Bernhard Schlink: Olga

Seit dem Vorleser gehört Bernhard Schlink zu den auch international profilierten deutschen Autoren, dieses Buch hat zu Recht eine riesige Fangemeinde gefunden [Besprechung hier im Blog: Bernhard Schlink: Der Vorleser]. Sein neuester Roman ist Olga, der wiederum eine Frauenfigur im Zentrum des Geschehens hat, er wird zumindest in der Blogosphäre mit ähnlichem Lob zur Kenntnis genommen und besprochen.

Das Leben dieser Olga Rinke überstreicht viele Epochen deutscher Geschichte. Es begann im Kaiserreich, sie durchlebte den Ersten Weltkrieg, die Zeit zwischen den Kriegen mit ihren radikalen Veränderungen, die die Weimarer Republik in das Dritte Reich münden ließen, nach dem nächsten Krieg musste sie aus ihrer angestammten Heimat fliehen, eine Flucht, die sie in die spätere BRD, nach Heidelberg, führte. Dort verdiente sie sich als Näherin noch etwas zu der Pension, die ihr der neue Staat für ihre Anstellung in früheren Zeiten als Lehrerin in Preussen gab. Gestorben ist sie als über Neunzigjährige, den Fall der Mauer und die neuen Zeiten mit der Globalisierung hat sie nicht mehr erlebt. Letztere wäre ihr wahrscheinlich suspekt gewesen, ein Wahn nach Größe auch dies, ein prinzipieller Wahn, den sie ein Leben lang in den Ereignissen und Menschen konstatierte.

Olga war nicht immer Näherin, daß sie einmal Lehrerin werden würde, war ihr jedoch ebenso wenig in die Wiege gelegt. Das stille Kind, das sich nur umschaute in fremder Umgebung, war Kind armer Eltern in Breslau, verwaiste früh und wurde von der Großmutter, die lieblos zu ihr war, auf dem Land aufgezogen. Olga kämpfte sich durch diese schwierigen Jahre durch, war intelligent, sehr fleißig und strebsam und obwohl kaum einer den Sinn darin sah und sie förderte, schaffte sie es im Selbstunterricht, die Aufnahmeprüfung für das Lehrerinnenseminar zu bestehen, später arbeitete sie als Lehrerin.

Außenseiterin sucht Außenseiter. Olga war nicht so wie die anderen Kinder, sie stand immer etwas abseits, behauptete sich jedoch. In Herbert fand sie ihr ‚männliches‘ Pendant, Herbert, der Sohn des Guts- und Brauereibesitzers war ein Läufer: bevor er als Kleinkind überhaupt stehen konnte, wollte er schon losrennen. Die Weite, die Leere, die Unendlichkeit war sein Ziel… Sie wurden Freunde, zu dritt, Viktoria, die Schwester Herberts komplettierte die Gruppe, doch nur eine zeitlang, denn als später aus der Freundschaft Liebe wurde, versuchte Viktoria, diese nicht standesgemäße Verbindung zu torpedieren: es misslang ihr, die Gefühle der beiden füreinander erwiesen sich als stärker.

Die Sehnsucht nach der Leere, der Weite, der Unendlichkeit verließ Herbert nicht, auch als Erwachsener gab er ihr nach. Als Gardesoldat ging er nach Südwest, die Hereros dort am deutschen Wesen genesen lassen, später dann bereiste er andere Länder in Südamerika beispielsweise, aber auch Karelien und die Kola-Halbinsel. In den Zwischenzeiten, wenn er, der vom einen kleinen Erbe zehrte, weil die Eltern u.a. auch wegen Olga, ihm keine finanzielle Unterstützung gewährten, Olga besuchte, glänzten seine Augen vor Glück, wenn er erzählte, aber eine innere Unruhe trieb ihn bald wieder in die Ferne. Für Olga waren diese Unternehmungen Zeichen dafür, daß Herbert ein großes Kind geblieben ist, Menetekel einer Sucht nach Größe, die unangemessen war. Doch die leuchtenden Augen Herberts waren ihr ganzes Glück, so daß sie schwieg und dieses kleine Glück genoß. War sie glücklich mit ihm? In seinen Grenzen ja, aber es war richtig, daß das, was sie vermisste, er zu geben nicht fähig war. Später einmal werden wir erfahren, daß sie das Glück mit ihm als holpriges Glück empfand.

