Arno Geiger: Der alte König in seinem Exil

August Geiger stammt aus einer kleinbäuerlichen Familie. Er hat den Krieg überlebt, nach dem Krieg geheiratet, Kinder bekommen, ein Haus gebaut, gearbeitet.. ein halbwegs normales Leben also, ein Lebenslauf, den man so oder so ähnlich unzählige Male antreffen wird. Von der Frau ist er geschieden, die Lebensentwürfe waren nicht mehr kompatibel, die Gegensätze in den Wünschen an das Leben nicht mehr überbrückbar. Im Alter wird der seit jeher dem eigenbrötlerischen zuneigende August Geiger vergesslich. Das ist nicht schön, zuweilen seltsam, aber die Kinder argwöhnen nichts, bis es irgendwann nicht mehr zu verdrängen war: der Vater war dement geworden.

In diesem Büchlein unternimmt der Sohn Arno Geiger, ein Schriftsteller, den Versuch, sich seinem dementen Vater wieder zu nähern, ihm und seinem neuen Leben gerecht zu werden. Es ist ein sehr behutsamer, rücksichtsvoller Blick auf den Vater, geprägt von großem Respekt und von einer neu wachsenden Beziehung, die die alte Vater-Sohn Beziehung, die nicht ohne Probleme war, ablöst. Es ist die Beschreibung einer Annäherung des Sohnes an seinen Vater, der in eine andere Welt verzogen ist, die nur noch über wenige Brücken gemein ist mit der Welt, in der wir übrigen leben.

Arno Geiger erinnert sich zurück an seine Kindheit, den Vater, einen stattlichen, charmanten Mann, der aber zeitlebens seine Kriegserlebnisse nicht richtig verwunden hat. Der Krieg hatte ihn aus der Geborgenheit seiner Familie gerissen und nahe heran geführt an den Tod. Kaum schafft er es wieder nach Hause zurückzukehren, will er, dort angekommen, nie wieder weg. Das Zuhause wird seine Welt, eng eingegrenzt auf sein Haus und die Umgebung. Noch nicht einmal bei seiner Hochzeit ist er zu bewegen, einen Spaziergang durch den Wald zu machen…..

Es ist anstrengend geworden mit dem alten August Geiger, seine Vergesslichkeit, seine neu in Erscheinung tretenden Sonderlichkeiten. Das naheliegende verdrängt man, daß der Vater dement geworden sein könnte. Das vieles nur Ausdruck ist einer Krankheit, der er anheim gefallen ist, man erkennt, akzeptiert es erst spät. Mit der neuen Situation muss man umzugehen lernen, Fragen nach konkretem, nach Daten und sei es nur das Alter des Vaters, bringen jenen in Verlegenheit, er weiß es nicht mehr, ist orientierungslos geworden in der Welt, in der das eine Rolle spielt. Es ist ihm unangenehm, er weicht aus, überspielt solche Situationen, verhält sich unverfänglich, so daß auf den ersten Blick seine Reaktion gar vernünftig und normal scheint.

Die Welt entrinnt ihm, sein Zuhause, ihm so wichtig, ist ihm fremd, er kennt es nicht mehr. Ihm fehlt die Geborgenheit, die ein Zuhause gibt, der Ort, an dem die Menschen sind, die man liebt, deren Sprache man spricht, verloren…. „un-heimlich“ geworden…

Der Vater muss betreut werden, eine neue, anstrengende und auch aufreibende Aufgabe für die Familie. Sie muss sich organisieren, absprechen und merkt dabei, daß sie über diese übernommene Verpflichtung eigene Distanz überwindet, sich wieder näher kommt. Eine zeitlang stellt man auch Pflegekräfte ein, die eine rund-um-die-Uhr Betreuung sicherstellen, aber nicht mit allen ist der Vater gut. Es gibt oftmals Streit, manche der Frauen bleiben nur einen Tag… Schließlich muss der Vater in ein Heim.

Die Kinder lernen, den Vater zu akzeptieren in seiner neuen Welt, die nicht mehr von der Logik unserer beherrscht wird, sondern eigenen Gesetzen folgt. So entwickelt der Vater jetzt, wo ihm der Freiraum gegeben wird und er nicht mehr in Verlegenheiten kommt durch „Sach“fragen (die seine nicht mehr vorhandenen kognitiven Fähigkeiten fordern würden), zu einem Menschen, der in der Erinnerung an alte Zeiten lebt und dadurch zu verblüffenden „Einsichten“ kommt, der mit Charme, ganz lebendig und lebhaft auch wahrnimmt, daß er sich verändert hat, daß früher mehr mit ihm los war und er jetzt ein schlapper Kerl geworden ist…..

