Judith Schalansky: Der Hals der Giraffe

giraffe cover

Inge Lohmark ist Lehrerin für Biologie und Sport, irgendwo in der vorpommerschen Provinz, die sich stärker noch als das gesamte Land dem Trend der Welt entgegenstellt: ihre Bevölkerung schmilzt dahin. Und so steht folgerichtig auch Inge Lohmarks Schule mangels Schülern vor dem Aus. Ihre neunte Klasse, die sie am „Darwin“ unterrichtet, wird die letzte sein, die an dieser Schule noch Abitur macht. Danach ist Schicht. Selbst in dieser Neunten sind es nur noch zwölf Kinder, die ihr keineswegs wie die Diamanten auf der Krone der Evolution vorkommen, war doch der Bevölkerungsmalaise wegen schon jedes halbwegs alphabetisierte Kind in den Gymnasiastenstand erhoben worden.

Schüler in diesem Alter waren für Lohmark Landwirbeltiere zwischen Kindheit und Adoleszenz, die im wesentlichen Pheromone, Talg und Schweiss absondern. Sich widerspruchslos der Trägheit ihres Zustandes hingeben. Gehirne wie Hohlorgane…. Apathisch , überfordert, ausschließlich mit sich selbst beschäftigt. Zum professionellen Verhältnis zwischen ihr und solchen Wesen gehörten keine Nähe und kein Verständnis. Das „Duzen“ der Schüler, wie es die Schwanneke betrieb, das Reden mit ihnen in den Pausen, die blondierten Strähnen – eine reine Schlüsselreizshow, würdelose Anbiederei. Nicht anzusehen. Sie waren doch nicht beim Frisör!

Inge Lohmark – das war kreidelastiger Frontalunterricht, das war Abschreiben von der Tafel, das waren Antworten in ganzen Sätzen, das waren Hausaufgaben, das war Antreten der Größe nach, das war Disziplin. Ein harter Knochen also, an vielen Schülergenerationen gestählt.

Aber Inge Lohmark hat auch ein privates Leben. Selbst wenn es so verkümmert ist wie ein Blinddarm. Verheiratet ist sie mit Wolfgang, einen ehemaligen Besamungstechniker, der jetzt Strauße züchtet. Man hat sich arrangiert. Das Leben eingerichtet. Ein Kind. Claudia. Seit vielen Jahren in den USA, einfach nicht mehr zurückgekommen, aus einem Jahr wurde ein Daueraufenthalt. Sie waren mal drüben, haben sie besucht. Amerika halt, alles so groß, so riesig. So anders.

Ein Kind, mehr konnte sie nicht bekommen. Der Unfall mit Hanfried (sie hatte einfach nicht mehr dran gedacht), das hatte sie damals abtreiben müssen. Wolfgang hat drei Kinder, zwei noch aus der ersten Ehe. Kein Kontakt zu ihnen. Er würde sie heute wohl nicht mehr erkennen.

Ordnung war nicht da.
Ordnung musste geschaffen werden.

Zuchtwahl. Stammbäume. Genetische Gesetze. Mendel. Entwicklung. Auslese. Stand für sie über allem. Unvorstellbare Jahrmilliarden Zeit, sich zu entwickeln. Die Schönheit der Quallen. Ihre bestechende Klarheit. Die entschlossene PrachtNichts ging über die Radialsymmetrie. Ihre Bilder auf dem Lohmark´schen Teil des Flurs. Was anderes als die sumpfig-brütende Atmosphäre der Bilder von der Schwanneke. Monet. Wasserpflanzen. Schimmelige Flecken auf fauligen Farben. Verwesende Süße und Modergeruch.

Die Schulbushaltestelle. Wartende Schüler, herumalbernd. Hackordnung, Hierarchien, die sich ausbilden. Undurchlässig. Zementiert. Ein Opfer haben sie gefunden, das sie ärgern können. Ellen haben sie im Schwitzkasten. Wirklich gefährlich sah es nicht aus. Jedenfalls wehrte sie sich noch. Inge Lohmark greift nicht ein. Das fehlte noch… Das Auto war nicht angesprungen, sie muss selbst mit dem Schulbus fahren. Durch blühende Landschaften. Andere als Kohl versprochen hatte: Unkraut und wild wucherndes Gestrüpp allenthalben. Evolution, Nischen werden besetzt. Ein paar Jahre noch und alles ist übergrünt und bewachsen.

