Anne Cuneo: Eine Messerspitze Blau

Zu diesem Titel der mir bis dahin unbekannten schweizerischen Autorin Anne Cuneo (1936 – 2015) bin ich durch einen Zufall gekommen: in dem hier im Blog von mir kürzlich vorgestellten Erzählband Geburtstag (Rafik Schami (Hrsg): https://radiergummi.wordpress.com/2018/05/21/rafik-schami-hrsg-geburtstag/) gibt es eine Geschichte, in der eine Frau gerade diesen Titel Eine Messerspitze Blau liest. … und da dachte ich mir, was die kann, kann ich doch auch… ;-)

Anne Cuneo jedenfalls war eine vielseitige Künstlerin. Als Kind italienischer Eltern in Paris geboren, kam sie nach dem Tod des Vaters 1945 (die Familie war 1939, nach Kriegsausbruch wieder nach Italien, nach Mailand, gezogen) in verschiedene Waisenhäuser (interessanterweise wird über das Schicksal ihrer Mutter nichts gesagt, über den Tod des Vaters schreibt Cuneo an einer Stelle im Text: Ich trage jenen Revolverschuss in mir, der meinen Vater bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt hat und mit Endgültigkeit im Angesicht meiner Kindheit explodiert ist.). 1950 ging Cuneo in das französisch sprechende Lausanne, verbrachte später einige Zeit in London, gab nach Abschluss des Studiums Sprachunterricht und arbeitete ab 1973 beim Schweizer Fernsehen. Ihr erstes Buch erschien schon 1967, außer als Autorin arbeitete sie ebenfalls als Journalistin und Filmemacherin (https://de.wikipedia.org/wiki/Anne_Cuneo, aber auch z.B. hier: https://www.limmatverlag.ch/autoren/autor/479-anne-cuneo.html)


Der vorliegende Text Eine Messerspitze Blau ist autobiographisch, er schildert ein sehr einschneidendes Erlebnis im Leben der Autorin: 1978, sie war 42 Jahre alt, wurde bei Anne Cuneo Brustkrebs diagnostiziert. Es war knapp… nachdem die Gynäkologin sie ob ihrer Beschwerden in der rechten Brust (wages Unwohlsein, Anschwellen, dann Schmerzen) damit vertröstete (Machen Sie sich keine Sorgen, es ist nichts), Menschen wären nicht symmetrisch und ihre (i.e. Cuneos) Brüste seinen nun mal ungleich, fiel dem Hausarzt bei der Untersuchung auf, daß sie einen dicken Knoten unter der Achsel hatte und so empfahl er ihr eine Biopsie. Aber wo und von wem? Ich bin total erledigt. Ich bin müde, als ob ich Krebs hätte, so ihre Vorahnung.Eine Autopsie bedeutete auch, daß eventuell die Brust angenommen werden würde, eine Horrorvorstellung für Cuneo. Diese Diagnose erschütterte sowohl ihr Weltbild als auch ihr Selbstverständnis als Frau. Es gab Momente, in denen der Tod ihr lieber gewesen wäre. Schließlich sagte man ihr, daß eine Rekonstruktion der Brust möglich ist, ein kleiner Hoffnungsschimmer.

Der Biopsiebefund war positiv, die anschließende Mastektomie an der Grenze des Machbaren. Cuneo erwachte aus ihrer Narkose und nichts war mehr so wie vorher. Und die Frage, ob ihr Geliebter sie jetzt noch als Frau, als Geliebte sehen würde, war nicht das geringste ihrer Probleme…


