Lena Gorelik: Die Listensammlerin

Fast Hundert Jahre überspannen die Lebenszeiten der vier Frauen, denen sich Gorelik in einen der beiden Handlungsstränge ihres Romans widmet. Anna, die jüngste, ist knapp zwei Jahre alt, ein lebenslustiges, schnaufende Mädchen mit einem schweren angeborenen Herzfehler. Die Großmutter dagegen ist fast einhundert Jahre alt, sie ist in das dunkle Reich der Demenz eingegangen, lebt in einem Heim und Sofia, ihre Enkelin, wünscht ihr den Tod, weil sie kaum mit ansehen kann, wie diese Frau, die sie immer so geliebt hat, alles verloren hat, was sie ausmachte, zur sabbernden, mir leeren Augen in die Welt starrenden Hülle geworden ist.

Es ist Sofia, die die Geschichte, ihren Teil der Geschichte erzählt. Sie ist mit ihrem Leben nicht im Reinem, hat im Moment weder ihren Platz noch ihre Mitte gefunden, das Leben fordert mehr von ihr, als sie ihm entgegenstellen kann. Als Schriftstellerin leidet sie unter einer Schreibblockade, das Schicksal der Oma erlebt sie mit großer Traurigkeit, das Schicksal ihrer Tochter Anna macht ihr einfach nur Angst. Im Hintergrund der Geschichte, die Gorelik uns aus Sofias Sicht erzählt, laufen wie ein Countdown: die neun Tage bis zur entscheidenden, risikoreichen Operation ihrer Tochter ab.

Vor ca 30 Jahren ist Sofia mit ihrer Mutter Anastasia und ihrer Oma aus der UdSSR nach Deutschland gekommen. Frank, ein deutscher Kommunist, der in Moskau seine Dissertation schreiben wollte, hatte sie – so die Oma – „errettet“ und nach Deutschland gebracht. Sofias Vater – sie weiß nicht allzuviel von ihm, in der Familie wird darüber geschwiegen, er sei bei einem Unfall gestorben, als sie noch ein Baby war. Mit Frank, der sehr ruhig ist, man könnte sagen, phlegmatisch und der an einer Stelle des Romans als Adoptivvater bezeichnet wird (jedenfalls haben er und Anastasia geheiratet), versteht sie sich gut, mit ihrer Mutter dagegen nicht so sehr, die beiden Frauen scheinen in verschiedenen Welten zu leben.

Dreiunddreißig – diese Zahl schreckt Sofia, trug sie doch vor der Geburt Annas Hosen in Größe achtundzwanzig, Sofia und ihr eigenes Bild im Spiegel: das sind zwei verschiedene Personen, die noch nicht zur Deckung gekommen sind, in diesem Sinne ist Sofia ver-rückt in dieser Welt… neben dem „Vater“ Frank ist Flox als Partner von Sofia und Annas Vater der zweite Mann in dieser Geschichte, er sieht die Welt gelassener, akzeptiert die Krankheit ihrer Tochter als etwas, mit dem man leben muss und die einem, bei allem Schrecken, nicht nur in die Angst treiben darf. Mit einer ähnlich liebevollen Ironie geht er auch auf die Sonderlichkeit von Anastasia ein, einer Frau, die Tolstoi verehrt (und natürlich gelesen hat und ihre Tochter nach seiner Frau benannte) und die jetzt mit Begeisterung Panini-Bilder sammelt….

Woody Allen würde meine Listen mögen.

 Halt und Ruhe findet Sofia von Kindesbeinen auf, indem sie ihre Umwelt ordnet, zuordnet, strukturiert: sie fixiert sie in Listen: „… Die Listen geben mir Kraft und Ruhe wie anderen das Gebet, Alkohol, Drogen, ein Therapeut, die Zigaretten und das Shoppen. …“ Eine seltsame Methode, mit der sie in ihrer Umgebung auffällt (im Krankenhaus wird sie den anderen Müttern vorgestellt als die Mama, die immer am Schreiben ist…), die als krank empfunden und eines (erfolglosen) Besuches beim Therapeuten für notwendig erachtet wird. Flox hat sich mittlerweile damit arrangiert, milde Ironie, die ihm hin und wieder entfährt.

