Thomas Mann: Der Tod in Venedig

Am 12. August jährte sich der Todestag von Thomas Mann zum sechzigsten Mal [2]. Deswegen und weil wir (auch aus diesem Anlass) in meinem Lesekreis seine Novelle Der Tod in Venedig gelesen haben, ist das hier eine Premiere für/in meinem Blog: es ist eine zweite Version der Buchvorstellung zu diesem Titel.

Zum ersten Mal habe ich den Text letztes Jahr gelesen [1] und jetzt beim „Zweitlesen“ gemerkt, daß ich auf einen Gesichtspunkt, auf den ich zwischenzeitlich gestoßen bin, u.a. durch einen Artikel in der Wiki, gar nicht eingegangen bin. Was erstaunlich ist, gehören doch Tod und Sterben zu den Schwerpunktthemen meines Blogs. Unter diesem Gesichtspunkt also stelle ich meine Gedanken zu der Novelle hier noch einmal vor und zur Diskussion, nicht ohne meinen Kollegen/-innen vom Lesekreis für ihre Gedanken und Anregungen, die hier mit einfliessen, zu danken.


mann venedigGustav Aschenbach ist Literat, ein hochgeachteter, hochgeehrter und zu seinem 50. Geburtstag mit dem persönlichen Adel ausgezeichneter Mann, der sich dem Schreiben gewidmet hat, dem Formulieren und Schaffen tiefgründiger Gedanken, die nicht nur der Erbauung, sondern auch und gerade der Erziehung dienen sollen. So ist sein Werk ausgewählt worden, die Jugend zu leiten zu sittsamen und den Regeln gehorchendem Tun und Leben…. doch Aschenbach ist ein Kämpfer, er ist jemand, der erwählt wurde, der sich dies nicht ausgesucht hat.. von Natur aus eher schwächlich (als Kind wurde den Eltern angeraten, ihn nicht zur Schule zu schicken, sondern zu Hause zu unterrichten) unterwirft er sich seit alters her einer von Disziplin beherrschten Lebensführung und Arbeit. Doch Aschenbach verspürt ein Nachlassen der Zucht, die Jahrzehnte in ihm regierte, ein Erbteil väterlichseits, während von mütterlichem Blute das Künstlerische in ihm stammt, es ist für ihn ein sich täglich erneuernder Kampf zwischen seinem …. oft erprobten Willen und dieser wachsenden Müdikgeit…. geworden.

Es ist Frühling in München, Aschenbach flaniert ein wenig, ist in der Nähe eines Friedhofs gelangt. Auf seinen Weg sieht er einen Unbekannten, auch weiß er nicht, wie dieser dorthin, wo er steht, gekommen ist (noch sollte er darauf achten, wo er hingeht, nachdem…). Ein rothaariger Mann mit einem Adamsapfel stark und nackt, mit farblosen, rotbewimperten Augen, einer zu kurz aufgeworfenen Nase, auch die Lippen schienen zu kurz, sie waren völlig von den Zähnen zurückgezogen, dergestalt, daß diese, bis zum Zahnfleisch bloßgelegt, weiß und lang dazwischen hervorbleckten.

Das Duell der Blicke mit diesem Unbekannten, der mit gekreuzten Beinen auf einen Stock gestützt dastand, verliert Aschenbach – er wendet sich ab und geht. Doch ein Gedanke, ein Gefühl hat sich eingenistet in ihm, eine Sehnsucht, das Verlangen, eine Reise zu unternehmen ….

Ins Südliche zieht es ihn, doch konveniert der Ort nicht, zu dem er ans Adriatische fährt, die Menschen nicht, die Küste nicht, das Wetter nicht.. so entschließt er sich (und fragt sich, warum nicht gleich so…) das Meer zu queren, sich fähren zu lassen hinüber nach Venedig, dieser Stadt, die er liebt, obwohl er sich schon einmal fliehen musste, des Sciroccos wegen und des Klimas.

Ein schmuddeliger Kahn, er wird ins höhlenartige Innere geführt zum Zahlmeister, dem er seinen Obolus gibt.  Auf dem Deck, an das er sich begibt, beobachtet er eine Gruppe von jungen Leuten, von denen sich einer besonders hervortut. Zu seinem nicht geringen Erstaunen erkennt er, daß dieser Eine ein Geck ist, ein Geschminkter, auf jung Zurechtgemachter, dessen Falten und Gräue nur auf die Entfernung hin unter Farbe und Paste verborgen werden konnte…. Aschenbach wendet sich ab.

