Eshkol Nevo: Neuland

Die Geschichte dieses Romans spielt vor einem bestimmten historischen Hintergrund. Auch wenn man im Lauf der Handlung diesen Hintergrund erzählt bekommt, erleichtert es doch das Verständnis, wenn man ihn – zumindest in Umrissen – schon zu Beginn kennt…. Anfang des 20. Jahrhunderts, genauer gesagt 1902, erschien in Leipzig ein „utopischer“ Roman von Theodor Herzl: „Altneuland„, in dem Herzl eine Vision für eine zukünftige Heimstatt, ein Heimatland für alle Juden beschreibt [1, 2]. Verwirklicht wurde diese Vision letztlich im alten Stammland der Juden, in Palästina, durch die Gründung des Staates Israel, in der Vision Herzls war dies aber anfänglich nur eine der drei von ihm als möglichen Standort betrachteten Weltregionen, die beiden anderen ortete er in Südamerika, in Argentinien oder Uruguay. Und in der Tat gab es in der Person des Barons Hirsch [3] jemanden, der Ende des 19. Jhdts die Ansiedlung jüdischer Kolonisten in Argentinien förderte, dort große Ländereien kaufte und das von ihm den vorwiegend russischen Exilanten unterstellte landwirtschaftliche Geschick unterstützte.

Wenden wir uns jetzt nach dieser Kürzestinfo dem Roman zu….

Er beginnt mit einer Mailkorrespondenz zwischen Inbar und Dori, Namen, die, da man ihnen als Deutsche/r nicht automatisch Geschlechter zuordnen kann (im Gegenteil klingt „Dori“ wegen seiner Ähnlichkeit zu Doris und im Genitiv sowieso sogar weiblich) anfänglich ein wenig verwirren. Aber man gewöhnt sich dran.. jedenfalls scheinen die beiden eine starke gegenseitige Zuneigung zu verspüren, die sie aber nicht ausleben können. Zum einen sind sie anderweitig gebunden, Frau und Sohn sind vorhanden, auch Inbar hat eine Beziehung, zum anderen ist gerade Krieg [4] und der Alltag dadurch stark durcheinander gebracht… es ist ganz offensichtlich, daß dieser Mailverkehr am Ende einer Geschichte steht (vllt auch am Anfang einer anderen…), der Geschichte nämlich von Inbar und Dori….

Dori ist Geschichtslehrer in Jerusalem, außerdem Vater von Neta und Mann von Roni, ferner, was nicht ganz unwesentlich ist, Sohn von Meni Peleg, der seinerseits Sohn von Fima ist. Meni ist dekorierter Offizier der Armee aus dem Yom Kippur-Krieg, aus dem er dem Anschein nach trotz blutiger Erlebnisse unversehrt nach Hause gekommen ist. Nach dem Krieg war er jahrelang als Wirtschaftsberater sehr erfolgreich. Den Tod seiner Frau jedoch konnte er nicht verwinden, in der Trauer über dieses Ereignis brach seine Welt zusammen und auch die verdrängten Kriegserlebnisse kamen wieder bzw. zum ersten Mal an die Oberfläche. Von einer Reise nach Südamerika erreichen die Daheimgebliebenen Mails, die sie beunruhigen, dann kommt garnichts mehr von ihm. Dori entschließt sich, ihn zu suchen, engagiert den wohl erfolgreichsten Fachmann für solche Suchen und fliegt nach Quito.

