Charles Scott Richardson: Das Ende des Alphabets

ABC cover

Der 1955 in Toronto geborene Autor Charles Scott Richardson [1] beweist in diesem schmalen Bändchen offenbar ein Faible für ungewöhnliche Namen.. seine beide Protagonisten heißen Ambrose Zephyr und Zappora („Zipper“) Ashkenazi (A.Z. und Z.A.). Die beiden sind miteinander verheiratet, auch wenn Zipper („…eine Frau, die kaum wie eine andere in sich selbst ruht…„)ihren Namen beibehalten hat. Sie leben in einem viktorianischen Reihenhäuschen in London, das Haus ist mit Büchern vollgestellt, ein behutsam und mit Bedacht renoviertes Heim. Kinder haben sie keine. Was sie haben oder vielmehr nicht mehr haben, ist Zeit, denn ein Arzt hat Ambrose nach einer Routineuntersuchung mitgeteilt, daß er noch dreißig Tage plus minus einem zu leben hat. Da wir nicht erfahren, was für eine Krankheit einer derartig präzise Diagnose erlaubt, ist es wohl statthaft, davon auszugehen, daß der Autor weniger auf eine Krankheitsgeschichte abzielt als vielmehr auf die Frage: was möchte ich noch einmal unbedingt tun und erleben, wenn ich weiß, daß mein Leben in (hier) einem Monat endet?

Während Zipper im ersten Moment völlig verzweifelt und hilflos ist, holt Ambrose einen alten Koffer unter dem Bett hervor und schüttet ihn aus. Zum Vorschein kommen Sachen aus seiner Kindheit und seiner Jugend. Schon früh war er vom Alphabet fasziniert, er zeichnete und malte Buchstaben und er fasst jetzt den Plan, gemeinsam mit seiner geliebten Frau Zipper das Alphabet abzureisen: A wie Amsterdam, B wie Berlin, C wie Chartres…. G wie Gizeh, H wie Haifa, I wie Istanbul.. jeden Tag einen anderen Ort, eine andere Stadt, viele verknüpft mit Erinnerungen, mit Erlebnissen….

Wir begleiten die beiden, stehen mit ihnen in einem Amsterdamer Museum vor einem Velasquez, über den die beiden reden, dann in einem anderen Museum vor einem Rembrandt. Im barbarischen Berlin lernt Ambrose, daß es jetzt selbst hier lachende Menschen gibt und Farben, in Chartres finden wir ihn auf dem Boden der altehrwürdigen, riesigen Kathedrale liegend und den Raum und das Licht auf sich wirken lassen…. so reisen die beiden jeden Tag in eine andere Stadt, frischen Erinnerungen auf an die Kindheit, an gemeinsam Erlebtes, an ihr erstes Zusammentreffen in Paris, wohin Zipper viel lieber reisen würde als jeden Tag in eine andere Stadt… die Reise geht nicht endlos, auch wenn Richardson nur sehr punktuell daran erinnert, daß Ambrose sterbenskrank ist, in Istanbul beschließen sie die Rückkehr in das Londoner Häuschen…. hier stirbt Ambrose wie vorausgesagt in den Armen von Zipper.


Es ist ein seltsamer Plot, den der Autor sich ausgedacht hat. Eine ominöse Krankheit, die nur durch Zufall entdeckt wird, die offensichtlich nur punktuell Schwierigkeiten macht, die aber andererseits mit der er mit der Zuverlässigkeit eines Uhrwerks nach „einem Monat plus/minus einem Tag“ zum Tod führen wird [2].  Auch diese Reise, jeden Tag eine andere Stadt, ist im Grunde ja eher eine Tortur, die anstrengenden Reisen selbst, deren Organisation etc pp läßt der Autor dann auch aussen vor… gut, also insofern eine Geschichte über die Frage: was würde man machen, wenn man genau weiß, daß man in x Tagen sterben wird? Der Protagonist dieses Büchleins, Ambrose, unternimmt diese Reise mit der Liebe seines Lebens, eine Zeitreise zurück in die Erinnerungen, eine Abschiedsreise vom Leben, auch eine Liebesgeschichte, die noch einmal zwischen diesen beiden erlebt wird.