Eine Messerspitze Blau ist ein sehr persönliches Buch, eine Krankengeschichte bzw. eher noch die Geschichte der postoperativen Phase einer Frau nach einer Mastektomie (z.B. hier: https://www.krebsgesellschaft.de/onko-internetportal/basis-informationen-krebs/krebsarten/brustkrebs/therapie/operation.html). Dieser Bericht ist 1979 erschienen, also ein Jahr nach der Operation, das Schreiben erfolgte noch unter der direkten Nachwirkung der Behandlungen, nach der Operation folgten noch Bestrahlung und Chemotherapie. Ich habe mich gewundert, daß über die bekannte Suchmaschine keine Besprechung dieses Buches zu finden ist (ok, ich habe nicht allzu intensiv gesucht, aber trotzdem), denn der Bericht Cuneos ist sehr intensiv, ist sehr offen, ist sehr umfassend in dem Sinn, daß sie nicht nur ihre persönliche Situation und Befindlichkeit beschreibt, sondern sie diese in einen größeren, politischen Zusammenhang steht. Mithin wäre dieses Buch seinerzeit mehr als eine Besprechung wert gewesen, aber auch wenn man davon absieht, daß das Internet damals gerade erst im Urzustand existierte, passt dieses Fehlen in eine der Feststellungen Cuneos, daß nämlich der Krebs, diese Krankheit, totgeschwiegen wird (wurde), als schuldhaft empfunden wurde, als etwas, wofür der/die Kranke selbst (mit)verantwortlich war. Man wollte über Krebs nichts hören oder lesen (eine „Verschwörung des Schweigens“ nennt sie es an einer Stelle) und daher blieben dieser Aufschrei Cuneos zumindest unkommentiert.

Cuneo schreibt sehr direkt (sie formuliert es selbst als „Schrei“, den sie ausstößt), es ist für sie – und generell – noch lange nicht klar, wie lange sie nach/trotz der Operation noch leben wird, das Risiko, x Jahre (und x ist klein) nach der Operation zu sterben, ist hoch. So fühlt sie sich unter Druck stehend, ihre Botschaft zu formulieren und ihre Gedanken zu Papier zu bringen: An anderen Tagen sage ich mir, daß ich nicht mehr viel Zeit habe, daß ich dieses Buch sehr schnell fertig stellen müsse. …

Es ist eine politische Botschaft in ihrem Text enthalten. Krebs erscheint ihr als Krankheit, die auch durch äußere Umstände verursacht ist, dabei scheut sie sich nicht, hin und wieder Korrelationen als Kausalitäten zu deuten. Die Lieblosigkeit, die sie in ihrer Kindheit und Jugend erfahren hat, die Ausbeutung des Menschen und der Natur durch die Gesellschaft und das kapitalistische Gesellschaftssystem, die Unterdrückung der Frau: all dies Ursachen des Krebses auch des einzelnen Menschen. In diesem Zusammenhang sind ihr zwei Bücher wichtig: Mars von Fritz Zorn (vgl. z.B. hier: http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-40916988.html) und der 1978 erschiene Essay Susan Sontags: Die Krankheit als Metapher (vgl. z.B. hier: ). [Zorn] sah in seinem [Krebs] das Resultat einer Erziehung ohne Liebe, ohne andere Werte als die der Konventionen, die er nicht akzeptieren konnte. Sein Krebs war im Hals ausgebrochen und er fand das bezeichnend: „Das sind all die Tränen, die ich hinunter geschluckt habe.„. In Sontags Essay spiegelt sich die damals in den USA aufkommende Auffassung, die Erkrankung spiegele die Unfähigkeit des Kranken, Gefühle auszudrücken und auszuleben, und in letzter Konsequenz diese „Unfähigkeit“ sogar Ursache für die Krankheit sein. In dieser Sicht wäre Krebs letztlich selbst verschuldet. (nach: https://de.wikipedia.org/wiki/Krankheit_als_Metapher), einer Ansicht, der Cuneo teilweise heftig widerspricht: Diese Welt jedoch, die mich ängstlich gemacht und mich in den entscheidenden Jahren des Wachstums hat hungern lassen, diese Welt, die jedes Jahr vierhundert Milliarden Dollar für Rüstung ausgibt, während die Kredite für Spitäler und Forschung gekürzt werden, diese Welt, IHRE [i.e. Sontags] Welt ist dafür verantwortlich. Jede zweite Person erkrankt an Krebs. Jede zweite! … Bis jetzt fühlte ich mich fast schuldig, krank zu sein. Oder an anderer Stelle, nachdem ihr angeraten wurde, die Eierstockzyste (siehe unten) zu operieren: Aber es ist IHRE Krankheit, nicht meine. Genug jetzt mit dieser Verschwörung des Schweigens. Man hat Krebs und schämt sich, wortlos läßt man sich durch die Mühle drehen. Nun, ihr könnt nicht mehr mit mir rechnen! Ich werde mich nicht einfach so operieren lassen. Ich werde sagen, daß Krebs das Resultat einer faulen Gesellschaft ist. Eine von zwei Personen! Die Revolution muss doch stattfinden, sofort!