Auch in Venedig ist Seltsames um ihn: der Gondoliere, zu dem er ins Boot, das ihm schwarz wie ein Sarg scheint, steigt, gehorcht ihm nicht, fährt nicht zum genannten Ziel, sondern zum Hotel, in dem Aschenbach unterkommen will, das zu erreichen er aber auf andere Art und Weise geplant hatte. Ein zweiter Fährmann also, der ihn übersetzt, ein nicht zugelassener Gondoliere ohne Lizenz, so verrät man ihm an Kai, wo er anlandet.

Im Hotel beobachtet Aschenbach noch am gleichen Abend zur Zeit der Abendspeisung im Saale seine Mitgäste. Doch bleibt sein Auge hängen und wird eingefangen von einer besonderen Gruppe, Gästen wohl aus Polen, eine Gouvernante, eine edle Mutter, drei unauffällig und schlicht gekleideten Schwestern und ihm – den vielleicht 14jähren Knaben, der dem Beobachter als das Schöne schlechthin erscheint, von göttlicher Schönheit gar…. bald sollte er erfahren, daß der Knabe Tadzio gerufen wird, was abgeleitet ist von Tadeusz.

Aschenbachs Sehnsucht, etwas Verborgenes in ihm, hat ein Objekt gefunden, zu dem sie sich hingezogen fühlt. Mit stetig zunehmender Leidenschaft beobachtet Aschenbach den holden Knaben mit seinem lockigem Haar beim Spiel, am Strand, beim Umgang mit seinen Geschwistern. Daß er darüber das Arbeiten, das Schreiben immer mehr vernachlässigt – es dauert ihn nicht weiter.

Doch wie weiland schon einmal leidet Aschenbach wieder unter dem Wetter der Stadt, dem Wind, den fauligen Miasmen, die durch die Luft wabern und sie so schweren, daß sie fast körperlich auf den Menschen lastet. Seines Bleibens ist nicht länger, so sein Entschluss, den er am Abend dem Manager des Hotels verkündet. Doch am nächsten Morgen schon (die Luft scheint nicht mehr ganz so schwer, die Bedrückung nicht ganz so heftig, der Entschluss des gestrigen Tages ein wenig übereilt und möglicherweise nur einer momentanen Unpässlichkeit, die in ihrer Bedeutung völlig falsch eingeschätzt worden war, geschuldet) auf der Gondelfahrt zum Bahnhof bedauert Aschenbach seine Abreise. Da sie auch bedeutet, Abschied von Tadzio zu nehmen, wird ihm immer deutlicher, daß die Abreise, die Flucht übereilt, ein Fehler gar, ist.

Doch ist es nicht wie ein Wink des Schicksals, daß das Hotel seinen zum Bahnhof schon vorab geschickten Koffer falsch adressiert hat? Soll er etwas ohne Koffer in seinem neuen Reiseziel ankommen? So kehrt er um, quartiert sich erneut ein in seinem Hotel und ist wieder in der Nähe zu Tadzio…

Noch herrscht Distanz zwischen dem Knaben Tadzio und dem Sehnsüchter Aschenbach. Doch als sich beide eines Abends unverhofft im Park begegnen und der Knabe von appolonischer Schönheit von Aschenbach anlächelt: …. sprechend, vertraut, liebreizend und unverhohlen, mit Lippen, die sich im Lächeln erst langsam öffneten, ist es um den Älteren geschehen. Dieses Lächeln dringt unvermittel und direkt hinein in von Aschenbachs Innerstes: … Es war das Lächeln des Narziß, der sich über das spiegelnde Wasser neigt, jenes tiefe, bezauberte, hingezogene Lächeln, mit dem er nach dem Widerschein der eigenen Schönheit die Arme streckt. Tadzio ahnt, weiß um das Interesse des Älteren an ihm und von Aschenbach ist ihm der Spiegel für sein Lächeln, dessen Wirken einer Erschütterung gleich die Potemkinsche Fassade distanzierten Interesses an allgemeiner Schönheit zum Einsturz bringend ihm seine Schönheit, seinen Glanz, sein Götterähneln zurückwirft wie ein Sonnenstrahl sich auf glatter Wasseroberfläche reflektiert. Der Ältere weiß um dies, weiß, daß er besiegt ist, daß Gegenwehr nicht mehr möglich: Du darfst so nicht lächeln! Höre, man darf so niemandem lächeln! und er wird durchströmt von heil´gem Gefühl, das flüsternd sich nach außen bringt: Ich liebe dich!