Wieder mit dem Auto. Sie fordert Erika auf, einzusteigen. Stand an der Straße und wartete. „Sie schreiben jetzt viele Arbeiten, oder?“ Erika war erschrocken. Sie auch. Was war das denn? Was hatte sie gemacht? Bloß kein Wort mehr. Wegschauen. Raus. Aus dem Fenster. … Sie hatte nichts gesagt. Nichts verraten. Weiterfahren. … Wie die Schnecken sich paaren. Das dauert ewig. Die jungen klettern auf die Alten. Jung mit Alt. ... und später dann die Frage: Gibt es weibliche Pädophilie?

Kattner, der sich an seinem Wort zum Mittwoch berauscht. Es mit einem Pistolenschuss einläutet. Und dann folgen Parolen, wie es sie früher auch gab. Überall dasselbe. Dieser Kattner holt sie aus dem Unterricht. Das war das Ende. Andererseits: Woher sollte er was wissen? Ellen sitzt in seinem Zimmer. Verheult. Verhuscht. Ängstlich. Kattner staucht Lohmark zusammen. Seit Monaten würde Ellen gemobbt, drangsaliert, schikaniert. Ob sie nichts gemerkt habe? Was ist überhaupt in ihrer Klasse los?  Inge Lohmark hört zu, die Leistungen ihrer Klassen liegen immer über dem Durchschnitt. Die Gedanken schweifen ab. Sie sagt nichts. Mangelnde Sozialkompetenz. So geht es nicht weiter. Ich habe mich getäuscht. Verknöcherte Persönlichkeit. Aber jetzt hört der Spaß auf. Das wird Konsequenzen haben.


Drei Tage im Leben der Inge Lohmark, im Sommer, nach der Juniunruhe, ein Tag mit Novemberwetter und dann kurz vor Ostern, im März, korrespondierend mit den Abschnitten „Naturhaushalte“, „Vererbungsvorgänge“ und „Entwicklungsgänge“. Dabei ist es gerade Inge Lohmark, die stagniert. Bleibt man in den Kategorien der Biologie, könnte man eine Analogie zu Insekten ziehen: so wie diese weist die Protagonisten ein starres Exoskelett auf, das hart ist, das alles abprallen läßt – nur, daß bei Inge Lohmark das Innenleben weitgehend abgestorben ist. Die Ehe – als Ehe gescheitert genauso, wie sie als Mutter gescheitert ist. In einer der Schlüsselszenen des Romans, in der sich Lohmark daran erinnert, wie ihre eigene Tochter, die damals in ihrer Klasse als Schülerin war, sie in großer innerer Not vor die Wahl gestellt hat, neutrale Lehrerin zu sein oder fürsorgliche Mutter, entschied sich Lohmark für ihre Rolle als Lehrerin. Man war schließlich in der Schule und nicht zu Hause. War dies der Moment, an dem das Mutter-Tochter-Verhältnis einen unheilbaren Knacks bekam?

Inge Lohmarks Selbstverständnis wird an zwei Fronten angegriffen. Die Auflösung der Schule bedeutet für sie, ihren Daseinzweck zu verlieren, denn als Lehrerin auf eine andere Schule, in eine andere Schulform zu gehen, kommt nicht in Frage für sie. Und subtiler noch, verwirrender, ist die gefühlsmäßige Verwundbarkeit, die sie aufweist: die Schülerin Erika spricht etwas in ihr an, sie wird weich ihr gegenüber, die Distanz schrumpft. Ganz offensichtlich gibt es sogar eine erotische Dimension. Jung mit alt. Repetieren des Geschlechtslebens der Schnecken, eine Übersprungshandlung? Im Traum gibt es zarte Annäherung, im Klassenzimmer dagegen einen festen Blick Erikas und ein leises „Danke.“ Ansonsten: Sie würde es bestimmt keinem erzählen.Eine kleine Schwäche. Schluss jetzt. Ein für alle Mal.

