Kein Teil der Welt ist Traumabewältigung: Ich saß sieben Jahre lang klappernd vor Kälte am Schreibtisch, egal wie warm es draußen war. wird die Autorin zitiert. [Tobias Becker: Leben im Weltuntergang, DER SPIEGEL 41, S. 126] und nach der Lektüre dieses Romans, den man nicht aus der Hand legen will, hat man ihn einmal begonnen, kann man das nachvollziehen. Das Buch hat keine Stelle, die auch nur den Ansatz von Heiterkeit, von Leichtigkeit verströmt, von Lebensfreude gar. Am unbeschwertesten sind noch die Passagen, in denen die Autorin ihre beiden zentralen Figuren, die Mädchen bzw. jungen Frauen Sulamith und Esther in der Erinnerung zurück in bestimmte Situationen der Kindheit versetzt, dem gemeinsamen Sitzen in der Wann beispielsweise.
Sulamith und Esther leben in der Wahrheit, im Gegensatz zu den Weltmenschen. Und die Wahrheit ist bei den Zeugen Jehovas, dieser Ausprägung des christlichen Glaubens, die sich im ausgehenden 19. Jahrhundert von Amerika kommend mit ihrer Missionstätigkeit über die gesamten Erde verbreitet hat. Es ist ganz praktisch, sich vor dem Lesen des Romans mal einen Übersichtsartikel zu den Zeugen Jehovas durchzulesen [z.b. natürlich den in der Wiki: https://de.wikipedia.org/wiki/Zeugen_Jehovas ], die de Velasco häufig die interne Terminologie der Sekte verwendet, die man mit diesen Grundkenntnissen einfach besser versteht.
de Velasco weiß, wovon sie spricht, sie ist in dieser Parallelwelt aufgewachsen. Auch wenn dies kein biografischer Roman ist, die eigene Familiengeschichte mit der ihrer Figuren nur wenig zu tun hat [Becker, a.a.O.], so ist es doch ein Roman, in den die eigenen Erfahrungen und Erlebnisse eingeflossen sind. Die Handlung des Buches ist auf zwei Ebenen angesiedelt, die Jetztzeit ist die Zeit kurz nach dem Fall der Mauer, die innere Öde spiegelt sich in der der äußeren Umgebung, denn Esther ist mit ihrer Familie aus dem Rheinischen nach Peterswalde in der ehemaligen DDR umgezogen. Peterswalde ist der Ort, an dem der Vater, der seinerzeit in den Westen geflohen ist, aufwuchs, er ist somit auch von Familienschicksal getränkt. Im Rheinischen, wo sie ihre Kindheit zuammen mit Sulamith verbrachte, muss etwas Schlimmes geschehen sein, Sulamith, die beste Freundin – und eine der wenigen Menschen, mit denen befreundet zu sein Esther überhaupt erlaubt war – ist nicht mehr da, ist tot, wie es geschehen ist, löst sich erst ganz am Schluss des Romans auf.
