Klaus Schäfer: Vom Koma zum Hirntod

Der Autor dieses Fachbuches, Klaus Schäfer, hat einen bemerkenswerten Lebenslauf. Nach zwölf Jahren Bundeswehr studierte der 1959 Geborene katholische Theologie, trat dem Orden der Pallottiner bei und arbeitete von 1999 – 2014 als Klinikseelsorger, eine Tätigkeit, die er – nach einem lesenswerten Bericht über ihn in der Stuttgarter Zeitung – Ende des Jahres wieder aufnehmen wird [1].

Das große Engagement Schäfers gilt der Organspende und damit auch dem Konzept des Hirntodes, dessen Feststellung beim Spender unabdingbare Voraussetzung für eine Organspende ist. Es sei  schon hier – weil man dieser unzutreffenden Behauptung immer wieder begegnet – das wichtige Faktum festgehalten, daß das Konzept vom Hirntod als Todeskriterium des Menschen nicht entwickelt worden ist, um Organspende zu ermöglichen, sondern um bei Komapatienten ein eindeutiges Todeskriterium zu haben. In diesem Zusammenhang ist allerdings die Stellungnahme diverser Fachgesellschaften aus dem Jahr 2014, die Schäfer punktweise zusammengefasst anführt, etwas irritierend: Die Feststellung des Hirntods wird vor dem Hintergrund einer eventuellen Transplantation durchgeführt. Zumal zu diesem Zeitpunkt der Organspendeskandal von 2012 noch nicht vergessen war und sich die Stellungnahme der Fachgesellschaften von 1994 wesentlich deutlicher positionierte: Es gibt nur einen Tod, den Hirntod. …. Der Tod wird unabhängig davon festgestellt, ob eine anschließende Organentnahme möglich ist.

Schäfer geht in seinem Buch ausführlich auf die geschichtliche Entwicklung des Konzepts ein. Das Hirntodkonzept ist eng mit dem Bild des Menschen, dem Bild, das wir uns vom Menschen machen, verbunden. Über Jahrtausende hinweg galt das Herz als zentrales Organ des Menschen, in dem das ‚Menschsein‘ verortet ist. Noch heute klingt dies in Redewendungen wie ‚jemanden ins Herz schließen‘ an, auch die ‚herzlichen Grüße‘, mit denen Nachrichten häufig beendet werden, haben diese Geschichte noch in sich. Jedoch gab es auch schon frühe Beobachtungen, die zu dem Schluss führten, daß wesentliche Aspekte des Menschseins über das Gehirn gesteuert werden. Der ‚Tanz der Gehängten‘ (oder nach Rimbaud: ‚Der Ball der Gehängten‘) zeigte andererseits, daß der Körper eines Menschen auch nach dessen Tod noch Reaktionen zeigen konnte, ein Phänomen, das jeder, der schon mal Hühner geschlachtet hat (oder dabei gewesen ist) wohl kennt.

Der Herztod ist der Tod des Körpers.
Der Hirntod ist der Tod des Menschen.

Klaus Schäfer geht ausführlich auf diese Punkte ein und macht – zum Teil drastisch – deutlich, daß wir heute die Persönlichkeit eines Menschen im Gehirn verorten müssen, weil hier das Bewusstsein, die  Gefühle, die kognitiven Fähigkeiten, die Wahrnehmung u.a.m. ablaufen. Daraus folgt eindeutig und unbezweifelbar, daß mit dem Tod des Gehirns auch die Einheit Körper/Seele (theologisch gesehen) bzw. Körper/Geist aufgebrochen ist. Viele Körperfunktionen können andererseits bei künstlicher Beatmung aufrecht erhalten werden. Der Komapatient, bei dem der Hirntod festgestellt und der damit als Toter erkannt worden ist, weist daher oberflächlich betrachtet Eigenschaften eines lebenden Körpers auf, dies macht das Akzeptieren des Hirntodes als Todeskriterium psychologisch oftmals schwierig: das Herz schlägt, er atmet (wenngleich die Atmung auch maschinell aufrecht erhalten wird), der Körper ist warm, der Stoffwechsel funktioniert, durch Reize können Reflexe hervorgerufen werden u.a.m.