Inbar arbeitet als Produktionsassistentin beim Radio, ist Tochter von Hannah, mit der sie sich aber ständig streitet und Enkelin von Lili, die 1939 noch rechtzeitig aus Warschau nach Constanza durchkam, um dort ein Schiff zu besteigen, daß nach einer langen Irrfahrt absichtlich auf eine Sandbank vor der Küste Palästinas auffuhr und dort seine Passagiere entließ, von denen einige den britischen Häschern entgingen, andere aber, so wie der Musiker Fima, aufgegriffen wurden. Inbar hatte einen Bruder, Joave, das Verhältnis der Geschwister war sehr gut. „War“, denn Joave ist tot. Es ist nicht eindeutig, daß es ein Unfall war, vllt hat sich der junge Mann, der seinen Militärdienst ableistete, auch selbst erschossen. Lili hasst die Deutschen, die ihre ganze Familie ermordeten und Hanna hat ihre Liebe in Berlin gefunden, bei und mit einem Deutschen. So herrscht zwischen beiden aufeinanderfolgenden Generationen Streit, zwischen Lili und Inbar aber nicht…

Dori ist mit Roni verheiratet, er liebt sie abgöttisch, genauso wie seinen Sohn, der ihm jedoch Sorgen macht wegen seiner Verhaltensauffälligkeiten. Die Liebe von Roni zu Dori ist weniger ausgeprägt, Sehnsucht und ähnliches sei ihr, die in einem Kibbuz aufgewachsen ist, dort ausgetrieben worden („..Wenn du die ganze Nacht im Kinderhaus „Mama, Mama“ schreist, und keiner kommt… ich weiß nicht.. dann geht wohl irgendwie der Mechanismus der Sehnsucht kaputt…). Dagegen ist sie erfolgreiche Geschäftsfrau, die auf ihren Mann, der „nur“ Lehrer ist, ein wenig abschätzig herunterschaut. So konzentriert sich die Liebe Doris ganz auf seinen Sohn.

Inbar ist liiert, aber die nicht nachlassende Trauer über den Verlust des Bruders hemmt ihr emotionale Offenheit und Bindungsfähigkeit, schlechte Erfahrungen tun ein übriges. Nun, jedenfalls fliegt sie ein paar Tage nach Berlin zur Mutter, die Stadt tut ihr gut, sie hätte dies nicht erwartet. Am Rückreisetag sitzt sie am Airport und steht einfach nicht auf, als ihr Flug aufgerufen wird, sie will nicht zurück und als der Flieger weg ist, läßt sie ihr Ticket umschreiben auf den nächsten Flieger, der möglich ist. Ok, Teheran dann doch nicht, aber Quito….

Wir wissen es vom einleitenden Mailverkehr: die beiden treffen sich auf ihren verschieden motivierten Reisen durch Südamerika, Dori und Alfredo, der Fährtensucher, auf der Spur, die Doris Vater hinterlassen hat und Inbar, die sich treiben läßt oder auch wieder nicht, denn geheimnisvollerweise entdeckt sie, daß Ahasverus, der „ewige Jude“ sein Zeichen überall auf ihrem Weg hinterlassen hat [5] und sie ihm vllt einfach nur folgt…. Dori und Inbar tun sich zusammen auf der Suche nach dem Vater, dem sie immer näher zu kommen scheinen, immer frischer die Spuren seiner Anwesenheit an den diversen Orten. Auf der Sonneninsel im mythischen Titicaca-See schließlich finden sie einen Laptop, auf dem Meni geradezu eruptiv seine Seelenqualen festgehalten hat….

Argentinien, dorthin führt die letzte Fährte die beiden Suchenden und tatsächlich, sie entdecken den Vermissten inmitten einer Schar von jungen Menschen auf einer riesigen Farm irgendwo im Hinterland, hier, wo schon damals Juden siedelten und lebten und wo jetzt Meni die Vision, die er als Gegenentwurf zum real existierenden Judenstaat hat, antizipieren will….

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„Die Grundannahme … ist nämlich, …. dass das Leben im Ursprungsland ein anhaltendes Trauma ist. Alle, die von dort kommen, sind verwundet, eine einer mehr, der andere weniger.“