Seine Berufung schließlich fand Herbert in der Arktis. Die Jahre vor dem ersten Weltkrieg verbrachte er damit, eine Expedition zu finanzieren und zusammenzustellen, die die Nordostpassage erkunden sollte. Es gelang ihm – mehr oder weniger, denn nach Jahren der Planung verzögerte sich die Abreise, so daß das Schiff früh in den Winter kam. Es wurde nach ihm, dem Leiter der Expedition, gesucht, mehrere Rettungs- und Suchexpeditionen aufgestellt, doch nie wurde eine Spur von ihm gefunden, einige der Mannschaftsmitglieder jedoch überlebten. Der Beginn des Ersten Weltkrieges dann beendete die Sucherei [Dieser Passage in Schlinks Roman liegt die Deutsche Arktische Expedition (https://de.wikipedia.org/wiki/Deutsche_Arktische_Expeditionunter der Leitung von Herbert Schröder-Stranz zugrunde, überhaupt ist Schlinks Herbert dieser Figur nachempfunden (https://de.wikipedia.org/wiki/Herbert_Schröder-Stranz). Unwillkürlich ist mir in diesem Zusammenhang auch die Payer-Weyprecht-Expedition eingefallen, die einige Jahre zuvor ähnlich großspurig, aber laienhaft geplant und in Angriff genommen worden war und die Christoph Ransmayr in seinem Die Schrecken des Eises und der Finsternis (https://radiergummi.wordpress.com…finsternis/) so fantastisch zu einem Roman verarbeitet hat.]


Es ist interessant, Schlinks Roman stellt eine Frauenfigur, Olga, in den Mittelpunkt und ich habe bis hierhin fast nur von Herbert geredet, der die meiste Zeit gar nicht da, sondern in der Ferne, war. Doch das hat seine Berechtigung, denn die Liebe Olgas zu Herbert war der zentraler Punkt im Leben dieses Menschen Olga, die später nie wieder jemand anderen an ihre Seite holte. Es war nicht so, daß Herbert das Leben Olgas bestimmte, sie traf ihre eigenen Entscheidungen, teilweise sehr weit- und folgenreiche, bei denen sie durchaus das ‚Kindsein‘ ihres Geliebten berücksichtigte: sie hielt ihn wohl für manches nicht reif genug, jemand, der sie nie überragen wird. Aber Herbert war Bestandteil ihres Lebens und sie akzeptierte dessen innere Unruhe, die ihn immer wieder weg trieb und sie verlassen zurückließ. Sie war nicht angewiesen auf einen Mann an ihrer Seite, ganz im Gegenteil befürchtete sie wohl nicht zu Unrecht, daß ein Mann mit einer derart selbstständigen und selbstbewussten Frau, wie sie es war, in einer Ehe nicht zurecht kommen würde.


Es dauerte lange, bis Olga nach seinem Verschwinden auch innerlich loslassen konnte von Herbert, sie schrieb ihm, der mit seiner Expedition gescheitert war, noch lange Jahre Briefe nach Tromsø, dieser weit im Norden Norwegens liegenden Stadt, in der die Expedition ihren Ausgang nahm. Ob Herbert unterwegs war oder tot, machte für sie erst dann einen Unterschied, als sie die wirklichen Toten des Kriegs sah, erst in diesen Augenblicken ‚begriff‘ sie, daß ‚Fern-sein‘ und ‚Tot-sein‘ zwei Dinge sind…

Ihre skeptische Haltung zur Rassenlehre kostete Olga Jahre später die Stellung, eine Krankheit das Hörvermögen. Sie begann daraufhin als Näherin zu arbeiten, was sie nach der Flucht dann auch in der BRD tat. Dort fand sie Anschluss an eine Familie und besonders an den jüngsten Sohn der Familie, Ferdinand. Er erinnerte sie an Herbert und an Eik, den Jungen, um den sie sich früher, als sie noch Lehrerin war, intensiv gekümmert hatte. Die enge Bindung zwischen ihr und Ferdinand sollte Bestand haben bis über ihren Tod hinaus.


Olga, ein Roman in drei Teilen (in  fünfundzwanzig plus achtundzwanzig Kapiteln, sowie einundreißig Briefen und einer Nachbemerkung), dies relativiert den Umfang der dreihundertzwanzig Seiten des Buches auf ein gefühlt deutlich geringeres Maß: der Roman liest sich schnell. Wird der erste Teil der Geschichte noch von einem auktorialen Erzähler geschildert, übernimmt im zweiten Teil Ferdinand die Rolle des Chronisten, während in den Briefen an Herbert aus dem Jahren 1913 bis 1915 (sowie einige wenige, zum Teil sehr viel später geschriebene) Olga selbst das Wort ergreift.