Das Konzept des Hirntodes greift nur bei Komapatienten. Daher geht Schäfer auch auf dieses Phänomen ausführlich ein, ebenso charakterisiert er andere Krankheiten, bei denen der Patient möglicherweise einen komaartigenEindruck erweckt, weil er sich nicht mehr bewegen und/oder kommunizieren kann: Lock-in Syndrom, apallisches Syndrom, Stupor u.ä. Wichtig ist daher die penible Untersuchung des Patienten: nach einem im Lauf der Jahre immer wieder überarbeiteten Untersuchungsschema wird nach strengen Kriterien auf einen möglicherweise eingetretenen Hirntod untersucht (Hirntoddiagnostik, HTD). Der Hirntod ist ein ‚unsichtbarer‘ Tod, der offizielle Todeszeitpunkt ist der der Feststellung des Hirntodes. Wann das Gehirn tatsächlich seine Tätigkeit eingestellt hat, ist nicht feststellbar, ein Komapatient und ein Hirntoter unterscheiden sich äußerlich nicht. Ausführlich beschreibt Schäfer die Vorgänge im Hirn, die letztlich zu seinem Tod führen können/werden.

Nach der Feststellung des Hirntodes kann, soweit die Erlaubnis zur Organspende vorliegt, die künstliche Beatmung weitergeführt werden und eine Behandlung unter der jetzt geltenden Prämisse, Spenderorgane im bestmöglichem Zustand entnehmen zu können, erfolgen. Psychologisch kann dies für das Pflegepersonal problematisch sein, da jetzt plötzlich ein Toter zu betreuen und zu pflegen ist. Schäfer betont ein ums andere Mal, wie wichtig es ist, daß das Team, das sich um einen Hirntoten kümmert, das Konzept des Hirntodes verinnerlicht hat und es glaubwürdig auch gegenüber Hinterbliebenen vertritt. Schon ein leise anklingender Zweifel durch ein Teammitglied kann deren Vertrauen in das Team nachhaltig und kaum wiederherstellbar zerstören. Im Teil IV: Kommunikation und Seelsorge gibt Schäfer eine Vielzahl von Ratsschlägen und Beispielen für gelungene oder auch misslungene Kommunikation mit Patienten bzw. Hinterbliebenen.

Ausführlich geht Schäfer ebenfalls auf Argumente von Kritikern des Konzepts ein, immer wieder geht ja durch die Presse, daß vorgeblich Hirntote wieder ins Leben zurückgefunden hätten oder doch noch Schmerz empfinden könnten bzw. Reste von Bewusstsein aufwiesen. Letztlich lassen sich diese Meldungen auf drei zugrunde liegende Tatsachen zurückführen: (i) in anderen Staaten wird der Hirntod nicht wie in D/A/CH als totaler Funktionsausfall des Gesamthirn (i.e. Groß-, Klein und Stammhirn), sondern als Tod nur des Stammhirns definiert (z.B. in den USA). Bei letzterer Definition sind Restaktivitäten z.B. des Großhirns prinzipiell möglich. (ii) es wurde keine oder keine korrekte Hirntoddiagnostik (HTD) durchgeführt und (iii) werden in der Kommunikation durch Medien und Gegner des Hirntodkonzepts häufig Begriffe und die damit verbundenen Phänomene nicht streng getrennt, Komapatienten oder Apalliker beispielsweise als Hirntote bezeichnet.

Ein Komapatient wird auf Hirntod untersucht, wenn es Anzeichen gibt, daß das Gehirn ausgefallen ist und ein Hirntod vermutet wird. Wird der Hirntod festgestellt, kann die intensivmedizinische Behandlung eingestellt werden, es sei denn, die dann im Raum stehende Frage einer Organspende wird positiv beantwortet. Dann wird die künstliche Beatmung des toten Spenders bis zur Organentnahme aufrecht erhalten. Es ist daher konsequent, wenn Schäfer in seinem Buch dem Thema Organ- und Gewebespende einen breiten Raum einräumt und in allen Aspekten diskutiert. Fakt ist, daß durch einen Organspender im Schnitt bei drei Empfängern Lebenszeit und/oder -qualität deutlich erhöht bzw. verbessert werden können, Fakt ist aber auch, daß es an Spenderorganen mangelt und viele Menschen sterben, bevor man ein Ersatzorgan zur Implantation bereit steht.

