisch/evangelisch verschiebt man auf später…

Marie arbeitet mit in der Bäckerei Janus in St. Peter, einem erst vor kurzem eingemeindeten Stadtteil in Linz, macht den Führerschein und fährt Waren aus in die Hotels und zu den großen Kunden. Sie ist schön, sie kann mit den Menschen umgehen und ist beliebt… die erste Zeit mit Franz ist schön, sie lebt auf, sie harmonieren, auch wenn Marie schnell merkt, daß er ihr nicht das Wasser reichen kann…

In Linz kann es nicht ausbleiben, daß Marie auf Menschen trifft, die sie schon als Dienstmädchen kennengelernt hat. Im Park trifft sie auf den alten Herrn Notar und liest ihm noch einmal etwas aus der Zeitung vor, zu Weihnachten besucht sie zusammen mit ihrer Schwiegermutter ihre Vermieter Ohnesorg. Sie hat Angst vor einer Begegnung mit dem Sohn, die Gefühle, die sie seinerzeit für diesen hatte (und die dieser erwiderte…), hat sie nicht vergessen…

Emmi Janus merkt, daß irgendetwas ist…. es ist dies der Anlass, aus dem Emmi Janus ihren Sohn nach der Ursache, der Wahrheit fragt und Franz ihr alles beichtet. Danach ist Marie für Emmi gestorben, auch wenn sie aus geschäftlichen Gründen einen Skandal vermeidet. Auch Franz hält jetzt Abstand zu seiner Frau, alles jetzt, nur kein Kind…

So allein, einsam und ausgestoßen wie sich Marie jetzt fühlt, ist sie glücklich, daß Susi Ohnesorg, die Schwester Richards, sich mir ihr anfreunden will. Die beiden Frauen verstehen sich gut, zum ersten Mal kann Marie einem Menschen ihre ganze Geschichte anvertrauen….

.. und rings umher verändert sich derweil die politische Landschaft. Das einst so stolze Habsburger Reich ist geschrumpft auf einen marginalen Reststaat, dessen Kanzler zum Obersalzberg beordert wird, einen demütigenden Besuch zu machen. Der große Bruder im Norden, er ist verlockend, er hat seinen Leuten wieder Arbeit verschafft, manche können sich ein Auto anschaffen, in Urlaub fahren, sogar ins Ausland…. nur wenige stellen sich gegen die Idee des Anschlusses. Noch einmal flackert politischer Widerstand auf: eine Volksabstimmung will Schuschnigg durchführen und erschreckt damit die braunen Herren in Berlin: was ist, wenn jetzt doch keine Mehrheit für einen Anschluß wäre? Also prescht man vor, am Abend vor der Abstimmung und überschreitet die Grenze – und wird mit Blumen empfangen, mit Girlanden, mit Jubel….. -zigtausende strömen zu den Kundgebungen, mit fast religiöser Inbrunst wird der Führer angehimmelt und findet Verehrung, seine Heilsversprechen klingen in den Menschen wieder, finden Widerhall in den Herzen… Hundert Prozent stimmen für ihn, für den Anschluss: er hat eine eigene Abstimmung durchgeführt, hundert Prozent – obwohl Marie dagegen gestimmt hat….

.. denn es gibt die andere Seite, vor der so viele die Augen zumachen oder gar sich auf diese Seite begeben. Die der Angst, der Furcht, der Einschüchterung…. Angst vor den Horden, Angst vor den kräftig gebauten jungen Männern, die nur in Gruppen auftreten und auf der Straße ihren Platz fordern, die Tatsache, daß auf einmal viele Kunden der Bäckerei nicht mehr da sind, mit unbekanntem Ziel verzogen, Angst auch, wenn auf einmal Blutlachen unter Fenstern mit Sägespänen abgedeckt werden müssen… das Volk jubelt und entledigt sich derer, die im Herzen wohl immer schon verhasst waren…