So erfahren wir auf der Ebene der Erinnerungen Esthers an Sulamith deren in weiten Teilen gemeinsames Schicksal. Mit ihrer Mutter Lydia aus Ungarn in den Westen geflohen wurden sie von Esthers Eltern missioniert, es entwickelte sich eine enge Beziehung zwischen ihnen. Die beiden Mädchen hatten nur sich, das normale Universum von Kindern in dieser Zeit und in diesem Alter blieb ihnen verschlossen: Pumuckl ist ein Dämon, der Räuber Hotzenplotz ein Räuber und Alf ein Ausserirdischer, der die Schöpfung Gottes verhöhnt… Wetten daß…? scheint jedoch erlaubt zu sein… Esther und Sulamith wuchsen in einer engen, begrenzten Welt auf, einer Welt, die von Satan beherrscht wird, der mit mannigfachen Verführungen versucht, die Menschen ins Unglück zu stürzen. Der Kontakt mit dem Weltmenschen ausserhalb der Wahrheit ist nur oberflächlich, z.B. beim Schulbesuch. Partys, Feste oder Geburtstagsfeiern gibt es nicht, sie sind tabu für die Kinder, Weihnachten steht ebenfalls nicht auf dem Programm, und gibt es mal Geschenke, so werden sie beiläufig ausgeteilt, nur ja keine Freude aufkommen lassen. Der Alltag wird von Pflichten beherrscht, regelmäßige Treffen, Bibelstunden, das Missionieren an der Haustür… alles wird protokolliert und (sozusagen) für’s Jüngste Gericht archiviert. Es ist ein wüster und leerer Acker, der hier, in der ex-DDR bearbeitet werden muss, einem Land, in dem die Zeugen Jehovas nicht erlaubt waren und wo sie daher nur klandestin missionieren konnten. Doch jetzt ist der Königreichsaal errichtet und wird eingerichtet
Immer wieder spielt auch die Familiengeschichte eine Rolle. Die Großmutter, die damals erst im Lager zur Wahrheit kam, der Onkel Michael, dessen Existenz vor Esther verheimlicht wird – nur sehr bruchstückhaft und zufallsbedingt öffnen sich für das Mädchen Fenster in diese Vergangenheit. Dafür fängt aber die Gegenwart an zu bröckeln, Zweifel nisten sich ein. Besonders Sulamith stellt immer mehr Fragen, und mit Daniel, einem Tierschützer, lernt sie einen Weltjungen kennen, der ihr nicht egal ist. Ihre Glaubenszweifel werden immer stärker, greifen auch auf Esther über, die aber die Konsequenz, mit der Sulamith handelt, nicht aufbringt.
Während Esthers Vater viel auf Reisen ist, nimmt ihre Mutter mit geradezu beängstigender Disziplin ihre Verpflichtungen wahr, mit einer Disziplin, die sie auch gegenüber Esther einsetzt. Die Ordnung jedoch zerbricht langsam, die vorgeblich heile Welt in der Wahrheit bekommt immer mehr Risse, da sich besonders Sulamith nicht mehr unterordnen und sich selbst verleugnen will, bis dahin, daß sie eines Tages die Brücken hinter sich abbricht. Man muss, und de Velasco beschreibt dies, stark für diesen Schritt, in einer Art Scherbengericht werden die Verfehlungen des/r Abtrünnigen vor der gesamten Gemeinschaft offengelegt, Briefe und Tagebücher werden vorgelesen, es ist die völlige geistige Entblößung, die die Gemeinschaft vollzieht, bevor sie von sich aus die Trennung, die mehr aus Ausstoßen ist, beschließt. Eine Trennung, die Esther kaum verkraftet, der einzige Mensch, dem sie sich im Innersten verbunden fühlt, hat sie im Stich gelassen, schließlich sieht sie nur einen einzigen Ausweg für sich… aber da sie im Gegensatz zu Sulamith weitgehend planlos handelt und auch nur wenig Hilfe von außen erfährt, steuert die Entwicklung auf eine Katastrophe zu…
Ich habe es schon festgehalten, Kein Teil der Welt ist ein Roman, der in einer Welt spielt, die keine Freude kennt – zumindest keine, wie wir sie kennen. So düster und beklemmend ist auch der Roman, der einen Glauben schildert, der sich der wörtlichen Auslegung der Bibel verschrieben hat und diese als Schablone auf das Leben in der Jetztzeit anwendet – wobei das Ende jederzeit kommen kann, ja, in naher Zukunft erwartet wird. Harmagedon steht vor der Tür, man muss gerüstet sein dafür, die Taschen sind gepackt und stehen im Schrank. Es ist eine verrückte Szene, die de Velasco da schildert, als die Gruppe um Esthers Eltern bei einem Unwetter und einem kleinen Erdbeben die Ankunft Harmagedons erkennt und sie voll Panik und Erwartung in den Versammlungsraum eilen.