Cuneo wird durch ihre Erkrankung unmittelbar mit dem Tod konfrontiert, einen Gedanken, der bis dato immer verdrängt worden ist. Der Tod wird ihr Begleiter – aber auch die Angst. Jedes Zucken und Ziepen des (sowieso schmerzgeplagten) Körpers könnte ein Zeichen sein für ein erneutes Ausbrechen des Krebses, für eine Metastase. Und wirklich diagnostiziert der Gynäkologe eine Zyste an einem Eierstock, der durch die Bestrahlung nicht völlig abgetötet worden ist. Die angeratene OP ist ein Graus für sie, wieder soll sie ein Stück ihres Körpers weggeben, fremdbestimmt durch den Arzt. Sie verweigert sich, bricht zusammen, muss psychologische Hilfe in Anspruch nehmen.


Die Autorin schildert viele der Träume, die sie hat oder auch in der Vergangenheit hatte und die sie jetzt in Bezug auf ihre neue Lebenssituation ausdeutet: Heute bin ich überzeugt, daß damals, auf den Tag genau sechzehn Wochen vor meiner Operation, soeben die Entwicklung meines Krebses eingesetzt hatte (oder einzusetzen im Begriff war), daß mein Unterbewusstsein es wusste [daher der Traum], daß es sich ein Stück dagegen wehrte…. oder diese Bedeutung, die sie in einen weiterer Traum nach der Krebs-OP hineinliest: Jetzt habe ich keine Zeit mehr. Ich muss mich wieder in den Griff bekommen, und dieser Traum drückt aus, wie notwendig das ist. Was von mir übrigbleibt, muss ein GANZES sein. 

Die Aufzeichnungen Cuneos schließen mit einem kämpferischen Statement, mit einem Aufruf. Sie bezieht sich noch einmal auf Max Zorn, der geschrieben hatte: … komme ich nach prüfenden Vergleich zum Schluß, daß es mir, seit ich krank bin, viel besser geht als früher, bevor ich krank wurde. und stimmt dem aus vollem Herzen zu: Ich auch. … Es geht mir viel besser jetzt als während der vierzig Jahre, die ich mit Disziplin, Mühsal, Angst vor dem Tod und Angst vor dem Leben vertrödelt habe.  Wovor soll ich jetzt noch Angst haben? Ich stecke mitten drin in diesem hinterletzten, gottverdammten Dreckloch. Viel weiter in den Dreck reiten könnt ihr mich nicht. Der Tod? Ein Vertrauter. Wir sprechenden uns Tag für Tag. Hunger? Kälte? Strafe? Seht ihr, wie lächerlich das ist? Hier bin ich nicht mehr angreifbar. … Verändern wir die Welt. Und noch eine positive Veränderung merktr Cuneo an sich: sie ist sich ihrer selbst, ihres Körpers bewusster geworden, die Erkenntnis, daß der Tod sozusagen am Bettrand sitzt, hat sie zu der Einsicht gebracht, daß es sinnlos ist, auf die Zukunft zu warten, daß das Leben im Hier und Jetzt stattfindet.