Inge Lohmark ist als Erzieherin völlig ungeeignet. Sie ist Misanthropin durch und durch, sieht ihre Aufgabe einzig darin, den Kindern durch hohe Ansprüche Leistung abzugewinnen. Schüler sind für sie fleischgewordene Biologie, Proteinansammlungen, die den diversen biologischen Gesetzen und Regeln unterworfen sind. Die Schule als Arena für den Überlebenskampf. Mit der Schwanneke hat Schalansky einen Gegenentwurf etabliert, sie handelt genau anders: sie bietet den Schülern Freundschaft und Zuneigung, von Lohmark als Anbiederung gebrandmarkt. Zwei Alternativen gäbe es, so die Schwanneke, Schülern gegenüber: Abhauen oder Lieben. Und so wie sich die Schwanneke für das Lieben entschieden hat, hat sich Lohmark für das Abhauen im Sinne von Abgrenzen, Ausgrenzen entschieden. Aber beide, sowohl Lohmark als auch Schwanneke sind in ihrer jeweiligen Ansicht extrem.

Inge Lohmarks Lebensverständnis bewegt sich im Rahmen eines streng darwinistischen Weltbildes: Anpassung, Vererbung, Entwicklung. Das Leben als Kampf. Um so verwirrender ist der am Schluss des Romans von Schalansky geschilderte Restunterricht, den Lohmark ihren Schülern nach der Rückkehr aus der Besprechung mit Kattner gibt: der Hals der Giraffe. Das Paradebeispiel des Lamarckismus, der einstigen Konkurrenztheorie zu Darwin, die als wissenschaftliche Theorie mittlerweile obsolet ist. In der Mitte des Buches noch läßt Schalansky einen immer noch weitgehend linientreuen Kollegen, der im Lehrerzimmer von der russischen Biologie vergangener Zeiten schwadroniert (die z.b. im Sinne Lamarcks versuchte, z.B. Kälteresistenzen bei Weizen zu erzeugen, indem man das Saatgut in Kühlschränke legte) mit seiner Ansicht allein stehen, vertritt sie hier aber selbst in Reinform…. ist es Zufall, daß sich die Namen, Lohmark und Lamarck, so ähneln?

… und alle anderen, die sich nicht genug angestrengt haben,
die bleiben kurzhalsig und gehen jämmerlich zugrunde. ..


Der Hals der Giraffe wird als Bildungsroman bezeichnet, unverständlicherweise. Die drei Tage, über die der Roman berichtet, liegen zeitlich auseinander, trotzdem läßt sich keine Entwicklung feststellen und alles bleibt so, wie es ist. Der einzige zarte Ansatz einer Veränderung, die aufkeimende Sympathie für Erika, wird als gefährlich empfunden und dies wahrscheinlich zurecht, würde es doch das gesamte sorgsam konstruierte Weltbild zerstören, daß sich die Lohmark geschaffen hat. Konsequent unterdrückt sie also jedes positive Gefühl. Wie wenig die Protagonisten in der Gefühlswelt noch zuhause ist zeigt die fast schon Panik, die sie vor dieser aufkeimenden Sympathie hat, die sie in maßloser Übersteigerung als Pädophilie ansieht.

Was bleibt, sind knapp zweihundertzwanzig Seiten mit Ausführungen zur Vererbungslehre, die unterbrochen sind von den misanthropischen Gedankengängen der Protagonistin. Das habe ich gern gelesen, ich gebe es zu. Aber warum eigentlich? Im Grunde, weil hier jemand politisch absolut unkorrekt geschrieben hat: da gibt es Schüler, die zwanghafte Fellpflege betreiben, die dumm sind wie Konsumbrot oder (vermutlich) noch ganz benommen von den nächtlichen Pollutionen träge in die Welt schauen… Aussagen also, die man sich als politisch korrekter Mensch schon lange nicht mehr trauen würde. Wäre die Situation so gewesen, hätte Schalansky ihrer Protagonistin sicher auch das böse N-Wort nicht verwehrt. Man reagiert sich also beim Lesen ein wenig ab, der Text übernimmt eine Stellvertreterfunktion. Im Grunde also ein wenig literarisch aufgehübschter Stammtisch, dessen Parolen das Einfachere im Menschen bedienen….