Emmi Janus steht auf der Seite der Sieger. Sie weiß, woher der Wind weht, sie weiß, wie sie ihr Segel spannen muss, damit sie nach vorne getrieben wird. So nutzt sie die Gunst der Stunde und erwirbt das Haus und noch eins von den Ohnesorgs…. es ist so einfach im Moment und so billig…. Marie fällt aus allen Wolken, als sie ihre Freundin Susi besuchen will und die gepackten Koffer sieht… Shanghai…. sie glauben ihr ihr Unwissen darüber, und endlich, bei dieser letzten Gelegenheit, gibt sie ihr Gefühl für Richard zu…

Die Entwicklung in Österreich geht indessen weiter. Die Geister, die gerufen worden, wird man nicht mehr los und es erweist sich, daß diese Geister ihre eigenen Interessen haben, die sie gnadenlos durchsetzen. Schnell hat man bemerkt, daß diejenigen, die sich dagegen wehren, oft kurz danach verreisen, nicht mehr gesehen werden… aber: der Fortschritt naht, gewissen Opfer verlangt er. In St. Peter zum Beispiel soll ein Stahlwerk gebaut werden, das bedeutet – so denken die Einwohner – mehr Gäste in den Wirtschaften, mehr Kunden in den kleinen Geschäfte. Tja…. in Wirklichkeit bedeutet es, daß ein Assessor von Haus zu Haus geht und Kaufangebote macht, die die Menschen nicht abschlagen können, denn das Werk wird gebaut, wo diese Menschen seit Generationen ihr Heim haben. Und dabei haben sie noch Glück, daß der junge Assessor kein ganz scharfer Hund ist, selbst Ärger bekommt, weil er zu großzügig ist…

Indes hat es zwischen Marie und Emmi Janus ein offenes Zerwürfnis gegeben, es herrscht unter der glatten Oberfläche der Beziehung, die nach außen aufrecht erhalten wird, Feindschaft. Dank des günstigen Immobilienerwerbs von Emmi siedeln die Janus´ an den Zentralplatz nach Linz um. Dort schließlich kommt es zum Eklat, Marie lehnt sich offen gegen die Schwiegermutter auf und auch über Partei und Führer sagt sie ihre Meinung. Marie wird angezeigt und verhaftet.

So dunkel und aussichtslos es jetzt auch für Marie aussieht, es gibt noch einen Menschen in Linz, der ihr helfen könnte und an den wendet sie sich….


Daß dieser ihr hilft und ihr auch ermöglicht, das Dritte Reich zu überstehen, ist von Anfang des Romans an klar, denn dieser beginnt mit dem Tod einer angesehenen Frau, Marie Zweisam, deren Enkel in ihrer Villa Dokumente sichtet und dabei auf alte Fotos stößt, die er sich nicht erklären kann, ein Hochzeitsfoto zum Beispiel mit einer schlanken, großen Braut und einem etwas kleineren Mann mit einem sorgfältig gepflegten Bart….

….damit bin ich auch schon bei einem der wenigen „Kritik“punkte, die ich an dem Roman Marschners habe: die sechs Jahre im Leben der Marie Zweisam, die vor dem letztem Krieg spielen, werden mit einer Klammer zusammengehalten von zwei kurzen Abschnitten aus der „Jetzt“zeit. Natürlich wüsste man gerne, wie Marie den Krieg überstanden hat, wie die Nachkriegszeit, was sie beruflich gemacht hat, wie ihr (Privat)Leben verlaufen ist… hier endet der Roman mit einer leichten Andeutung und auch der Name des Enkels bestätigt diese…. aber ansonsten fehlt die Verbindung, die diese Jahrzehnte überbrückt… das ist schade, denn Marie Zweisam ist einem beim Lesen ans Herz gewachsen…

Marschners Roman jedenfalls zeichnet das Bild einer jungen Frau, die unter schwierigen Startbedingungen in einer unruhigen Zeit ihren Weg sucht, die selbstbewusst, aber auch mit Selbstzweifeln und einer (nachvollziehbaren) Portion Selbstmitleid nicht aufgibt. Früh merkt sie, daß der ihr „gemäße“ Stand in der Gesellschaft, am Rande und als Dienstbote, nicht das ist, was ihren Fähigkeiten entspricht. Die wenigen Chancen, die sie hat, ergreift sie: es sind die Bücher, das Lesen, die ihr eine neue Welt öffnen: das Lesen im Bücherzimmer beim alten Herrn Notar und die Bücher aus der Bibliothek, dem Ort, an dem alle Menschen tatsächlich gleich sind. Trotzdem braucht es etwas mehr als nur dieses angelesene Wissen, und gerade das Schicksal, das sie in dieser Gesellschaft an den Rand gedrängt hat, erweist sich für Marie zum Schluss als Rettungsanker.