Dieser ganze umfangreiche Roman ist ein einziges (oder auch eine Summe vieler) Road-Movie(s), eine Reise von Menschen, die ein Ziel haben oder ein Ziel suchen, die dem Nichtmehrerträglichen fliehen. Und dieses Nichtmehrerträgliche ist in jedem Fall eng verbunden mit dem Staat Israel. Ob es der wahrscheinlich durch seinen Militärdienst in den Selbstmord getriebene Bruder von Inbar ist, ob es Meni selbst ist, dessen posttraumatische Belastungsstörung durch den Krieg erst Jahre später, nach einer erneuten Lebenskatastrophe, offen zu Tage tritt, ob es die emotionalen Grenzen von Roni sind, die auf die Erziehung im Kibbuz zurückgeführt werden können – die israelische Gesellschaft, heruntergebrochen auf das Schicksal zweier Familien, erscheint zutiefst verletzt. Immer tiefer greift das Militärische in den Alltag ein, zum Schluss des Buches ganz handfest sogar mit Granaten- und Raketenbeschuss. Die Menschen scheinen traumatisiert wie Dori, der entscheidungsschwach seine ganze Liebe auf den Sohn konzentriert und diesen dadurch verhaltensauffällig werden läßt, weil das einfach zu viel ist. Beim Vater bricht mit der Frau der Halt im Leben weg….

Ein Staat, der nur existiert, um das Überleben zu sichern, funktioniert nicht, Dorinju. Die Idee zur Errichtung des Staates Israel war, die Juden aus dem Exil an einem Ort zu versammeln, von dem man sie nicht vertreiben würde. Aber das war, ich betone, in der Vergangenheit. Ein Staat braucht eine Vision. Ein Staat ohne Vision ist wie eine Familie, in der es keine Liebe gibt. Und wenn es keine Liebe gibt, warum ist die Familie dann zusammen?“

In der Besprechung in der „Jüdische Allgemeine“ [6] kommt der Roman ziemlich schlecht weg, da er – und der gewählte Titel lädt dazu ein – verglichen wird mit Herzls Utopie „Altneuland“. In der Tat, eine Kommune aus einigen zufällig ausgewählten Backpackern (warum eigentlich nicht Rucksackreisende?), die unter dem Einfluss eines PTBS-leidenden, sich täglich mit Hilfe von Drogen in Visionen (streng nach Stundenplan wird täglich bis 16:00 Uhr „visioniert“) ergehenden israelischen Ex-Offiziers erscheint nicht gerade als grandiose Wiedergeburt einer verloren gegangenen Utopie. Aber ich glaube auch nicht, daß Nevo vorhatte, eine solche Utopie auszuformulieren, auf der Farm war ja auch noch alles im Fluss und im Bau, in der Entwicklung, viel mehr kam es ihm meiner Meinung nach darauf an, zu zeigen, daß der Staat Israel einer neue Vision bedarf, wenn er nicht langsam untergehen soll. Militärisch zwar von seinen Nachbarn kaum besiegen, frisst sich gerade aber das Militärische und die stete Bedrohung nach Nevo immer weiter in die Zivilgesellschaft hinein und korrodiert die Integrität der Menschen, der sozialen Kompetenz und der Moral.

Die Vision Menis, angelehnt an die alten Grundsätze Herzls, fasziniert und fesselt die jungen Leute, die auf die Farm kommen. Es sind die jungen Israelis, die kommen, diejenigen, die von ihrer inneren Unruhe getrieben das Land für einige Zeit verlassen haben, anderes kennenlernen wollen. So scheint es sich eingebürgert zu haben, daß israelische Männer und Frauen nach dem Militärdienst erst einmal für längere Zeit in die Welt fahren, vorzugsweise nach Asien oder Südamerika. Doch nach Menis Meinung können sie dadurch nicht „geheilt“ werden, die seelischen Wunden brechen wieder auf, sobald der Alltag Israels sie wieder vereinnahmt. Der oder ein Gegenentwurf zur Gesellschaft Daheim kann nur im Ausland aufgebaut werden, wo er nicht von den Randbedingungen israelischer Existenz vereinnahmt werden kann.