Die Rezeption des Buches in der Kritik ist dagegen durchgängig gut bis sehr gut. Das fängt mit der Begeisterung für den altmodisch anmutenden Leineneinband an, geht über die eingestreuten Zeichnungen im Stil alter Biologiebücher bis hin natürlich zu Schalanskys Schreibstil und der Geschichte selbst. Schalansky schreibt „trocken“, lakonisch, manches ist witzig, bleibt aber auch hin und wieder im Hals stecken. da das Lachen meist auf Kosten der Schwächeren geht. Sie, Lohmark, die auf Antworten in ganzen Sätzen wert legt, wird in ihren Gedankengängen von Schalansky oftmals heruntergebrochen auf Dreiwortsätze, ja, häufig sogar auf Einwortsätze. Wie oben ausgeführt: ein wenig mehr Entwicklung und Fortschritt hätte ich mir jedoch für einen ausgesprochenen Bildungsroman schon gewünscht.

… und wenn jemand in der Lage ist, mir diesen Widerspruch zum Hals der Giraffe aufzuklären, i.e. Darwin vs. Lamarck, wäre ich ihm dankbar ….

@ die Unbestechlichen Jäger der Plagiate:

Links und Anmerkungen…

…. habe ich bis auf eine nicht: irgendwann gegen Ende meines Schreibens war die Datei zuschossen, insbesondere die grüne Markierung zitierter Textstellen nicht mehr vorhanden. Ich habe diese so gut ich es konnte versucht, zu rekonstruieren, möglich ist aber, daß ich das eine oder andere übersehen habe.

Judith Schalansky
Der Hals der Giraffe
diese Ausgabe: Suhrkamp, HC, ca. 222 S., mit Abb., 2011

4 Kommentare zu „Judith Schalansky: Der Hals der Giraffe

  1. Bei Darwin läuft die Vererbung über die gene, die selektiert werden, will die „Körper bauen“, die besser angepasst sind. Die Giraffen mit langen Hälsen erreichen höhere Blätter, sind besser genährt und haben deswegen mehr nachkommen (so etwas vereinfacht)

    Lamarck hatte die aberwitzige Theorie, dass Erfahrungen und Erkenntnisse weitergeben werden können und in einen bessern genetischen Bauplan umgesetzt werden können. Die gene “ lernen “ also von den Eltern, das es besser wäre ein Kind mit etwas längeren Hals (und stärkeren Herzen, rückschlagklappen in dem Adern für den Fall, das man den Kopf senkt, damit dann wegen des hohen Blutdrucks der Kopf nicht platzt etc ) zu bauen. Das kann nicht klappen, woher soll der Bauplan kommen?

    Lamarckismus ist der glaube daran, das ein schmächtiger kerl, der sich stark trainiert ein stärkeres Kind bekommt oder das weizen , der Kälte ausgesetzt ist in der nächsten Generation kälteresistenter ist

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    1. lieber christian, herzlichen dank für deine ausführliche erklärung. was das „aberwitzig“ in deinem kommentar betrifft, so ist das boomende forschungsgebiet der epigenetik im moment dabei, solche Mechanismen und Konsequenzen vererbbarer Chromosomen-Modifikationen, die nicht auf Veränderungen der DNA-Sequenz beruhen, zu erforschen. …Die Epigenetik bietet daher neue Ansätze den Einfluß umweltbedingter Veränderungen auf das Genom zu erfassen. … (Quelle).

      nein, vielleicht habe ich meine abschließende frage unklar ausgedrückt. der unterschied zwischen lamarckismus und darwinismus ist mir schon klar, nicht verstanden habe ich, warum die autorin des romans ihre protagonistin, die ja bis dato einem recht konsequenten darwinismus folgte, die entstehung des langen giraffenhalses mit lamarck erklären läßt…

      herzliche grüße
      fs

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      1. Oh, da hatte ich es falsch verstanden, tschuldigung.

        Wobei da epigenetik aus meiner Sicht über bewertet wird: sure kann auch nicht beliebiges neues gestalten, da das eine sehr komplexe Berechnung für die Änderungen voraussetzen würde. Insofern schaffen epigenetische Prozesses nichts neues sondern verändern nur aufgrund vorheriger Selektion.

        Aber in der tat ist das ein ziemlicher Bruch, der keinen Sinn macht. Lamarck ist einfach nicht zu jemanden, der sich evolutionären Erklärungen verschrieben hat.

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