Selten tritt der Fall auf, daß bei einer schwangerer Frau der Hirntod diagnostiziert wird; es muss daher/jedoch jede hirntote Frau im gebärfähigen Alter auf eine mögliche Schwangerschaft untersucht werden. Wird diese festgestellt, wird – soweit im Bereich des Möglichen – versucht, die Körperfunktionen der Hirntoten aufrecht zu erhalten, um den Fötus im Mutterleib bis zur Geburt reifen zu lassen. Das Aufrechterhalten der Körperfunktionen wird jedoch um so schwieriger, je länger es durchgeführt werden muss. Auch dieser Fall mit dem Ziel, ein gesundes, entwickeltes Baby auf die Welt zu bringen, wird von Schäfer ausführlich beleuchtet.

Abgerundet wird das Buch durch einen Anhang mit nützlichen Infos (Adresslisten, Ansprechpartner etc.) sowie kurzgefassten Erklärungen und einem Glossar.


In einer Erklärung medizinischer Fachgesellschaften wird 2015 gefordert, daß die Bevölkerung … stärker über den Hirntod aufgeklärt werden [muss]. In diesem Sinne sieht der Autor Klaus Schäfer sein Fachbuch als geeignet an nicht nur für Profis (unter diesen Begriff subsummiert Schäfer alle von Berufs wegen mit der Problemtik Koma/Hirntod/Organspende Konfrontierten), sondern ebenso für Laien [3]. Unter dieser Prämisse ist das Buch letztlich auch auf meinen Schreibtisch gelandet ebenso wie konsequenterweise diese Buchvorstellung gleichfalls aus der Sicht eines interessierten Laien erfolgt. Ich kann der Meinung des Autoren insoweit zustimmen, als daß die Kernaussagen auch für Laien klar erkennbar und in der Begründung nachvollziehbar sind. Die medizinischen Details, die Schäfer in den ersten Abschnitten ausbreitet, sind – nehme ich mich pars pro toto – für den Laien wohl nicht im Detail verständlich, allein die Fachterminologie, deren sich der Autor bedient, ist da ein großes Hindernis. Will Schäfer sein Buch also auch ausserhalb der Fachwelt verbreiten, wären an dieser Stelle sicherlich zielgruppenorientiert Verbesserungen möglich, die den Text verständlicher machen. Zumal Schäfers Sprache knapp und entschieden ist, ebenso wie er konsequent Kürzel nutzt und einer Herztransplantation bei ihm eben eine Herz-TX ist, weil er durchgängig diesen Term „TX“ für Transplantation verwendet.

Überhaupt die Sprache. Zu Recht besteht Schäfer auf eine korrekte Terminologie, die beispielsweise bei allen Aussagen, die sich auf einen Hirntoten beziehen, berücksichtigen, daß sie sich auf einen Toten beziehen, nicht auf einen lebenden Menschen. Wie schwer dies konsequent zu praktizieren ist, zeigt der Autor selbst an ein, zwei Stellen: … Das ist die einzige Möglichkeit der Sterbebegleitung, die man Hirntoten angedeihen lassen kann. …. [S. 132]. Wie entschieden Schäfer teilweise urteilt, erkennt man, wenn er ohne Wenn und Aber konstatiert: Solange wir unseren Schriftverkehr „Mit herzlichen Grüßen“ beenden, bleiben wir Gefangene. [….der Sprichwörter und Redewendungen, die nach naturwissenschaftlich überholter Vorstellung Gefühle im Herzen verorten.]. Eine Aussage, die im Übrigen zum Widerspruch reizt, werden Redewendungen ja nicht nur über medizinische Fachaussagen definiert…