de Velasco verwebt in ihrem Roman eine verwickelte Familiengeschichte aus dem geteilten Deutschland mit Schicksal zweier Mädchen, die in dem fundamentalistischen Glaubenskorsett einer Gemeinschaft, die sich im Besitz der Wahrheit wähnt, zu ersticken drohen. Dabei kann die Autorin, die selbst jahrelang vor Kaufhäuser gestanden hat, um Zeitschriften wie den Wachturm zu verteilen, mit großer Kenntnis aus dem Innenleben, aus der Praxis der Gemeinschaft berichten. Akzeptiert man dies (im Roman beispielsweise sind dies die Figuren der Mutter Sulamith oder auch das Mädchen Cola), schluckt man also sozusagen die Blaue Pille, dann kann die Sekte Halt und Geborgenheit geben, wählt man die Rote Pille so wie Sulamith und letztlich auch Esther, erkennt man, welches geistige Gefängnis diese Sekte darstellt.
Kein Teil der Welt ist sicher kein Roman, der beim Lesen gute Gefühle hervorruft. Man leidet mit den Mädchen, man schüttelt den Kopf vor Unverständnis, man graust sich in manchen Szenen (auf die ich hier in diesem Text nicht weiter eingegangen bin). Das Buch entwickelt jedoch einen unheimlichen Sog, ich wollte es nur anlesen und habe es danach nicht mehr aus der Hand gelegt. Eine gewissen Aufmerksamkeit ist beim Lesen vonnöten, da die Zeitebenen nicht immer klar getrennt sind. Wenn die Esther der Jetztzeit beispielsweise an Sulamith denkt, spielt das natürlich in der Vergangenheit, die Erinnerung selbst ist jedoch Gegenwart…
Freitags bin ich immer bei uns im Städtchen, um die Sachen, die im Lauf der Woche aufgelaufen sind, zu erledigen. Dort kommt immer so gegen halb acht ein Auto, ein paar Leute steigen aus, räumen den Kofferraum aus, Taschen mit Flyern, kleine Infotafeln. Nachher stehen sie dann vorm Supermarkt und treten auf der Stelle. Noch nie habe ich sie in einem Gespräch mit Passanten gesehen… jetzt haben diese Wachtürme, die ich bislang einfach nur zur Kenntnis genommen habe, eine Art Gesicht bekommen, durch de Velascos Schilderungen habe ich einen Eindruck erhalten von dem, was sich hinter diesem – wie soll man es nennnen? – geduldigem Ausharren verbirgt: Pluspunkte für die Personalakte betr. Harmagedon, sammeln.
Trotz dieser Düsternis, dieser dystopischen Stimmung, dieser Dauervergewaltigung der Kinderseelen in ein fundamentales Glaubensdogma war ich von dem Roman fasziniert, wollte ihn nicht mehr aus der Hand legen. Ich hoffe, ich habe ein wenig von dieser Faszination des Dunklen herüberbringen können.
Hör zu,
wenn heute Harmagedon kommt,
dann will ich,
dass du das hier weißt.
Ich will begraben werden,
nicht verbrannt,
und zwar mit dem Kopf nach unten.
Mit dem Kopf nach unten,
und meine Füße sollen rausschauen,
wie Blumen
mit dicken Stängeln.
Wie Blumen,
an denen die Blüten schon verwelkt sind,
nur die Blütenstempel sind noch da.
Das sind dann meine Schuhe.
Stefanie de Velasco:
Kein Teil der Welt
diese Ausgabe: Kiepenheuer & Witsch, HC, ca. 430 S., 2019
Ich danke dem Verlag für die Übersendung eines Leseexemplars.
