Anna Bergmann: Der entseelte Patient

Die Besprechung des Buches gibt es auch als Audio-File im literatur RADIO bayern


bergmann cover

Dem Buch Der entseelte Patient von Bergman liegt – davon gehe ich aus – die Habilitationsschrift der an der Europa-Universität Viadrina (Frankfurt/Oder) als apl. Professorin an deren Kulturwissenschaftlichen Fakultät arbeitenden Autorin [1] zugrunde. Zwar wird dies im Buch nicht explizit erwähnt, die Ersterscheinung des Buches 2004 korrespondiert jedoch gut mit dem Auslaufen des Habilitationsstipendiums 2003. Den wissenschaftlichen Charakter der Arbeit merkt man dem Buch ebenfalls deutlich in Aufbau und Sprache an, der Umfang von knapp 450 Seiten umfasst ein Fußnotenverzeichnis von immerhin 70 Seiten und nachgeschaltet ein Literatur- und Quellenverzeichnis von noch einmal knapp 60 Seiten.

Der Inhalt teilt sich in drei Abschnitte:

  • Massensterben und traumatische Todeserfahrung in Europa (14. – 19. Jhdt)
  • Entstehung der modernen Medizin: Rituale des Tötens, Opferns und Heilens
  • Das Opfer im medizinischen Fortschritt: Von der Anatomie zur Transplantationsmedizin

Massensterben und traumatische Todeserfahrung in Europa
(14. – 19. Jhdt)

Etwas überraschend beginnt diese Arbeit über die moderne Medizin und den Tod mit der Aufzählung von Wetter- und Naturphänomenen ab dem 10. Jhdt, die durch Kälteperioden (Kleine Eiszeit), Überschwemmungen, Trockenperioden, Sturmfluten, Erdbeben, Seuchenzüge etc pp immer wieder große Not über Europa gebracht haben. Diese einschneidenden Ereignisse sind nach Ansicht der Autorin für die Entwicklung der modernen Gesellschaft entscheidend gewesen und bis dato gegenüber politischen Faktoren (z.B. Kriege) zu wenig gewürdigt worden. Insbesondere konzentriert sich Bergmann in den folgenden Ausführungen auf die Folgen der diversen Pestausbrüche und Seuchenzüge, die ab dem 14. Jhdt Europa heimsuchten und im Zusammenspiel mit mit Hunger und Armut verheerende Auswirkungen hatten.

Ab dem Herbst 1347 verbreitete sich die Pest rasant von Südeuropa ausgehend durch den ganzen Kontinent, in den folgenden Jahrhunderten folgten diesem Seuchenzug noch viele andere kleinere oder auch größere Ausbrüche, die sich tief in das kollektive Gedächtnis der Menschen eingeprägt haben. Diese Seuchenzüge, deren (bakterielle) Ursache man natürlich zu dieser Zeit nicht (er)kannte [2], hatten vielerlei Auswirkungen auf die Gesellschaft. Dazu gehörte in erster Linie die starke Dezimierung der Bevölkerung. Bergmann führt an, daß in Deutschland von 1300 bis 1500 die Zahl der Siedlungen von 170.000 auf 130.000 zusammen schmolz [3]. Im ländlichen Bereich führte dies z.B. dazu, daß der arbeitsintensive Feldfruchtbau zugunsten der weniger aufwendigen Viehwirtschaft zurück ging, sich damit auch die Ernährungsgewohnheiten der Gesamtbevölkerung änderten.

Ein solch katastrophaler Seuchenzug führte in kurzer Zeit zu einem Anfall von vielen Toten. Da vor der Seuche sozusagen alle gleich sind, ging dieses Sterben cum grano salis in allen Gesellschaftsschichten um: letztlich brach die gesamte Sozialstruktur einer Gemeinschaft zusammen, da auch Ärzte, Notare, Priester, Beamte, Handwerker etc pp starben. Der große Anfall von Toten führte ebenfalls dazu, daß die seit altersher bewährten Bestattungsriten nicht mehr wie gewohnt eingehalten werden konnten: zum einen fehlten irgendwann die dazu notwendigen Totengräber und Priester, zum anderen reichte schlicht und einfach der Platz auf dem Friedhof nicht mehr zur Bestattung aller Toten aus: es mussten Massengräber ausgehoben werden, in die die Leichen unter Missachtung aller Riten und Totenrituale gestapelt und mit Erde bedeckt wurden.