Cuneos Aufzeichnungen unterscheiden sich sehr von den meisten Krebsschicksalen, die man in den letzten Jahren häufiger lesen kann. Sehr viel offensiver bezieht Cuneo die allgemeinen Lebensbedingungen mit in ihr Schicksal ein, wehrt sich [das Buch ist 1979 erschienen] gegen die gesellschaftliche Stigmatisierung, die dem Erkrankten auch noch die Verantwortung für seine Erkrankung aufbürdet, überträgt im Gegenteil den real existierenden gesellschaftlichen Verhältnissen diese Verantwortung und folgert daraus, daß diese sich ändern müssen. Gleichzeitig erkennt sie jedoch auch, daß diese Erkrankung ihr einen neuen Zugang zu sich selbst eröffnet hat: sie ist sich ihrer selbst bewusst geworden, ihrer gesellschaftlichen Rolle und Funktion, sie wurde mit ihrer Sterblichkeit konfrontiert (und ist es zum Zeitpunkt des Verfassens immer noch gewesen), sie nimmt sich anders wahr, sie fühlt sich in der Gesamtheit stärker geworden. Der Krebs war …. eine Bresche für die Zukunft. So gelingt es Cuneo, dieser destruktive Diagnose „Krebs“ etwas Positives abzugewinnen.

Eine Messerspitze Blau ist ein – wenig verwunderlich, auch hinsichtlich der zeitlichen Nähe zur Erkrankung – sehr emotionales Buch. Angst, Zorn, Wut, Empörung sind deutlich zu spüren, Unsicherheit, Ärger über die Fremdbestimmung, zaghafte Hoffnungsfunken, Depressionen, auch das Glücksgefühl, weiterhin geliebt zu werden, gibt es, schließlich so etwas wie Akzeptanz und Anerkennen, daß diese Erkrankung jetzt zum eigenen Ich gehört und das Denken klarer gemacht hat.

Der Bericht fungiert auf zwei Zeitebenen: zum einen schildert er in der Rückschau die Tage direkt um Diagnose und Operation, die andere Zeitschiene ist aktueller (bezogen auf das Schreiben des Textes) und schildert die Situation jeweils (der Bericht ist in drei Abschnitte unterteilt) wenige Monate nach der Operation. Eingeflochten in den Text sind auch Rückblicke auf die Vita der Autorin, die stark durch den Krieg geprägt ist. Es gibt eine Aussage, daß sie (und die anderen Frauen ihrer Generation) in einer Art Zwischenzeit geboren wurden: erzogen noch im „viktorianischen“ Geist waren sie 1968 schon zu alt, und erlebten die Umbrüche dieser Revolte eher am Rande mit. Ein nicht uninteressanter Aspekt ist es für uns heutzutage, diesen Wandel im „Ansehen“ des Krebses von einer Krankheit, für die man selbst Schuld trägt, zu einer normalen, wenn auch tragischen Krankheit, die jeden erwischen kann. Mich jedenfalls hat dieser Bericht (möglicherweise einer der ersten Krankengeschichten dieser Art) ob seiner Emotionalität, seiner Unbedingtheit und seiner kämpferischen Seite sehr beeindruckt, er ist auch heute, nach ziemlich genau vier Jahrzehnten noch sehr lesenswert.

Anne Cuneo überlebte ihre Erkrankung um lange Jahre, in denen sie noch sehr produktiv war.

Mehr Buchbesprechungen von mir im Umkreis von Krankheit, Sterben, Tod und Trauer finden sich hier:
https://radiergummi.wordpress.com/category/krankheitsterbentodtrauer/

Anne Cuneo
Eine Messerspitze Blau
Übersetzt aus dem Französischen von Erich Liebi
Originalausgabe: Une cuillerée de bleu, Vevey, 1979
diese Ausgabe: Ullstein, TB (Reihe: Die Frau in der Gesellschaft), ca. 156 S., 1999
mit einem Nachwort von Susanne Alge

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