So brechen alle Dämme beim Verliebten, der vor sich selbst seine Liebe eingesteht: So wusste und wollte der Verwirrte nichts anderes mehr, als den Gegenstand, der ihn entzündete, ohne Unterlaß zu verfolgen, von ihm zu träumen, wenn er abwesend war, und, nach der Weise der Liebenden, seinem bloßen Schattenbild zärtliche Worte zu geben. Selten nur durchbrach ein Innehalten diesen Strom süßer Verwirrung, um bald darauf wieder zu versiegen und befremdlichsten, unfassbar die Vernunft überschreitenden Gedanken Platz zu machen….

Es fällt dem Verliebten auf, daß nach gewisser Zeit im Hotel der jahreszeit übliche Anstieg der Gäste ausbleibt, ja, daß sogar deren Zahl eher ab- als zuzunehmen scheint. Auch verschwindet das Deutsche im Sprachgewirr des Hotels, bald schon sind nur noch andere, fremde Sprachen zu hören. Gleichfalls hat sich in das faulige Miasma der unter der Hitze und dem Wind leidenden Stadt ein Geruch nach Krankenhaus gemischt, leicht, aber unverkennbar wabert der Karboldampf durch die Gassen und über die Kanäle der Stadt. Die Auskünfte jedoch, die Aschenbach einholt, ähneln sich bei allen: eine Vorsichtsmaßnahme der Polizei, um Krankheiten, deren Entstehen durch das Wetter möglicherweise begünstigt seien, zu verhindert.

An einem der Abende findet sich vor dem Hotel eine Gauklertruppe ein, Komädianten, Musiker, Tänzer, die aufspielen, derbe, volkstümliche Weisen.. der, der sich hervortut aus dieser Truppe ist einer mit einem groß und nackt wirkenden Adamsapfel, mit einem bleichen, stumpfnäsigen Gesicht und mit rötlichen Brauen. Aschenbach wohnt der Vorführung bei und trinkt einen Granatapfelsaft, auch Tadzio (den trotz seiner vielen Spiele am Strand Sonne und Seeluft nicht verbrannt hatten und dessen Hautfarbe marmorhaft gelblich wie zu Anfang geblieben war, lauscht der Darbietung….

In einem englischen Reisebüro schließlich erfährt Aschenbach die Wahrheit über das Seltsame in Venedig: die Cholera hat sich eingenistet, eine Abreise (solange dies noch möglich ist) wird ihm dringend empfohlen! Doch er bleibt, natürlich, eine Abreise bedeutete die Trennung von Geliebten und er behält das Geheimnis für sich, sagt auch nichts der Familie Tadzios…

Nun schwinden sämtliche Hemmungen beim Alternden, die verwunderten Blicke der Menschen sind im gleich, und gleich dem einst verachteten Gecken läßt er sich vom Kosmetiker künstliche Jugend angedeihen. Er durchstreift die miasmendurchwallte Stadt, quert die Brücken, rastet auf den Plätzen, stillt seinen Hunger mit eilig gekauften, weichen und überreifen Erdbeeren…

Ein Traumgesicht sucht ihn heim, ein verstörender Traum von einem dionysischen Gelage, von der Verehrung des göttlich Hartem, das angebetet wird von wilden Horden mit ungebändigter Musik. All das, was Jahrzehnte an Wildheit, an Zügellosigkeit, an Ausschweifung von ihm nicht gelebt wurde, manifestiert sich in dieser Orgie des Unsagbaren.

Tadzio und seine Familie haben gepackt, er trifft den Geliebten noch einmal am Strand. Müde und erschöpft sinkt er auf seinen Stuhl. Fiebrig die Stirn und glänzend die Augen muss er beobachten, wie sein Liebling kämpfen muss (er wird nicht lange leben, schwächlich wie er ist, so denkt Aschenbach) gegen einen, der bis dahin sein ergebener Freund war und der ihn nun in den Sand drückt, bis er des Erstickens nahe. Erst als Tadzio nur noch zuckt, und bevor Aschenbach eingreifen kann, läßt er ihn frei aus seinem Klammergriff.

Und er sah Tadzio, aus dem klammernden Griff entlassen, an den Rand des Wassers und ins Meer hinein bis zur ersten Sandbank gehen, sich dort anmutig zu drehen und in die Ferne zu deuten… in die Ferne und von Aschenbach folgte diesem Deuten, wie so oft, diesem Deuten ins Verheißungsvoll-Ungeheure…..