Dieser respektlose und unehrenhafte Umgang mit den Leichen führte zu Schuldgefühlen. Noch herrschte die Vorstellung, daß der Tod nicht endgültig ist in dem Sinne, daß auch der Verstorbene vom Jenseits aus Einfluss ausüben kann (guten oder auch schlechten) auf das Leben seiner Angehörigen im Diesseits [4]. Daher war es wichtig, die Angehörigen gut und nach den erprobten Riten zu bestatten, eine Unmöglichkeit in den Zeiten der Pest.

Wusste man auch nicht, welches die Ursache der Krankheit war, so war man sich sehr wohl über die Tatsache bewusst, daß man sich an Erkrankten anstecken konnte, behördliche Massnahmen zielten also darauf ab, Erkrankte zu isolieren und alles, mit dem sie in Berührung gekommen waren, zu verbrennen, d.h. die reinigende Kraft des Feuers einzusetzen. Dies wurde mit recht rabiaten Methoden durchgeführt: Erkrankte und ihre Familien wurden beispielsweise in ihren Häusern eingemauert oder die Türen und Fenster wurden mit Brettern verschlossen, Essen wurde durch Klappen hineingereicht. Verbrannt wurde nicht nur die Kleidung, sondern auch Mobiliar, ja, ganze Häuser wurden in Brand gesetzt. Selbstverständlich war die Weitergabe, der (Ver)Kauf  von z.B. Kleidung Erkrankter strengstens verboten.

Isolierstationen wurden gegründet: die ersten Lazarette sind Lager für Pestkranke, die dort von der Umwelt abgetrennt werden. Die Verhältnisse in diesen Lazaretten müssen grauenhaft gewesen sein. Es war auch nicht so, als ob diese Massnahmen ohne Widerstand durchgesetzt werden konnten: viele Familien versteckten ihre erkrankten Angehörigen, wehrten sich dagegen, daß ihre Habe verbrannt werden sollte, bestachen Ärzte oder Beamte. Diebstahl, Raub und Plünderungen bei Betroffenen waren an der Tagesordnung, denn mit dem Umgang mit Pesterkrankten waren gerade die sozialen Schichten beauftragt, die unzuverlässig und ehrlos waren.

Auch die Gemeinwesen selbst waren in der Zwickmühle: die offizielle Feststellung oder auch nur das Gerücht, daß eine Stadt von der Pest betroffen sei, führte zur sofortigen Isolation, sämtliche Handelsbeziehungen brachen zusammen, einen Warenaustauch gab es nicht mehr. Umgekehrt wurden in Zeiten der Pest automatisch alle Fremden,  die in eine Stadt kamen, misstrauisch beäugt und ggf. sofort in Isolation genommen. Unter diesen Personenkreis fielen insbesondere die Nicht-Sesshaften: Arme, Zigeuner, fahrende Händler und Handwerker, also oftmals Juden, auf die mithin ohne konkreten Verdacht, einfach, weil sie dieser Personengruppe zugehörten, förmlich Jagd gemacht wurde: eine Stigmatisierung, die sich tief bis in unsere Zeit eingeprägt hat.

Alle Personen, die mit der Pest in Berührung kamen (Ärzte, Totengräber etc pp), mussten bestimmte Kleidung und Kennzeichen tragen, ein System, das sich über die Pestzeiten hinaus erhalten hat. Da der Umgang mit den Toten viele Tabus verletzte und daher auch in dieser Hinsicht gefährlich war, gerieten die Betreffenden an den Rand der Gesellschaft, wurden Aussgestoßene oder sie wurden gleich aus solchen sozialen Gruppen requiriert.

Auch das Töten durch Gas (Vergasen) hat seinen Ursprung nach Bergmann in der Pestbekämpfung. Da Ratten auf Schiffen als Hauptgefahrenquelle erkannt worden waren, sie aber auf den verwinkelten Schiffen nur schwer zu bekämpfen waren, wurde ab Beginn des 20. Jhdt die Vergasung mit Kohlenmonoxid eingeführt – das Dritte Reich übernahm diese Methode dann für die Massenermordung der Juden, auch eine weitere Gleichsetzung von Juden und Ungeziefer [5], überhaupt ähnelt das gesamte Prozedere der Konzentrationslager fatal dem der Pestlazarette, es scheint bis hin zur räumlichen Aufteilung der Lager fast 1:1 übernommen.