Eshkol Nevo bei den deutsch-israelischen Literaturtagen 2012, Bildquelle [7]
Eshkol Nevo bei den deutsch-israelischen Literaturtagen 2012, Bildquelle [7]
Auf so vielen Seiten ist Platz für viele Geschichten… es ist auch genügend Raum, die teilweise recht quälenden, weil sich immer wiederholenden Zweifel der Protagonisten offen zu legen. Dori, der mit der ganzen Kraft seiner Seele einer Liebe zu einer Frau nachhängt, die ihm diese kaum erwidern kann und der daher mit seinem überbordenden Gefühl seinen eigenen Sohn erstickt… Inbar mit ihrer nicht vergehenden Trauer über den Tod des Bruders, Roni, die ihre Gefühle hinter der Fassade kühler Geschäftsmäßigkeit versteckt…. Mein heimliche Liebling in diesem Roman ist Lili, von derenr Ausreise/Flucht 1939 aus Polen wir erfahren und ihrer Bekanntschaft mit Fima, obwohl doch Nathan auf sie wartete. „Bist du noch so schnell wie früher? Du hast 25 Minuten, Musikant!“ Wo sich Dori und Inbar Hunderte von Seiten quälen und es nicht wagen, sich ihre Gefühle einzugestehen, handelte die Großmutter zu ihrer Zeit deutlich zielorientierter…..

Es tut dem Roman gut, daß Nevo seine Helden selbst erzählen läßt, so wird der Textfluss angenehm portioniert, denn mit weit über 600 Seiten ist das Werk umfangreich und beschreibt doch „nur“ eine Suche quer durch Such… Südamerika. Der Autor hat mit „Neuland“ einen langatmigen, aber nicht langweiligen Roman aus der Gegenwart Israels vorgelegt, der an ein existentielles Problem dieses Landes rührt, Israel als Staat, der sich nur noch durch die Bedrohung definiert: ein beunruhigendes Szenario. Welche Vision Israel braucht, kann Nevo nicht sagen, vllt eine Rückbesinnung auf die Anfänge, aber daß es eine Vision braucht, das scheint für den Autoren festzustehen.

Für große Projekte braucht man manchmal ein bisschen Verzweiflung.“ 

Links und Anmerkungen:

[1] Theodor Herzl und der Zionismus: http://schule.judentum.de/projekt/herzl.htm
[2] Wiki-Artikel zu „Altneuland“: http://de.wikipedia.org/wiki/Altneuland
[3] Wiki-Artikel zu Maurice de Hirsch
ein persönlicher Erfahrungsbericht über eine Familie, die 1936 nach Argentinien ging: http://www.israelbysilvia.com/68233/Der-Baron-Hirsch–JCA-und-meine-Familie-1-1
Berührende Bilder einer vergehenden, vergangenen Epoche: http://www.br.de/radio/bayern2/sendungen/weitwinkel/juedischer-gaucho-100.html
Übersichtsartikel in der Encyclopaedia Judaica: Juden in Argentinien 04: 1890-1918: http://www.am-sur.com/am-sur/argentinien/EncJud/EncJud_juden-in-argentinien04-1890-1918-D.html
[4] Wiki-Artikel zum Libanon-Krieg 2006
[5] vgl z.B. hier: http://www.lesekost.de/themen/hhl07a.htm oder auch etwas ausführlicher: http://de.wikisource.org/wiki/Der_immer_in_der_Welt_herum_wandernde_Jude
[6] Marko Martin: Eine Siedlung in der Pampa: http://www.juedische-allgemeine.de/article/view/id/17213
[7] Wiki-Artikel zu Eshkol Nevo: http://de.wikipedia.org/wiki/Eshkol_Nevo
Foto:By Heinrich-Böll-Stiftung (Flickr: Eshkol Nevo) [CC-BY-SA-2.0], via Wikimedia Commons

Ferner von Eshkol Nevo im Blog vorgestellt:

Eshkol Nevo: Wir haben noch das ganze Leben

Eshkol Nevo<
Neuland
Aus dem Hebräischen übersetzt von Anne Birkenhauer
Originalausgabe: Zmora Bitan, 2011
diese Ausgabe: dtv, HC, ca. 637 S., 2013

Ein Kommentar zu „Eshkol Nevo: Neuland

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