„Der König in seinem Exil“ ist ein liebevolles Buch, das sich behutsam eines Menschen annimmt, den eine schwere Krankheit geschlagen hat. Es wahrt in jedem Moment die Würde dieses Menschen und es zeigt sehr schön, daß in dem Kontakt, in der Berührung, der Wahrnehmung zu so einem Erkrankten für uns selbst eine Chance liegt: ein Weg nämlich zur Selbsterkenntnis, zu Toleranz, auch zu innerer Ruhe. Die manchmal aufblitzende unmittelbare „Weisheit“ ebenso wie manch absurdes kann für uns, wenn wir fähig werden zur Wahrnehmung dessen, eine Brücke sein auch in uns selbst hinein, durch die wir duldsamer werden können, auch authentischer. So wie es Geiger im wieder entstehenden Zusammenhalt der auseinander gegangenen Familie geschildert hat.

Das Buch ist weitgehend deskriptiv, es beschreibt den Vater und sein Leben, es ruft Erinnerungen an frühere Zeiten hervor und schildert sein „neues“ Leben nach der Erkrankung. Zu ergründen versucht es nur an wenigen Stellen, dies war wohl auch nicht das Ziel des Schreibers. Das gemeinschaftliche Ausräumen und Entrümplen des Hauses durch die Familie zum Beispiel, nachdem der Vater in ein Heim umgezogen war. Ein hochsymbolischer Akt dies, der so vom Autoren nicht dargestellt wird, im Gegensatz zur Schilderung, daß man die Container mit Regenplanen abdecken muss. Alles Alte wird weggeschmissen, entsorgt, man trennt sich von ihm und nimmt ohne Trauer, sogar mit einer gewissen Erleichterung, Abstand. Das Haus wird zu einem neuen Zuhause, jetzt ohne den Vater, der „nur“ noch gerne gesehener Gast ist. Es ist nicht mehr das Zuhause des Vaters, die Kinder, die Familie hat das akzeptiert, sie verdrängen den Verlust des alten Vaters nicht mehr, sondern richten sich in der neuen Wirklichkeit ein.

Auch die Verwendung des Begriffes „Freundschaft“ für das, was sich zwischen Vater uns Sohn im Umgang entwickelt, ein Hinweis darauf, daß sich der Sohn nicht mehr (nur) als Sohn sieht, sich gelöst hat vom Vater (wie er ihn kannte) und jetzt mit dem Vater (wie er ihn wahrnimmt) eine neue Beziehung eingegangen ist. Ein gelungener Abschied, ein Loslassen und ein Neubeginn……

Was mich – auch bei diesem Buch wieder – immer wieder verwundert, ist die lange Verdrängungsphase der Angehörigen, bis man sich eingesteht, daß das wunderliche Verhalten, mit dem man konfrontiert ist, Zeichen einer Demenz sein könnte. Spätestens wenn sich die telefonischen Beschreibungen stundenlanger Spaziergänge vor Ort in eine Verwunderung darüber verwandeln, daß man als Ortsfremder so gut wieder nach Hause gefunden hat und schon nach der ersten Wegkurve gefragt wird, wo steht jetzt noch mal das Haus… vllt bin ich Pessimist, aber der erste Gedanke ist da „oje, wenn das man nicht….“ Vielleicht spielt doch eine gewisse Scham über diese Krankheit eine Rolle, daß man sich ihr Wahrnehmung in der eigenen Familie solange verweigert.

Wo ich (als Nichtfachmann) ein leises Unbehagen bei der Lektüre verspüre, ist zum einen die apriori Gleichsetzung von Alzheimer und Demenz im Buch. Diese beiden Begriffe sind ja nicht synonym, Demenz kann auch andere Ursachen haben und eine wirkliche Diagnose kann nur durch eine pathologische Untersuchung stattfinden. Ich erlebe es in meiner eigenen nächsten Verwandtschaft ähnlich wie es hier im Buch von Geiger geschildert wird und ich bin sehr froh, daß ich nicht davon ausgehen muss, daß eine Alzheimererkrankung vorliegt, denn – auch dies kommt im Buch so nicht heraus und wäre ein zweiter leiser Kritikpunkt von mir – Alzheimer ist eine sehr schlimme Krankheit und verläuft in der Art, wie sie Geiger schildert vllt in den Anfangsstadien, nicht aber, wenn sie weiter fortschreitet und immer mehr vom Menschen zerstört. Eine Kritik, die ich neulich an anderer Stelle auch hatte, als ich eine Kunstausstellung besuchte, in der Bilder von Dementen gezeigt wurden. Auch dort wurde dann irgendwann in einem Nebensatz gesagt, daß diese Malereien natürlich nicht von Dementen mit fortgeschrittenem Krankheitbild geschaffen werden können…. Beispielhaft kann man diese beiden Bilder nehmen, dieses hier vor, dieses nach einem weiteren Schlaganfall (also auch kein Alzheimer) vom selben Erkrankten geschaffen….. So kann dieses Buch Betroffenen zwar Mut machen, ihnen Zuversicht einflößen und ihnen deutlich machen, daß sich auch eine Chance für sie aufgetan hat, eine neue Beziehung zur Erkrankten aufzubauen, aber dieser Zustand, wie ihn Arno Geiger für seinen Vater beschreibt, ist nicht stabil, sondern wird sich im Lauf der Zeit immer weiter verschlechtern. Dessen muss man sich bewusst sein.