Die Pestbekämpfung und sich über Jahrhunderte entwickelnde Seuchenpolitik, so ein Resümee der Autorin, ist bis dato vor allem auf medizinische und hygienische Fortschritte fokussiert gewesen, hingegen blieben die sozialpsychologischen Auswirkungen der Isolationspraktiken weitgehend ausgeblendet, die Implikationen, die sie in Bezug auf Projektionsbildung und Stereotypenbildung hatte, wirken weit über den Nationalsozialismus hinaus.

Entstehung der modernen Medizin: Rituale des Tötens, Opferns und Heilens 

Da sich Pest, Hunger und Not über Jahrhunderte hinweg hielten, waren sie nicht weiter geeignet, apokalyptische Visionen eines bevorstehenden Weltuntergangs zu bedienen, andere Erklärungsmuster in dieser von Tod, Angst und Trauer gekennzeichneten Welt waren vonnöten. Der Tod, der massenhafte Tod, konnte nicht mehr als religiöses, heilsgeschichtliches Ereignis gelten, langsam dämmerte die düstere Ahnung, er könne etwas Endgültiges sein und fortan war das Motiv, diesen endgültigen Tod zu bekämpfen, ein treibendes Moment für den Menschen: die ungeheure Anstrengung der Weltverbesserung, die die Moderne auf sich nimmt, ist eine Kampfansage an diesen Tod. Letztendlich, so führt die Autorin aus, liegt in diesem Bestreben auch ein ganz starke Ursache für das Aufkommen der Naturwissenschaften ab der Renaissance. Da man der Willkür der Natur nicht mehr ausgeliefert sein wollte, wendete sich der Mensch vom mittelalterlichen Buchwissen ab hin zu einer praktischen bis experimentellen Beschäftigung mit der Natur. Für Mediziner bedeutete dies z.B., daß jetzt das bis dato ignorierte Wissen, das bei Hebammen, Badern, Chirurgen vorhanden war, wichtig wurde.

Diesen einsetzenden Wissensdurst zu stillen, bedurfte es der Untersuchungsobjekte. Vesalius [6] war es 1537, der eine öffentliche Sektion an einer Leiche durchführte, also das starke Tabu durchbrach, das die Toten, auf deren Wohlwollen man ja auch nach ihrem Tod angewiesen war, bis dahin schützte. Sektionen an Leichen, vornehmlich, soweit legal beschafft, an Hingerichteten, wurden jetzt hin und wieder erlaubt. Wie tabubehaftet diese Auslieferung an einen Anatomen aber noch waren, verdeutlicht die Tatsache, daß sie als strafverschärfend für den Malefikanten wirken sollten. So wie der Anatom durch die Untersuchung der Leiche ein starkes Tabu verletzte, verletzte es auch der Henker bei der Hinrichtung eines zum Tode Verurteilten. En Detail analysiert Bergmann die strenge Ritualisierung des gesamten Prozesses gegen eine/n Beschuldigte/n, in dem auch der Folter ein reinigender, purgativer Charakter zukam, mit dem Ziel, den Übeltäter zu echter Reue zu verhelfen, so daß er als „armer Sünder“ reingewaschen dem Tod überantwortet werden konnte: Die Hinrichtung als „harmonischer Akt“ zwischen dem Geläuterten und dem Henker, eingebettet in vielerlei Rituale.

Die Analoga zwischen der Funktion/Person des Henkers und der des Sektion/Person des Anatomen, die beide mit Leichen hantierten, also im „ehrlosen“ Raum wie seinerzeit die Personen, die mit den Pesterkrankten zu tun hatten, sind nach Bergmann zahlreich und groß, bis hin zu den öffentlichen Aufführungen in theaterähnlichen Räumen, in denen die Zergliederung des Leichnams durch den Arzt der den Körper malträtierende Marterung in der Folter entspricht.

Dem  Scharfrichters kamen nach Bergmann zweierlei Funktionen zu: zum einen war er derjenige, der den „armen Sünder“ vom Leben in den Tod brachte, also derjenige, der dem Tod sehr nahe kam, vom gesellschaftlichen Leben war ein Scharfrichter daher weitgehend ausgeschlossen. Ferner war er, der die Gesellschaft von schlechten Elementen reinigte, oft auch für die ganz profane Reinigung z.B. von Kanälen, Abtrittgruben etc zuständig. Auf der anderen Seite schrieb man Hingerichteten magische Kräfte zu, bei den unter großer Publikumsbeteiligung und sakraler Begleitung stattfindenden Exekutionen kam es häufiger zu Tumulten, wenn die Umstehenden z.B. versuchten, das Blut Enthaupteter aufzufangen und zu trinken. Es entwickelte sich ein richtiggehender Medizinzweig, in dem aus Leichen gewonnene Präparate zur Heilung eingesetzt wurden [vgl. 8], der Hingerichtete war zum helfenden Toten geworden. Der Henker als derjenige, der mit den Malefikanten zu tun hatte war auch derjenige, der durch seine Tätigkeit Kenntnisse der Anatomie und allgemeiner Heilkunde hatte.