Hintergrund dieses Lebens sind die unruhigen Jahre Österreichs vor dem Anschluß an´s Reich. Ein marginal gewordener Staat, der vormals bedeutend war, ein Land, in dem Armut, Arbeitslosigkeit und Angst vorherrschen, Angst vor allem vor dem großem Nachbarn, in dem ein Sohn des Landes die Muskeln spielen läßt und Aggression zum politischen Konzept erhebt. Die Stimmungsbilder, die Marschner aus österreichischer Sicht über diese Zeit zeichnet, sind sehr erhellend, die Angst vor dem Nazi-Deutschland, aber auch die Faszination, die von ihm für die Bevölkerung Österreichs ausgeht: schließlich sehen die Menschen ja, was er in Deutschland für die einfachen Leute alles erreicht hat.. „auch haben will“: mit Jubel wird er letztlich begrüßt und dem im Herzen, in der Seele wohnenden Frust über die schlechten Zeiten wird gleich noch ein Objekt des Hasses mitgeliefert: die Juden, auf die man alles abladen kann und bei denen dann auch materiell einiges zu holen ist. Daß man selbst auch nur Verschiebemasse ist für die rücksichtslosen neuen Herren, die man willkommen hieß, merkt man bald, es treibt zwar Tränen in die Augen, aber es ist zu spät…

Es ist auch ein Portraits einer untergehenden Zeit, einer Zeit der gesellschaftlichen Ordnung, die sich dem Ende zuneigt. Marie kann als Beispiel dafür genommen werden, daß Bildung und Wissen es ermöglichen, aus einem „niedrigen“ Status auszubrechen und voran zu kommen. Die (weiblichen) Horbachs dagegen sind eher Exempel einer nutz- und sinnlos auf Konsum ausgelegten Gesellschaftsschicht, die den Schein pflegt, nicht das Sein. Es ist bezeichnend, daß genau die Creme, die Beate Horbach gegen ihre Falten im Gesicht auflegt, es auch ist, die sie krank macht…. Er dagegen, der Hausherr, ist schon in modernen Zeiten angekommen: in Eile, in Stress, keine Zeit mehr….

Das alles ist in einer unaufgeregten, klaren, nachdenklichen Sprache geschrieben. Zwar gibt es ein paar Passagen, an denen Marschner stark am Kitschigen schrammt – besonders ist mir das dann sehr schnell kommende Ende des Romans in Erinnerung geblieben, bei dem plötzlich alle trüben Wolken wie weggeblasen sind und der blaue Himmel sein schützend Zelt über die Protagonisten zu spannen scheint – …. aber vielleicht gehört dem so in einem „Frauenroman“, als den ihn eine rezensierende Zeitung bezeichnet [3]…

Jedenfalls hat mir das Buch, diese einfach schön erzählte und spannende Geschichte so gut gefallen, daß ich schauen werden, auch den Nachfolgeroman Das Jagdhaus zu lesen [4].

Links und Anmerkungen:

[1] Wike-Seite zur Autorin  https://de.wikipedia.org/wiki/Rosemarie_Marschner
[2] zur Geschichte der Linzer Hermann-Göring-Werke:  https://de.wikipedia.org/wiki/Voestalpine
[3] so die Hannoversche Allgemeine Zeitung lt. hinterem Umschlag des Buches
[4] Rosemarie Marschner: Das Jagdhaus;  http://www.dtv.de/buecher/das_jagdhaus_21559.html

Rosemarie Marschner
Das Bücherzimmer
Erstausgabe: dtv, 2004
diese Ausgabe: dtv, Softcover (Jubliäumsedition), ca. 415 S., 2011

 

 

 

Ein Kommentar zu „Rosemarie Marschner: Das Bücherzimmer

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