Zwar gelingen dem Autor ganz wunderbare Momente, kurze Sätze nur, die sehr berühren, die voller Gefühl sind und sehr sensibel, aber durch diese seltsame Randbedingung, die alles mit der Sicherheit eines Countdowns beenden wird, ist immer ein irreales Moment in der Geschichte. Der bevorstehende Tod wird auch nicht thematisiert, auch zwischen den beiden Eheleuten wird darüber kaum geredet, im Gegenteil wird Ambrose unwirsch, wenn ihn Zipper fragt, ob er zum Beispiel Angst hat. So ist die Reise auch ein Versuch der Verdrängung, des Ignorierens, des Nicht-Wahrhaben-Wollens, dem auch der Autor unterliegt….

Mein Eindruck von diesem schmalen Roman ist daher zwiespältig. Sehr sensibel, einfühlsam, mit viel Gefühl geschrieben – in dieser Hinsicht eine gelungene Liebesgeschichte. Auf der anderen Seite irritiert mich die etwas gekünstelte Rahmenhandlung, die einfach so im Raum steht und nicht weiter behandelt wird, doch ziemlich.

Links und Anmerkungen

[1] Autorenseite beim Verlag: http://www.piper.de/autoren/charles-scott-richardson-2023
[2] Warum der Klappentext von 26 Tagen redet, ist mir nicht klar, daß aber viele, die dieses Buch vorgestellt haben, sich offensichtlich am Klappentext und nicht am Text des Buches orientierten, schon…

Charles Scott Richardson
Das Ende des Alphabets
Übersetzt aus dem Englischen von Carina von Enzenberg
Originalausgabe: The End of the Alphabet, Toronto, 2007
diese Ausgabe: Piper Verlag, HC, ca 143 S., 2007

5 Kommentare zu „Charles Scott Richardson: Das Ende des Alphabets

  1. Hallöchen,
    ich habe gerade diese Rezension gefunden als ich gegoogelt habe und ich kann deine Eindrücke vollkommen verstehen. Meine Rezension zum Buch wird morgen online gehen und ich habe deine Rezension bei mir mit verlinkt. Ich hoffe, dass das für dich okay ist! :)

    Liebst, Lotta

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  2. Lieber Flattersatz, aufgrund Ihrer Rezension habe ich mir dieses Büchlein auch bestellt und sie jetzt nach dem Auslesen noch einmal gelesen.
    Ich habe auch mit anderen darüber gesprochen, was sie in so einem Fall mit dieser Diagnose machen würden: keiner mochte und konnte vielleicht auch nicht, eine Antwort darauf geben. Es ist ja ein irrationaler Zustand und die Zeit rast und ich konnte die Verweigerung Ambrose , den Tod nicht zum Gesprächsgegenstand zu machen, gut nachempfinden, ich zitiere mal:
    „…Und was ist der Punkt? fragte er…..Womit noch auseinandersetzen. Was soll ich deiner Meinung nach tun?
    Es ernst nehmen. Dir Sorgen machen. Reden. Hast du keine Angst?
    Doch
    Und?
    Und was? Das ist alles, so wahr ich hier stehe. Da gibt es nichts zum Auseinandersetzen. Wenn es etwas gäbe, würde ich es tun. Aber da ist nichts, ich habe einfach nur schreckliche Angst, aber das betrifft dich nicht.
    Du selbstsüchtiger schweigsamer Scheißkerl. Und ob es mich betrifft.
    Wirklich? In weniger als einem Monat bist du noch am Leben……. “

    Eben…..er muß gehen, sie darf bleiben, auch wenn sie der Verlust schwer trifft, aber sie kann weiter…leben.

    Das Büchlein würde sich auch als Diskussionstoff in einem Lesekreis eignen.

    Nachdenkliche liebe Grüße an Sie
    Karin

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