Jedenfalls findet Sofia beim Ausräumen der Wohnung ihrer Oma – versteckt ganz hinten im Schrank – eine alte Schatulle und in dieser Schatulle befinden sich alte Zettel, beschrieben mit kyrillischen Buchstaben, ganz eindeutig sind es Listen, Aufzählungen, wie sie sie schreibt, anlegt und pflegt…. aber von wem? Die Mutter behauptet, sie wüsste es nicht, könne es sich nicht erklären, auch zum Namen „Grischa“ sagt sie nichts, Grischa, diesen Namen stammelte die Großmutter, als sie in einem Moment relativer Klarheit seinerzeit den schwangeren Bauch Sofia erkannte, hoffentlich kein Grischa, hoffentlich ein Grischa….

Womit wir beim zweiten Handlungstrang wären, der uns als Leser zurück versetzt in die Epoche der UdSSR kurz nach dem zweiten Weltkrieg, als Grischa geboren wurde. Er ist das mittlere von drei Kindern, ein älterer Bruder und eine jüngere Schwester, aber er ist ein besonderes Kind. Er hat Fantasie, heckt Streiche aus, ist unangepasst, unerschrocken, Angst ist ihm weitgehend fremd, er eckt an, kann mitreissen, verführen…. Talent hat er zum Malen, später auch zum Fotografieren…. Er ist der Liebling seiner Mutter (obwohl der das selbst so nicht empfindet) und das Sorgenkind, nie weiß die Mutter, was er jetzt wieder im Sinn hat und sich ausdenkt… später, als junger Mann wird er hören, daß er geliebt wird aber trotzdem alle Angst vor ihm haben, daß er alle ins Unglück reisst, daß für ihn nur er selbst zählt, er keine Rücksicht nimmt. Die Schwägerin und der Bruder fliehen sogar vor ihm in die weit entfernte Heimatstadt der Schwägerin, nachdem der Vater gestorben ist.

Der schönste Tag in seinem Leben…. ist der Tag, an dem er sich heimlich an den Zug nach Peredelkino schleicht und zum Begräbnis Pasternaks fährt. Er muss sich älter machen als er ist, um nicht aufzufallen, nimmt unter fadenscheinigen Begründungen die Einlegesohlen der Mutter, mopst dem Bruder ein Jacket und macht sich auf den Weg. Wie viele Menschen trifft der Junge dort, Intellektuelle, Dichter, Poeten, politisch Interessierte… und Grischa, der Filou, der aus Büchern zitieren kann, von denen er nur den Titel kennt (wenn überhaupt), beeindruckt, er wird gefragt, ob er nicht hin und wieder auch für Zeitschriften schreiben könne, die im Untergrund erscheinen….

Orte, an denen ich Sergej treffen könnte

  • unter der Brücke
  • lichtes Stück im Wald
  • am Fluss (abends?)
  • bei mir (tagsüber, wenn auch Nikolaj Petrowitsch schon gegangen ist)
  • bei ihm, wenn seine Großmutter nicht da ist
  • abends auf dem Spielplatz hinter der Schule
  • ………

Oberziel: Sergej erobern (???)
Unterziel: Sergej zeigen, daß man keine Angst zu haben braucht.
…….