Eine weitere große Umwälzung fand in der Philosophie mit Descartes statt. Waren im Mittelalter alle Lebewesen als göttliche Geschöpfe beseelt, sprach Descartes ihnen diese Seele ab, Tiere waren im nicht mehr als Reiz-Reaktions-Maschinen, Automaten also, nur dem Menschen kam eine Seele zu. Uns heutzutage seltsam anmutend ist damit auch die Tatsache, daß im Mittelalter durchaus auch Tiere vor Gericht gestellt und gegen sie prozessiert wurde [7].

Obwohl, wie oben angedeutet, die Hinrichtung im Ideal als harmonischer Akt zwischen zwei Akteuren (Henker und Malifikant) stattfinden sollte, durfte der Scharfrichter nicht mit dem zu Exekutierenden in Berührung kommen: strenge Kleidervorschriften (Handschuhe, Kapuzen) und die Verwendung von „Distanz“werkzeugen (Schwert, Beil) halfen dabei. Aber immer ging es noch um den Einzelnen. Mit dem Aufkommen „maschineller“ Hinrichtungsmethoden, sprich: der Guillotine, änderte sich dies: der Scharfrichter wurde bei der „Fließband“arbeit dieser Hinrichtungen zum reinen Maschinisten, der zum Tode Verurteilte wurde zum Werkstück, dessen Kopf abgetrennt werden musste, entwürdigt.

Ein weiteres Kapitel widmet die Autorin den „Anatomischen Theatern“, in denen die öffentlichen „Zergliederungen“ von Leichen stattfanden. Die Räumlichkeiten waren in der Tat einem Theater nachempfunden mit Rängen für das zahlende Publikum (bei der Zergliederung eines weiblichen Leichnams waren die Eintrittsgelder deutlich höher als bei männlichen Leichen) und einer Bühne, auf der wie bei einem Theaterstück, die Zergliederung vor meist hochkarätigem Auditorium stattfand. Stand kein Theater zur Verfügung, wurden diese Vorführungen auch häufig in Kirchen abgehalten. Diese Spektakel erhoben durchaus den Anspruch der wissenschaftlichen Erforschung des menschlichen Körpers, die benötigten Leichen waren begehrt, staatliche Stellen mussten die Erlaubnis für solche Sektionen geben. Die derart untersuchten Leichen wurden in gewisser Weise wieder zu Leben erweckt: als Abbildungen in anatomischen Lehrbüchern oder nach Mazeration als Skelette in Sammlungen…. der Tod wurde endgültig rationalisiert, seiner Magie beraubt.

Bergmann sieht hier eine bis in moderne Zeiten laufende Kontinuität der „Nutzung“ von Hingerichteten, als Beispiel sei China genannt, wo zum Tode Verurteilten noch vor der Exekution Organe entnommen werden für Transplantationen.

Das Opfer im medizinischen Fortschritt:
Von der Anatomie zur Transplantationsmedizin

In diesem dritten großen Kapitel ihrer Arbeit untersucht Bergmann, welche Auswirkungen der Verwissenschaftlichung der Medizin, die den Menschen (lebend und als Toten) zum reinen Objekt degradiert, auf die Entwicklung der Medizin hat. Wesentlich ist beispielsweise, daß die Psychiatrie Definitionsgewalt bekommt: sie kann über die Attribute „normal“ und „un/abnormal“ und damit über den sozialen Status entscheiden. Abnormales wird separiert und in Lagern konzentriert, hier sind diese minderwertigen Menschen verfügbar.