Ich habe das Buch auch gerade beendet und muss gestehen, dass es mich nicht recht überzeugen konnte. Ich empfand die verschiedenen Figuren als zu plakativ: Esther als Zweiflerin, die unter dem sozialen Druck innerhalb der Gruppe leidet; Sulamith als intellektuelle Abtrünnige; Lidia und Cola, die aus schwierigen Verhältnissen kommen und ihre Lebenskrisen durch den Halt der Gruppe bewältigen. Esthers Mutter und Vater, die als Adel der Gilead-Schule keine Zweifel dulden. Das hätte ich nicht als so störend empfunden, wenn die Autorin dem Leser zugetraut hätte, die Konstellationen selbst zu erkennen. Aber sie gibt ihren Figuren den Vorschlaghammer in die Hand. Cola sagt dann auch mehrmals zu Esther „Du weißt ja gar nicht, wie gut du es hast.“
Vor Jahren habe ich hin und wieder aus Interesse die Publikationen gelesen und kannte einige der Bücher, die im Roman thematisiert werden. Ich hatte erwartet, dass Sulamiths intellektuelle Zweifel fundierter begründet würden, auch anhand schärferer Kritik der Zentrale in Brooklyn. Das hat mir bei Misha Anouks „Goodbye, Jehova!“ besser gefallen. Ich hatte wohl einfach mehr Aussteigerbuch und weniger fiktive Geschichte erwartet – obwohl ich zuvor im von dir zitierten Interview auch gelesen hatte, dass die Autorin gerade das nicht schrieben wollte: Ein Aussteigerbuch.
Viele Grüße!
Jana
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liebe jana, ich bedanke mich sehr für deine ausführlichen anmerkungen.
In der Sache selbst kann ich dir zustimmen, aber… Cola zum Beispiel ist eine interessante Figur, die ich – das ist mir hinterher aufgefallen – in meiner Buchvorstellung hätte erwähnen müssen. An ihr demonstriert de Velasco, welche Anziehungskraft, eine solche in sich geschlossene Gruppe auf Menschen ausüben kann, die „in der Welt“ keinen Platz für sich finden bzw. einen ziemlich miesen, wie eben Cola (und auch ihre Mutter). Das ist in der Tat recht plakativ geschildert, aber das hat mich persönlich nicht gestört, ich habe darin eher den Versuch der Autorin gesehen, vor solchen Attraktionen (die sich ja nicht nur auf die Zeugen Jehovas als Gruppe beschränken…) zu warnen.
Was die mangelnde Tiefe der Argumentationen von Sulamith und Esther angeht, sollte man, denke ich, den Kontext beachten. Das sind 16jährige Mädchen, die bisher gerade dazu erzogen worden sind, nicht kritisch zu sein, sondern zu glauben und zu akzeptieren. Sich kritisch mit etwas auseinanderzusetzen, gehörte bis dato nicht zu ihrem Werkzeugkasten. Hier passt folgende Aussage der Autorin über sich selbst sehr gut (aus dem Spiegel-Interview): „… ich bin im selben Universum groß geworden wie die beiden, und ich bin genau im selben Alter wie sie in eine Glaubenskrise geraten. Den Glauben selbst hinterfragte de Velasco zunächst gar nicht, ich hatte einfach keinen Bock mehr, diese Scheißklamotten zu tragen, ich hatte keinen Bock mehr von Tür zu Tür zu gehen und zu missionieren. Und vor allem wollte ich nicht mehr auf dieses Harmagedon warten. . Von daher denke ich, daß die Darstellung Sulamiths und Esthers und ihrer Beweggründe durchaus realistisch ist.
ich habe jetzt leider keine info gefunden, wie alt der von dir erwähnte misha anouk war, das wäre schon interessant für einen vergleich; ich bin aber erstaunt, daß es einige bücher von aussteigern aus dieser sekte gibt. na ja, ich habe mich da bis dato auch noch nie so drum gekümmert… ;-)
liebe grüße!
gerd
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Lieber Gerd,
danke für deine ausführliche Antwort. Das Buch von Anouk habe ich damals aus der Bibliothek ausgeliehen und deshalb leider nicht zur Hand. Ich meine mich zu erinnern, dass er etwa Anfang Zwanzig war, also doch etwas älter als die Protagonistinnen in de Velascos Roman. Das Alters-Argument finde ich nachvollziehbar und ich vermute auch, dass die Tiefe der Argumentation bei Anouk nachträglich angepasst und mit den Teenager-Erfahrungen abgeglichen war.
Ich habe meine Gedanken mittlerweile auch in einen Beitrag gepackt. Schau bei Interesse gern vorbei: https://www.wissenstagebuch.com/2019/11/07/stefanie-de-velasco-kein-teil-der-welt-2019/
Herzliche Grüße
Jana
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