Grischas Sehnsucht nach Sergej, der in der Gruppe mitmacht, erfüllt sich nicht. Nach einem hoffnungsvollen Anfang läßt Sergej ihn abblitzen…. und doch sollte Sergej noch einmal sehr wichtig werden für Grischa: als nämlich seine Großmutter nicht mehr zu Hause leben kann und in ein Heim muss, schleicht Sergej sich (Besuche sind nicht erwünscht, Geschenke landen beim Personal) heimlich in das Heim und nimmt eines Tages Grischa mit in dieses Haus, das die Hölle ist. Und hier findet Grischa, der mit seinem wachen Geist all die Widersprüche und Lügen des Systems natürlich kennt und dem die Untätigkeit der Gruppe auf den Geist geht, sein Thema: mit Fotos dieses real existierenden Elends will er die Welt aufrütteln und der Deutsche soll die Bilder rausbringen aus der UdSSR, um sie im richtigen Deutschland zu veröffentlichen.

Er wird verraten, viele werden verhaftet, Sascha, seine rechte Hand der Mann seiner Schwester, Sergej natürlich auch, er soll sie nie wieder sehen (soweit man weiß). Der einzige, den er im Gerichtssaal erkennt, ist Frank… Als Anführer einer Dissidentengruppe wird er zu Straflager, Perm-36, verurteilt. Ein verlängertes Todesurteil. Aber es ist ihm lieber als die Psychiatrie.

Die Operation Annas rückt immer näher.. in einer der Nächte ein Anruf aus dem Heim: die Großmutter ist ausgerissen, nicht zu finden für viele Stunden… als sie dann gefunden wird, ist sie unterkühlt, verletzt, in schlechtem Zustand, ob man noch was machen kann – die Ärzte wissen es nicht, auch nicht, ob es lohnt. Wieder Nächte, in denen Mutter und Tochter im Krankenhaus sitzen, nebeneinander, doch in dieser Nacht, in der die Oma sterben sollte, fängt die Mutter an, zu erzählen, von ihrem Bruder, von Grischa, ihrem Onkel, von dem sie bis vor ein paar Tagen nichts wusste…


Lena Gorelik auf der Leipziger Buchmesse 2012 Bildquelle [1]
Lena Gorelik auf der Leipziger Buchmesse 2012
Bildquelle [1]
Goreliks Sprache ist nüchtern, fast emotionslos, aber nicht kalt. Mit klarem Blick und klaren Worten erfasst sie die Situation einer Frau, die unsicher und verstört ist, der Unglück widerfahren ist und deren Welt dadurch aus den Fugen geraten ist. Es hat sich Wut in ihr angestaut, Zorn und Ärger und Angst und ihre Listen sind seit je her das probate Mittel der Zähmung dieser Gefühle. Die Listen sind ihr Schutzschirm vor der Welt, der sie aber auch lähmt: als Anna bei einem Strandurlaub ausbüxt und Flox sie wie ein Wahnsinniger sucht, kann sie nur dasitzen und eine Liste anlegen über die Menschen, die helfen, Anna zu finden…

In Grischa, ihrem bis dato unbekannten, aus der Familiengeschichte gelöschtem Onkel findet sie einen Geistesverwandten, einen Menschen, der seine Umwelt und sich in ähnlicher Weise geordnet und strukturiert hat, damit ist sie nicht mehr das alleinige seltsame Wesen der Familie, in der Schweigen, Verschweigen eine wesentliche Komponente der Nicht-Kommunikation ist, ein Erbe aus den Zeiten der Repression in der UdSSR. Grischa Schicksal ist ein notwendigerweise gescheitertes Leben in einem Staat, der solche Leben: selbstbestimmt, kreativ, homosexuell nicht vorsah…. Gorelik wird wissen, wovon sie schreibt, sie ist selbst _ 1981 in Leningrad geboren – mit ihrer Familie 1992 nach Deutschland gekommen.

Aus zwei Leben wird parallel geschildert, die neun Tage aus Sofias Leben bis zur Operation der Tochter und das Leben des unbekannten Erzählonkels Grischa. Die Autoren verwebt dieses Leben durch sich abwechselnde Kapitel, sie unterscheidet sie auch durch typographische Merkmale: es sind – trotz der Analogie der Listenschreiberei – unterschiedliche Leben, durch die Randbedingen kaum zu vergleichende. Und doch: das Leben der Familie in der UdSSR wirkt nach auch in München, die Schweigsamkeit, das Verheimlichen, der Sammeltrieb: alles so eingeübte, einverleibte Verhaltensweisen, die Jahrzehnte überdauern, auch in Verhältnissen, in denen sie ihren Sinn weitgehend verloren haben. Dieses alte Leben hängt an Sofia wie ein Anker, der sie nicht freigibt.