Bergman beschreibt ausführlich, in welcher Art und Weise die medizinische Forschung in der beginnenden Neuzeit betrieben wurde, sei es nun an „liederlichen“ schwangeren Frauen, an Häftlingen oder auch in Kolonialgebieten an Eingeborenen. Es sind bedrückende Schilderungen, die dort zu lesen sind und sie erinnern an Zusammenhänge, die man sich normalerweise nicht mehr klar macht: Wie zum Beispiel hat Robert Koch seine bedeutenden bakteriologischen Entdeckungen erforscht? Wie sind Impfstoffe entwickelt und getestet worden: Der (minderwertige) Mensch als Versuchsmaterial, zum Teil mit Ratten in einem Zusammenhang genannt (Wir unternahmen unsere Versuche „.. an einem Material von etwa 100 Ratten und 20 Kindern…„), wie wurde der Nachweis geführt, daß zum Beispiel Lepra eine Infektionskrankheit ist. Versuche, Mediziner rechtlich wegen zum Beispiel Körperverletzung zu belangen, waren erfolglos, der Staat stützte das Vorgehen der Forscher und ging gegen Exzesse nicht vor. Der Mensch, bzw. der sozial ausgegrenzte Mensch wurde zum Forschungsobjekt eines reduktionistischen naturwissenschaftlichen Weltbildes.

Dies galt auch für den Bereich der „Chirurgie“. Die schon in früherer Zeit durchgeführten Vivisektionen an Tieren wurden auf Menschen übertragen und mit dem höheren Ziel, dem sie dienten, gerechtfertigt: der wissenschaftliche Fortschritt sei von elementarem Interesse für die Gesellschaft. Nahtlos scheint das mittelalterliche System übernommen worden zu sein, das „tötbare Leben“ zum Tode Verurteilter für die Forschung zu nutzen gegen die Hoffnung auf eine Anrechnung als Strafverbüßung im Falle des Überlebens… Das Arzttum, besonders auch das Arzttum im Kriege, erfordert in dieser Geisteshaltung Mut, Grenzen zu überschreiten und stellt die Spitze der Mannhaftigkeit dar. In diesem Sinn ist folgerichtig die medizinische „Forschung“ im 3. Reich durch die Menschenversuche in den KZs keine Ausgeburt von Hass und Menschenverachtung, sondern die konsequente Endstufe dieser entmenschlichenden und entseelenden Vorgehensweise, die als Metapher auf die gesamte Gesellschaft, den Volkskörper, angewendet wird: dieser wird gesundet, in dem die kranken, minderwertigen Teile entfernt werden.

Der letzte Teil des Buches befasst sich mit der Verwertung von Leichenteilen durch die Übertragung bzw. Verpflanzung von Organen. Dieses Thema ist nicht diskutierbar, ohne daß man den Begriff „Tod“ derart fasst, daß er als Kriterium für ärztliches Handeln verwendbar ist. Seit 1997 ist dafür in Deutschland mit dem Transformationsgesetz die gesetzliche Grundlage geschaffen, hier wird die Feststellung des Hirntods als Kriterium festgeschrieben [9]. Bergmann geht ausführlich auf die Probleme, die mit der Feststellung des Hirntods und der eigentlichen Organentnahme zu tun haben ein, bei der die Totenwürde des Spenders oftmals sehr angegriffen wird und auch ansonsten viele der mit Sterben und Tod verbundenen Tabus verletzt werden. Letztlich plädiert sie für eine Rückkehr zu einer ganzheitlichen Medizin, die diese Konzentration auf einzelne Organe und Körperteile zugunsten einer Gesamtbetrachtung des Menschen als Geist/Körper-Wesen aufgibt.


…Das Buch von Bergmann einzuordnen fällt nicht ganz leicht. Der erste Abschnitt, in dem sie über die vierhundert Jahre Pest in Mitteleuropa schreibt und über die Prägung, die sie im kollektiven Bewusstein hinterließ, ist hochinteressant. Es gelingt ihr hier ganz hervorragend, Zusammenhänge deutlich zu machen, historische Entwicklungen aufzuzeigen, die bis in die Gegenwart reichen (Stichworte: SARS, Vogelgrippe, MKS u.a.) und beispielsweise Massnahmen wie Quarantäne, Isolierung, Impfung, Keulung, Stigmatisierung umfassen.

Je näher wir der Neuzeit kommen und sich eine „moderne“ Medizin herausbildet, desto deutlich sind die Vorbehalte Bergmanns zu spüren. Die Person des Scharfrichters, der auch als Heiler fungiert, das Bemühen, ein rationales Erklärungsmuster für die Katastrophen wie die Pest zu finden, die in eine Medizin führen, die handwerklich und invasiv den Leichnam seziert (Stichwort: anatomisches Theater) und damit zum Objekt macht und die Descartes´sche Polarität Geist-Körper ganz praktisch umsetzt, all das ist ihr suspekt. Je näher wir zeitlich der Jetzt-Zeit kommen, desto mehr gewinnt man aus dem Buch den Eindruck, die forschende Medizin dieser Zeit sei eine durchweg kriminelle, menschenverachtende Tätigkeit gewesen – ob dieser Eindruck, der die Auswüchse für das Ganze nimmt, korrekt ist, kann der normale Leser, der kein Fachmann ist, wohl nicht beurteilen.