Aschenbach sank auf seinem Stuhl zusammen. Nach geraumer Zeit erst ward er gefunden und man brachte ihn noch auf sein Zimmer. Die Nachricht von seinem Ableben erschütterte noch am gleichen Tag die Welt.


Durch den gesamten Text zieht sich der Tod und das Sterben, angefangen vom Titel der Novelle natürlich, der vieldeutig ist und in jeder dieser Deutungen zutreffen. Der Tod ist (in Form der Cholera) in Venedig, einer Stadt, die zu keiner Zeit in dieser Novelle den Eindruck vermittelt, als Luftkurort durchzugehen, sondern stetig durchwabert ist vom Fauligen, von Verderbnis; die Hauptfigur Aschenbach selbst findet ihren Tod in dieser Stadt. Selbst der Name „Aschenbach“, enthält diese zwei Silben, die einen Gegensatz darstellen: die Asche steht für den Tod, der Bach für das quirlige Leben…

Es ist schon ganz zu Beginn des Textes, daß der Spaziergang Aschenbachs ihn in die Nähe eines Friedhofs führt, dort findet ebenso die Begegnung mit dem mysteriösen Fremden statt, dessen Beschreibung einer zu kurz aufgeworfenen Nase, auch die Lippen schienen zu kurz, sie waren völlig von den Zähnen zurückgezogen, dergestalt, daß diese, bis zum Zahnfleisch bloßgelegt, weiß und lang dazwischen hervorbleckten an einen Totenschädel denken lassen, die Figur: der Tod also, dem Aschenbach in dem (Blick)duell unterliegt. Danach die Idee zur Reise, in der Symbolsprache Sterbender (Stichwort: Kübler-Ross) oftmals ein starker Hinweis darauf, daß das Sterben unmittelbar bevorstehen könnte.

Diese gehäuften Hinweise gleich zu Anfang der Geschichte in Verbindung mit dem tatsächlich eintretenden Tod der Figur könnte so interpretiert werden, daß „Der Tod in Venedig“ in toto (und nicht nur im allerletzten Teil) eine Geschichte vom Sterben seiner Hauptfigur ist, zumal sich weitere Elemente und Symbole des Todes im Text finden.

Da wären zum Beispiel der Zahlmeister, dem er im höhlenartigen Inneren der schmuddeligen Fähre seinen Obolus entrichtet: erinnert das nicht an Charon, den Fährmann über den Styx? Und legt Aschenbach nicht den zweiten Teil seiner Überfahrt nach Venedig in einem Fahrzeug aus balladesken Zeiten … so eigentümlich schwarz, wie sonst unter allen Dingen nur Särge es sind, zurück, gesteuert von einem zweiten, geheimnisvollen Fährmann? Und Aschenbach soll in den nächsten Wochen noch des öfteren in eine Gondel steigen und sich durch die Kanäle fahren lassen…

Die Stadt Venedig selbst tut Aschenbach nicht gut, das Klima bekommt ihm nicht, die Luft ist schwer und erinnert mit ihren fauligen Dämpfen an Tod und Verderbnis. Aschenbach fühlt sich so schlecht, daß er wieder abreisen will, doch der Tod, der ihn hierher gelockt hat, hat einen starken Köder ausgelegt: die Liebe, eine Liebe, die an ein zweifaches Tabu rührt: das des eigenen Geschlechts und an das des Alters, den das verführerische Objekt der Begierde ist ein vielleicht vierzehnjähriger Knabe, über den gegen Ende der Geschichte festgehalten wird, daß seine Hautfarbe marmorhaft gelblich wie zu Anfang geblieben war. Marmorhaft-gelblich, ist dies nicht die Farbe, die sich im Gesicht Gestorbener ausbreitet, wird Tadzio damit nicht als zumindest Gehilfe des Todes in Venedig deutbar, der ihn zum Schluss der Geschichte, fast in den letzten Zeilen noch ins Verheißungsvoll-Ungeheure locken will? Und wie so oft, machte er sich auf, ihm zu folgen…..