„Die Listensammlerin“ ist ein wunderbar gelungener Versuch, die Geschichte einer Familie, die an ihrer Vergangenheit leidet, in all ihren Widersprüchlichkeiten zu rekonstruieren. Der Roman ist ernst, melancholisch, teilweise traurig, aber auch voller leisem, sensiblem Humor, wenn z.B. Grischas Streiche und Eigenheiten beschrieben werden. Goreliks Text ist ein einfühlsames Buch über Menschen, wie sie sind und wie sie scheitern, wenn sie nicht so sein dürfen…

Bildquelle: (im Wiki-Artikel über Lena Goreli) By Blaues Sofa [CC-BY-2.0 (http://creativecommons.org/licenses/by/2.0)%5D, via Wikimedia Commons

Mehr von Lena Gorelik auf aus.gelesen: Lena Gorelik: Lieber Mischa: … Du bist ein Jude., https://radiergummi.wordpress.com/2011/10/10/lena-gorelik-lieber-mischa-du-bist-ein-jude/

Lena Gorelik
Die Listensammlerin
diese Ausgabe: Rowohlt, HC, 352 S., 2013

9 Kommentare zu „Lena Gorelik: Die Listensammlerin

  1. Danke für die interessante Rezension. Ich habe mir gestern „Lieber Mischa…“ bestellt, von dem ja auch viele sehr begeistert waren und bin auch schon sehr gespannt. Dieses hier klingt aber ebenfalls ganz nach meinem Geschmack.

    Sehr empfehlenswert finde ich ihr Buch „Sie können aber gut Deutsch!“, in dem sie sich mit ihrer eigenen Migration und der Integrationsdebatte auseinandersetzt.

    Liebe Grüße und einen schönen Sonntag wünsche ich! :)

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    1. liebe vonsamstag,

      herzlichen dank für deinen besuch. den „mischa…“, den du dir bestellt hast, habe ich ja auch hier schon vorgestellt, du hast den link sicher gesehen. das von dir erwähnte „sie können aber…“ ist mir auch aufgefallen, weil sie an einer stelle ja auch in diesem buch unmut zeigt, daß die leute nämlich immer sagen, aus russland, wo es doch die udssr war, aus der die (roman)familie kam….diese ungenauigkeiten und das unangebrachte erstaunen nimmt sie wohl als zeichen von arroganz.
      obwohl ich zumindest bei der sprache ein erstaunen zulassen würde, das findet man schließlich auch anders…..
      lg und viel spaß mit micha

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  2. Zufällig lese ich genau dieses Buch auch gerade, habe aber aber noch gut über die Hälfte vor mir. Mir gefällt besonders der unterschwellige Witz, der an mancher Stelle durchkommt, obwohl oft, wie du deutlich gemacht hast, sehr ernste Themen angesprochen werden, die die Generationen überdauern und sich auswirken, auch Jahre später noch.
    Vielen Dank für dein toll zu lesende und sehr informative Rezension. Über dein Fazit freue ich mich besonders, denn es lässt mich beruhigt weiterlesen und bestätigt den Eindruck, den ich bisher von diesem Buch hatte :)
    Viele liebe Grüße und einen schönen Lesesonntag!

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      1. Ja, das erste Mal bin ich 2011 auf sie aufmerksam geworden. Ich war in Leipzig in der Moritz Bastei, um Clemens J. Setz zu hören. Davor hat sie aus „Lieber Mischa“ gelesen und das war wirklich klasse!
        Ganz vielen Dank :)

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