Ganz exponiert äußert sich Bergmann abschließend zum Thema der Organtransplantationen und zum Hirntod-Konzept. Diesen Abschnitt würde ich als tendenziell und nicht objektiv einstufen, die Autorin intendiert hier eine massive Ablehnung der Transplantationsmedizin. Einen Satz wie „Mit Ausnahme der nationalsozialistischen Ära, als der Staat in enger Verschmelzung von Justiz und Medizin auf Grundlage eines erbbiologischen Diagnoseschemas die massenhafte Durchführung von Sterilisationen als „Therapie“ für das Wohl des „Volkskörpers“ anordnete, ist es ein Novum in der Geschichte des modernen Staates, die Durchsetzung einer sehr speziellen und im Tötungsverdacht stehenden Therapieform zur staatseigenen Aufgabe zu erklären.“ muss man sich auf der Zunge zergehen lassen. Die staatliche Förderung der Transplantationsmedizin wird hier – mit dem luziden Hinweis, man würde gerade dies nicht machen – in Analogie gesetzt zu den erbbiologischen Exzessen des Nationalsozialismus, ferner wird (zum wiederholten male) suggeriert, sie würde die Organspender bei lebenden Menschen vornehmen und diese erst durch die Spende töten.

Bei aller Kritik, die am Hirntodkonzept geäußert werden können, verschweigt Bergmann wichtige Fakten. Der lebende Eindruck, den ein Hirntoter macht und der es so schwer macht, ihn als Leiche zu sehen, ist ein künstlich aufrecht erhalter Zustand. Wenn nach Feststellung des Hirntods (für den Fall, daß keine Organentnahme erfolgen soll) die künstliche Beatmung auf jeden Fall abgeschaltet wird, bleibt das Herz nach kurzer Zeit stehen und der seit alters her „gewohnte“ Herztod tritt ein, die Atmung setzt aus und der Körper verliert Farbe und wird kalt.

Auch auf die klare Feststellung, daß ein Verzicht auf Organtransplantationen den frühzeitig Tod vieler Menschen bedeuten würde, die mit transplantierten Organen länger leben würden, verzichtet Bergmann. Im Gegenteil versucht sie aufzuzeigen, welche Nebenwirkungen und Nachteile mit der Transplantation für den Patienten verbunden sind. Verdeutlicht man sich jedoch, mit welcher Energie Menschen, die im Sterbeprozess liegen, oft noch für manchmal nur ein paar Tage weiteres Leben kämpfen und bereit sind, Belastungen dafür auf sich zu nehmen, relativieren sich diese Ausführungen der Autorin, die auf der letzten Seite ihres Buches den Wunsch nach einer neuen, ganzheitlich orientierten Ausrichtung der Medizin mit entsprechenden zweckgebundenen Neudefinitionen des Lebens und des Todes, der die therapeutische Verwertung .. von Körperteilen sterbender Patienten methodisch ausschließt. .. und äußert auch hierbei wieder polemisch unterstellt, daß transplantierte Organe von lebenden Menschen stammen.

Diese Kritik hat nichts damit zu tun, daß auch ich der Ansicht bin, daß der Mensch als Wesen seine Sterblichkeit annehmen muss und nicht alles, was im medizinischen Sinn machbar erscheint, auch durchgeführt werden sollte. In diesem Sinne sind selbstverständlich ebenso medizinische Forschungsvorhaben auf Sinnhaftigkeit zu überprüfen [10]. Meine Kritik bezieht sich vielmehr auf die Darstellung der Autorin, die zum einen prinzipiell negativ ist und die zum zweiten immer wieder suggeriert, ein Organspender würde (entgegen dem, was allgemein anerkannt ist) erst durch der Organentnahme getötet. Im Gegensatz zu dieser Andeutung ist nach korrekter Hirntodfeststellung und dem nachfolgenden Abschalten der künstlichen Beatmung (in Deutschland ca. 4000 mal pro Jahr) noch niemand wieder „aufgewacht“ [9].