Die Gauklertruppe, die vor dem Hotel aufspielt: sie hat einen, der sich hervortut, einen, dessen Beschreibung uns schon ganz am Anfang des Textes begegnet ist, einem Mann mit rötlichen Brauen, einem groß und nackt wirkenden Adamsapfel und einem ebenfalls bleichen, stumpfnäsigen Gesicht. Mit dieser Figur im Mittelpunkt wird die Aufführung der Truppe zu einer Art Totentanz, der Aschenbach mit einem Granatapfelsaft im Becher beiwohnt: der Granatapfelsaft, seit alters her auch ein Symbol des Todes, den der Mann leert wie einst Sokrates seinen Schierlingsbecher….

Möglicherweise läßt sich auch das Bild von der lebhaften lauten Gruppe, die auf dem adriatischen Fährboot auftauchte und den auf jung geschminkten Alten im Zentrum hatte, in diesen permanenten Zusammenhang mit dem Tod stellen, denn Aschenbach unterliegt am Ende der Geschichte selbst dem Zwang, das an ihm, an seinem Körper sichtbare Alter (und damit den nahenden Tod) zu „bekämpfen“, in dem er ihn zumindest unterdrückt, ihn zuschminkt, und versteckt und sich damit so lächerlich macht, wie es weiland der Geck für ihn war.


Der Tod in Venedig gehört zu den Werken Manns, in denen er auch seine persönliche Situation reflektierte. Daß Thomas Mann dem eigenen Geschlecht zugetan war, ist heute kein Geheimnis mehr, in der damaligen Zeit (der Text ist ja weit über ein Jahrhundert alt) war dies völlig anders. Fand Mann in der Figur Aschenbachs ein literarisches Ventil, den inneren Druck seines persönlichen Dilemmas zu mindern, indem er ihr diese homoerotische Komponente, die jedoch niemals in eine aktive Handlung mündete, gab? Eine Sehnsucht, die letztlich zum Tode Aschenbachs führte, denn zweimal hatte er Gelegenheit, Venedig zu verlassen, beide Male blieb er Tadzios wegen…. Schon der Lebenslauf Aschenbachs, wie er sehr kurz angedeutet wird, läßt sich im Zusammenhang des Buches in Sinne einer homoerotischen Neigung deuten: einer früh verstorbenen Frau läßt Thomas Mann keine weitere Ehe folgen, Aschenbach lebt sein Leben in schaffensreicher Einsamkeit.

Ein Schaffen, daß seinem Willen, seiner Zucht geschuldet ist. Das Schreiben ist ihm mittlerweile ein sich täglich erneuernder Kampf zwischen diesem Willen und einer stetig wachsenden Müdigkeit, geschuldet seinen abgenutzten Kräfte, geworden sowie dem Anspruch, daß das Produkt des Schaffens dieser inneren Auseinandersetzung auf keine Weise durch ein Zeichen des Versagens und der Laßheit verraten durfte.

Das Schreiben und das Formulieren tiefgründiger Weisheiten und Gedanken wird ihm, dem geehrten und geadelten Autoren in seinem Aufenthalt in Venedig immer unwichtiger. Der Gedanke an Tadzio erodiert die Zucht, der er sich seit Jahrzehnten unterwarf, diese Erosion findet ihren Höhepunkt in dem Traumbild, das ihn gegen Ende heimsucht: ihm erscheint im Schlaf aus den Tiefen seiner Seele ein grenzen- und tabusprengendes Bacchanal, eine dionysische Orgie der Enthemmung, der Anbetung des Phallischen: all das Jahrzehnte, ein Leben lang Unterdrückte bildet sich hier wieder so wie Aschenbach auch im Lauf des Aufenthalts in Venedig ein anderer wird, der immer mehr von seiner Zurückhaltung auf- und der Versuchung nachgibt – bis hin zum Auflegen der Maske einer längst verflossenen Jugend durch den Kosmetiker.

Thomas Mann hat mit den Buddenbrocks, die zwar nicht seine Erstveröffentlichung waren, die aber doch sehr früh in seinem Schaffen entstanden, einen Maßstab , einen Anspruch an seine schriftstellerische Leistung gesetzt, den einzuhalten eine große Bürde gewesen sein dürfte. In die Schilderung des Aschenbachschen Probleme dürfte also eine Menge persönlicher Erfahrungen mit eingeflossen sein, mag also sein, daß Mann mit Aschenbach, der ursprünglich (zumindest ließ der diesen selbst so denken) der Erholung und des Auftankens willen die Reise in den Süden unternahm, die Bürde, die der Literat, die er – Thomas Mann – selbst zu tragen hatte, sterben lassen wollte, auf daß eine respektvoll erschütterte Welt die Nachricht von seinem Tode empfänge…