Facit: Eine wunderschöne, behutsame Annäherung eines Sohnes an seinen an Demenz erkrankten Vater (vgl auch den Kommentar von ck)

Anmerkungen und Links:
Leseprobe zum Buch
– zur Besprechung von T. Jens: Demenz – Abschied von meinem Vater, in dem dasgleiche Thema wie bei Geiger angeschnitten wird – und doch ganz anders….

Arno Geiger
Der alte König in seinem Exil
Hanser, 2011, HC 192 S.

11 Kommentare zu „Arno Geiger: Der alte König in seinem Exil

  1. Es gibt Bücher die geschrieben werden müssen. Die Seele hat eine Aufgabe. Muss sich befreien.
    Die Auseinandersetzung mit diesem Geist-Vampir der den Vater aussaugt. Die ganze Familie dominiert . Erkenntnis bringt, die akzeptiert werden muss.
    Der andere Mensch, der Türen verschliesst und zugleich Türen öffnet. Die Sanftheit. Das Streicheln der Wange. Das Zulassen einer neuen Beziehung.
    Der Blick in eine andere Welt die als nicht greifbar existiert.
    Der Vater, der, unbekannten, jedoch professionellen Menschen in die Arme gelegt wird.
    Pause. Es wird mir bewusst wie sehr wir diese uns „fremden Menschen“ brauchen. Der Vater der Hilfe braucht, die ihm die Familie geben möchte, jedoch nicht mehr kann. Das Verlassen des zu Hause.
    Die Fremdheit, die Demenz bringt, löst sich schliesslich mit diesen bisher unbekannten Betreuer. Sie sind sich fremd und erkennen sich als das was sie sind.
    Der Geist-saugende Vampir geht.

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  2. Ich bin bei der letzten Druckfrisch-Sendung auf das Buch aufmerksam geworden und bin froh, dass ich deine ausführliche und interessante Rezension dazu gefunden habe.
    Auch allgemein finde ich deinen Blog sehr lesenswert und werde öfter mal vorbeischauen. Ich würde dich auch gerne auf meinem Blog verlinken, wenn das in Ordnung ist?

    LG,
    Stefanie

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    1. liebe stefanie, natürlich ist das in ordnung, herzlichen dank auch! und du bist jederzeit herzlich willkommen auf meinem blog… tritt ein und schau dich um….. und schreib mir deine meinung!

      liebe grüße
      fs

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  3. Danke für deine ausführliche Rezension!
    Hört sich jetzt für mich doch vielversprechend an.
    Im Buchladen wäre ich an dem Buch sonst wahrscheinlich vorbeigelaufen…

    lg, Cara

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  4. Man merkt, du hast dich eingehend mit der Thematik befasst, bereits vor der Lektüre von Geigers Buch. Gerade deine Anmerkungen zum Krankheitsverlauf und zum Unterschied zwischen Demenz und Alzheimer sind für ein tieferes Verständnis sehr hilfreich.

    Du hast recht: Geiger thematisiert die Erkrankung seines Vaters weniger in Hinblick auf das, was zerstört wird, als auf die Chancen, die sie auch bedeuten kann. Für problematisch halte ich diese Vorgehensweise keinesfalls (und auch du nicht, meine ich verstanden zu haben). Geiger schildert hier in erster Linie keine Krankheit, sondern eine Vater-Sohn-Beziehung. Etwas überspitzt formuliert, ist die Krankheit letztendlich lediglich ein Anlass, um sich über diese Beziehung bewusst zu werden; während eine umfassende Darstellung sicher keineswegs beabsichtigt war. Ich denke, es handelt sich um eine berechtigte persönliche Wahl. Aber dass es eben eine persönliche Wahrnehumg und Darstellungsweise ist, die keinen Anspruch auf Allgemeingültigkeit hebt, darüber muss sich der Leser – wie du ganz richtig sagst – im Klaren sein.

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    1. ich danke dir sehr für diesen kommentar, liebe ck, du fasst das wunderbar klar in worte, um was ich in meinem beitrag herumrede… (mit meiner antwort auf deinen kommentar in deiner besprechung geht es mir ähnlich, ich weiß, was ich sagen will, aber nicht, wie ich es formulieren kann… seltsam..). du hast völlig recht, das anliegen von geiger, die annäherung an seinen vater in den mittelpunkt zu stellen, ist legitim, richtig und gut und die art, wie er es umsetzt (in der realen beziehung und auch literarisch) zeugt von einer großen, neuen Nähe zu seinem vater und kann vielen menschen auch mut machen. ich bin bei meiner betrachtung dagegen zu sehr von der krankheit her ausgegangen, habe diesen aspekt ein wenig vernachlässigt.

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