Auch an anderer Stelle tauchen beim Lesen Fragen auf, beispielsweise in Abb 21: Regionen der DSO. Auf der hier abgebildeten Deutschlandkarte vermisst man eine Legende,  die erklärt, was die drei unterschiedlichen Grautöne und die unterschiedlichen Symbole bei den Städten aussagen. Wobei in der Region NRW überhaupt keine Stadt genannt wird. Auf den benachbarten Seiten 126 und 127 wird zweimal dasselbe Zitat wiedergegeben. Das die Überschrift nicht immer zum Text passt, fällt ebenfalls auf: Unter dem Titel: Britischer Arzt will bei Organentnahme Narkose wird z.B. über die unterschiedliche Definition des Hirntods in verschiedenen Staaten berichtet [S. 114]. Interessant ist auch der Titel einer Dissertation aus dem Jahre 2014 mit dem Titel: Die Erlanger Fälle 1992 und 2007 (bei denen es jeweils um Schwangerschaften bei hirntoten Frauen ging; S.144), deren erste von Schäfer zitierte Stelle lautet: Zudem wurde in den 20 Jahren, die zwischen den beiden Fällen liegen, …


Hinter der Kernaussage, daß der Tod des Menschen, auch wenn sein Körper weiter funktioniert, über den Tod des Gehirns definiert ist, stehe ich selbst voll und ganz, ohne abzustreiten, daß wahrscheinlich auch ich in konkreten Fall Probleme hätte mit einer solchen Situation. Hier sind besonders die letzten Abschnitte des Buches, die sich auf die Kommunikation mit den Angehörigen bzw. Hinterbliebenen konzentrieren und auch sehr praxisbezogene Hilfen geben, wertvoll. Zwar sind sie aus der Sicht des Arztes geschrieben („Wie sag ich es meinem Gegenüber“), aber gerade dieser Perspektivwechsel bringt wichtige Erkenntnisse: daß nämlich auch der Arzt, vor allem aber nicht entsprechend geschultes Pflegepersonal seine Probleme hat, Informationen über den Gesundheitszustand bzw den möglicherweise eingetretenen Hirntod, der eine entsprechende Diagnostik nötig macht, zu kommunizieren.

Im Zusammenhang mit dem Hirntod gewinnt der Begriff der ‚Totenwürde‘ eine neue Bedeutung. Die unantastbare Würde des Menschen reicht über den Zeitpunkt seines Todes hinaus, Ärzte sind bei Organentnahmen verpflichtet, die Würde des toten Spenders zu wahren. Dies ebenso wie die Forderung, den Angehörigen bzw. den Hinterbliebenen ausreichend Zeit und Gelegenheit zu geben, in angemessener Form Abschied zu nehmen ist wichtig, ebenso wie das Angebot einer seelsorgerischen Begleitung.

Mein Facit zu Schäfers Buch Vom Koma zum Hirntod ist der vorstehend aufgeführten Beispiele wegen durchwachsen. Als Laie kann man die Kernaussagen und deren medizinische Grundlagen nachvollziehen, ohne jedoch die Details wirklich zu verstehen. Die Abschnitte über Kommunikation und Begleitung sind wertvoll, da sie in ihren Hilfen natürlich allgemein gelten und nicht nur für dieses spezielle Thema. Sollte das Buch in einer Neuauflage erscheinen, wäre eine Überarbeitung sicherlich sinnvoll, um es für Laien besser lesbar zu machen.

Links und Anmerkungen:

[1] Andreas Steidel: Es geht um Leben und Tod – Der Pallottiner-Pater Klaus und sein Engagement für die Organspende; in: Stuttgarter Zeitung vom 01. Juni 2017; http://www.stuttgarter-zeitung.de/….html
[2] Klaus Schäfer: Hirntodhttps://radiergummi.wordpress.com/2014/10/26/klaus-schafer-hirntod/
[3] Persönliche Mitteilung des Autoren vom 08.08.2017

ferner wird von Klaus Schäfer eine Informationsseite zum Thema „Organspende“ betrieben:  http://www.organspende-wiki.de/wiki/index.php/Hauptseite

Weitere Bücher zum Thema: Sterben, Tod, Trauer, die ich besprochen habe, sind hier aufgelistet:
http://mynfs.wordpress.com/autorenverzeichnis/

Klaus Schäfer
Vom Koma zum Hirntod
Pflege und Begleitung auf der Intensivstation
diese Ausgabe: Kohlhammer, Softcover, ca. 251 S., mit vielen Abb. und Tabellen, 2017

Ich danke dem Autoren für die Überlassung eines Leseexemplars.

Ein Kommentar zu „Klaus Schäfer: Vom Koma zum Hirntod

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