Abschließend will ich festhalten, daß ich, als ich meine „alte“ Buchvorstellung [1] durchlas, sehr erstaunt über mein damaliges Urteil war: Diese Satzkonstruktionen, diese Worte, diese Kunst! schrieb ich…. ganz sicher ist es das immer noch, aber ich muss zugeben (und das war auch die Mehrheitsmeinung in meinem Lesekreis), daß viele Passagen doch recht schwallig und schwülstig daherkommen, meine Begeisterung über den Text sich beim Zweitlesen daher zugegebenermaßen in Grenzen hielt… ungeachtet dessen, daß die Novelle trotzdem natürlich immer noch großartige Literatur ist – und solches bleiben wird.

Links und Anmerkungen:

[1] Besprechung hier im Blog von 2014:  https://radiergummi.wordpress.com/2014/08/18/thomas-mann-tod-in-venedig/, dort sind auch weitere Links zu finden, mit denen ich hier gearbeitet habe.
[2] eine kompakte Übersicht über das Leben Manns ist z.B. hier zu finden: Norman Weiss: Thomas Mann – Gedanken zum 140. Geburtstag; in:  https://notizhefte.wordpress.com/2015/06/06/thomas-mann-gedanken-zum-140-geburtstag/

Thomas Mann
Der Tod in Venedig
Originalausgabe: Hyperion, 1912
diese Ausgabe: Fischer TB, ca. 140 S., 2010

 

 

8 Kommentare zu „Thomas Mann: Der Tod in Venedig

  1. Das ist eines der Bücher, bei denen ich ausnahmsweise froh bin, sie im Unterricht gelesen zu haben. Mein Deutschlehrer hatte „den Tod in Venedig“ als Lektüre nach dem Abi gewählt und es war großartig die einzelnen Passagen mit ihm und meinen (ebenfalls mit Latein und teilweise sogar mit Altgriechisch „gequälten“) Mitschülern zu diskutieren.
    Allerdings hätte ich es mir wohl kaum selbst herausgesucht – vielleicht gerade wegen des hohen Literaturanspruchs, den man mit dem Namen Mann verbindet.

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    1. … und der in dieser Novelle ja bestätigt wird. ich kann mir gut die interessanten Diskussionen vorstellen, ich habe ja in meinem Lesekreis auch einen angeregten Abend mit solchen Gesprächen verbracht. Aber ich muss auch sagen, selbst den (noch) Älteren und humanistisch vorgebildeten Teilnehmern war die Sprache Manns zum Teil sehr abgehoben. Kunstvoll, aber nicht mehr in unsere Welt passend. Nun ja, die Novelle ist über hundert Jahre alt, damals war vieles, was wir heute nur noch angedeutet wissen und worauf Mann anspielt, einfach bekannt und konnte voraus gesetzt werden….
      danke für deinen Kommentar!

      Gefällt 1 Person

  2. Thomas Manns Werk hat einen Vorteil, der den Unterschied macht: bei der Zweitlektüre drängt sich nicht mehr so sehr die Sprache in den Vordergrund, die einen bezuckert, sondern der Inhalt. Mir ging es neulich bei der Revisitation des Zauberbergs so. Ich war fasziniert von der genauen Beobachtung der Zeit in all ihren Ausprägungen; sei es ihr Verlauf, sei es das Empfinden ihres Verlaufs, seien es aber auch ihre Strömungen und die Entwicklung einer politischen Großwetterlage. Spätestens da wurde mir die Zeitlosigkeit des Werkes und sein Hineinkragen in die Gegenwart bewusst (gerade verkörpert durch die Charaktere Settembrini und Naphta). Ich wagte die These, dass wir auf dem Zauberberg leben und im Begriffe sind, in eine Zeit der Umwälzungen hineinzuschliddern. Und ich finde sie jeden Tag bestätigt.

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    1. dem, liebe kirsten, kann ich nichts hinzufügen… ich bin kein kenner des mann´schen œuvre, vor allem der zugang zu seinen längeren werken fällt mir sehr schwer: ich bin bis jetzt meist gescheitert. aber der zauberberg reizt mich immer noch, seit sontag ihn in ihrer krankheit als metapher ausführlich (unter ihrem thema) deutete. vielleicht gibt mir dein kommentar noch einmal schwung für einen neuen anlauf… ;-)

      danke für deinen besuch und den ausführlichen kommentar!

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