Der entseelte Patient ist somit kein einfaches Buch, es ist sicher nicht für den Massenmarkt geschrieben. Wer es liest, muss bereit sein, sich durch komplizierte Satzkonstruktionen zu wühlen und entsprechenden Gedankengängen zu folgen. In weiten Teilen lohnt sich diesund belohnt mit neuen Erkenntnissen und einer Vielzahl von Fakten.

An mancher Stelle hätte ich mir allerdings mehr Genauigkeit gewünscht. Im Abschnitt beispielsweise, in dem es um Anatomische Theater geht, werden die Begriffe: Vivisektion, Menschenversuch, Menschenvivisektion, Menschenexperiment, Menschenopfer, Humanversuch verwendet, ohne daß deutlich wird, ob dies Synonyma sind oder daß sie gar definiert wären. Ähnliche Fragen wirft die Verwendung der Begriffe Hirntod, Koma, hirntodverdächtig, hirnsterbend auf, die man gerne – vor allem hinsichtlich einer evtl unterschiedlichen Bedeutung – definiert gesehen hätte. Auch diese kleinen Nickeligkeiten wie „IG Farben (heute: BASF)“ [vgl 5] untergraben im großen Zusammenhang des Buches ein wenig das Vertrauen in die Sorgfalt der Autorin. Daß das abschließende Kapitel, das sich mit der Transplantationsmedizin befasst, meines Erachtens nicht geeignet ist, über diesen Themenkomplex zu informieren, weil die Autorin hier mit einer eindeutig ablehnenden Grundeinstellung nicht mehr objektiv darstellt, mindert den ansonsten guten Gesamteindruck des Buches in meinen Augen erheblich.

So bleibt mir abschließend zu diesen hochinteressanten Buch leider nur zu sagen, daß das Lesen durchaus ein Gewinn ist, man es mit einem kritischen Auge betrachten sollte.

Links und Anmerkungen:

[1] zur Autorin: http://www.kuwi.europa-uni.de/de/….bergmann_anna/index.html
[2] zur Geschichte der Pest siehe auch diesen Übersichtbeitrag der Wiki:  http://de.wikipedia.org/wiki/Geschichte_der_Pest
[3] wobei interessant zu wissen wäre sowohl, was für diesen Zeitraum unter „Deutschland“ verstanden wird, als auch das Zustandekommen der Zahlen.
[4] ich erlebe gerade im engen Freundeskreis, daß fest daran geglaubt wird, die verstorbene Mutter würde jetzt, von den Behinderungen ihres irdischen Daseins befreit (Krankheiten, Demenz), wieder aktiv und helfend in das Leben der Kinder eingreifen, für die Betroffenen eine Vorstellung mit viel Trost.
[5] 1950 verfügten die Alliierten in den Westzonen die Entflechtung der I.G. Farben. Am 30. Januar 1952 entstanden hieraus die folgenden 11 Unternehmen: Agfa, BASF, Cassella GmbH, Chemische Werke Hüls AG, Bayer AG, Hoechst AG, Duisburger Kupferhütte AG, Kalle & Co. AG, Dynamit AG, Wasag Chemie AG und Mainkur AG. (Quelle: Wiki-Beitrag zur BASF: http://de.wikipedia.org/wiki/BASF). Die Formulierung im Buch (S. 77) im Zusammenhang mit der Produktion von Zyklon B „I.G.-Farben (heute: BASF)“ ist zumindest missverständlich, zumal selbst die Produktion des Giftgases nicht bei der „BASF“, sondern bei der „Degesch“ (Deutsche Gesellschaft für Schädlingsbekämpfung) erfolgt war.
[6] Wiki-Artikel zu Vesalius: http://de.wikipedia.org/wiki/Andreas_Vesalius
[7] Philip Bethge weist in einem Aufsatz darauf hin, daß diese skurril anmutende Einstellung durchaus ihre humanen Seiten hat: heutzutage wird ein Hund, der ein Kind verletzt, häufig sofort aus dem Verkehr gezogen, sprich eingeschläfert. Früher hätte er ggf einen Prozess bekommen und damit eine Chance…. (denn das falsche Verhalten, das zu solchen Unfällen führt, liegt oft beim Menschen, nicht beim Hund…), in: Philip Bethge: Kriminelle Käfer, DER SPIEGEL 9/2015, S. 122
[8] Philip Bethge: Die Heilkraft des Todes in: http://www.spiegel.de/spiegel/a-604175.html
[9] vgl: Klaus Schäfer: Hirntod, Buchvorstellung hier im Blog:  https://radiergummi.wordpress.com/2014/10/26/klaus-schafer-hirntod/
[10] Das Vorhaben, über den diese Meldung berichtet, wäre sicherlich so etwas, dessen Sinnhaftigkeit zu hinterfragen wäre: Ulli Kulke: 2017 soll der erste Kopf transplantiert werden; in: http://www.welt.de/vermischtes/article137912632/2017-soll-der-erste-Kopf-transplantiert-werden.html

Die Besprechung des Buches gibt es auch als Audio-File im literatur RADIO bayern

Anna Bergmann
Der entseelte Patient
Die moderne Medizin und der Tod
diese Ausgabe: Steiner, HC, ca. 450 S., 2015

Ich danke dem Verlag für die Zuverfügungstellung eines Leseexemplars.

3 Kommentare zu „Anna Bergmann: Der entseelte Patient

  1. Zitat: „Auch auf die klare Feststellung, daß ein Verzicht auf Organtransplantationen den frühzeitig Tod vieler Menschen bedeuten würde, die mit transplantierten Organen länger leben würden, verzichtet Bergmann.“
    Und sie verzichtet zurecht. Organe können nur erfolgreich verpflanzt werden, wenn sie aus einem noch lebenden Körper entnommen werden und sozusagen „lebendig“ sind. Das ist Mord. Und es kann i.d.R. ein Organ eines 80-jährigen nicht mehr unbedingt verwendet werden. Das bedeutet ein Mensch (der dem die Organe entrissen werden) muss sterben damit ein anderer leben kann. Das ergibt für mich keinen Sinn!!!!
    Und es führt dazu, daß arme Menschen geschlachtet werden, damit reiche Menschen leben können.

    Hirntodkonzept – der größte Betrug aller Zeiten. Ein Mensch sollte sowieso zu Hause sterben, wenn möglich. Das Konzept vom Hirntod wurde nur entwickelt, um noch lebendigen Menschen noch lebendige Organe entreissen zu können. Es gibt keinen Hirntod. Wenn ein Mensch stirbt dann ist er tot wenn alle Organe die Funktionen eingestellt haben, er nicht mehr atmet und seine Seele den Körper verlassen hat. Wenn das Blut des Menschen abgekühlt ist, der Körper nach und nach eiskalt wird…….dann ist ein Mensch tot.
    Dazu braucht es keine Geräte und keine unsinnigen Konzepte von Hirntod u.ä, die nur der Geschäftemacherei dienen und den Menschen als Ersatzteillager sehen. Die Menschen in der heutigen Gesellschaft bekommen das Sterben und den Tod fast gar nicht mehr zu Gesicht. Gestorben wird einsam und allein in Krankenhäusern, Altenheimen und Hospizen. Also weiß kaum jemand mehr wie der
    Tod „aussieht“, deshalb kann man der Masse auch den Schwachsinn vom Hirntod glaubhaft darstellen.

    ZItat: „Die staatliche Förderung der Transplantationsmedizin wird hier – mit dem luziden Hinweis, man würde gerade dies nicht machen – in Analogie gesetzt zu den erbbiologischen Exzessen des Nationalsozialismus, ferner wird (zum wiederholten male) suggeriert, sie würde die Organspender bei lebenden Menschen vornehmen und diese erst durch die Spende töten“
    Und damit hat die Autorin absolut recht. Die Verbindung zum Nationalsozialismus ist gerechtfertigt, denn diejenigen die damals Hitler und Konsorten an die Macht gebracht haben um Deutschland ein für alle mal zu vernichten sind auch die Leute die uns heute regieren.

    Wie kommen Sie eigentlich dazu zu empfehlen, daß man das Buch mit einem kritischen Auge lesen sollte? Weil Ihnen der Inhalt teilweise nicht passt? Was sind Sie? Ein Richter über Wahrheit und Lüge? Sollte das nicht jeder für sich selbst entscheiden dürfen?

    Sie sagen die Sätze seien zu kompliziert? Denken Sie denn ein Buch mit einem solchen Thema wird von geistig Minderbemittelten gelesen?
    Wer zu dumm ist ein Buch zu lesen das von einem gebildeten Menschen in vernünftigem Deutsch geschrieben ist, der sollte einfach Mario Barth einschalten, denn den versteht auch der größte Idiot noch.

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    1. ich habe noch einmal über ihren kommentar nachgedacht, weil ich meine, darin viel wut und auch einen anflug von aggression zu spüren. haben sie unter umständen in diesem kontext ‚organtransplantation, hirntodfeststellung‘ negative erfahrungen machen müssen? das täte mir wirklich leid….

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