Ein Roman aus vierundachtzig Momentaufnahmen, der einen Zeitraum vom Kaiserreich bis in die späte BRD mitsamt kolonialer Großmannssucht, mit Kriegen, Vor- und Nachkriegszeiten, Flucht und Rassenwahn sowie die Entwicklung einer unterschwellig brodelnden, ansonsten geordnet erscheinenden Republik umfasst, kann nicht analytisch sein. Die politischen Umstände in diesen Zeiten bilden einen Hintergrund, sie werden stichwortartig benannt (z.B. „Rassenlehre“) und triggern dann im Leser das dazu gehörige Panorama an. Nein, Schlink hat sich auf dieses Frauenschicksal konzentriert, das für seine Zeit ungewöhnlich war. Frauen, das waren damals vor allem im ländlichen Bereich, durchgängig noch die Wesen, die in Küche und Schlaf- und Kinderzimmer ihren Platz hatten, im Garten und mit der Nähnadel… Eine höhere Bildung, Ausbildung gar, war allenfalls den Bessergestellten aus den Städten ein Ziel für Mädchen. An einer Stelle des Buches läßt Schlink seine Olga bemerken, daß man jetzt als Frau nicht nur in Paris, sondern auch in Berlin studieren dürfe. So waren die Zeiten damals.

Was durchgängig ist durch alle Epochen dieser wechselhaften deutschen Geschichte ist der Größenwahn, den Olga konstatiert: der Drang nach Kolonien im Kaiserreich, die Schaffung neuen Lebensraums im Dritten Reich, auch im neuen Deutschland sieht sie diese Sucht nach Größe, anstatt sich um Naheliegenderes zu sorgen. Es sind die unruhigen Spätsechziger Jahre, in denen die Studenten auf die Straße gingen und z.B. gegen den Vietnam-Krieg demonstrierten, aber was hatten diese jungen Leute damit überhaupt zu tun…

In der Liebe ist der andere nie verfügbar. Dieser Grundsatz ist wesentlich für Olga, deren große Lebensliebe so oft abwesend und schließlich (aus einem für Olga nichtigem Grunde und sogar nach einer derben Schwindelei) sogar für immer verloren war. So lebte Olga ihr Leben durchaus ausgefüllt, die gemeinsamen Zeiten mit Herbert im Fülle genießend, aber sie war auch gerne Lehrerin, Chorleiterin und Orgelspielerin, erledigte die Arbeiten in ihrem Haushalt, freute sich darauf, die eingekochte Himbeermarmelade (dieses Jahr mit weniger Zucker) gemeinsam mit Herbert zu genießen.

Ich habe mir ihr Leben als stilles, zufriedenes Leben vorgestellt in diesen Abschnitten. Hier hatte ein Mensch seine Mitte gefunden, sich mit den Lebensumständen angefreundet und sie akzeptiert – was nicht heißt, daß ihr anderes nicht lieber gewesen wäre, eine höhere Sesshaftigkeit ihres Geliebten zum Beispiel, weniger Fantastereien und mehr gemeinsames Leben. Doch anerkennt sie das Glücksgefühl, das sie immer wieder bei ihrem Herbert spürt, wenn er von der Ferne schwärmt und den Möglichkeiten, die dort verborgen sind – und die zu heben er sich berufen fühlt. In dieser Hinsicht folgt Olga dann doch einem konventionellen Frauenbild, in dem dem Mann nicht widersprochen wird, sondern sein Wille geschehe…

Wird in den ersten beiden Teilen des Romans von Olga berichtet, so ergreift diese im letzten, dritten Teil selbst das Wort. Jahre nach dem Tod Olgas (für den sich Schlink etwas Unerwartetes ausgedacht hat) stieß Ferdinand, der sich im eigenen Alter auf das Sammeln von Postkarten spezialisierte, auf die Briefe von ihr, die sie Herbert damals postlagernd nach Tromsö geschickt hatte. Diese Briefe, in denen sie sowohl ihre Sorge, Sehnsucht (aber auch ihren Zorn) beschreibt, sich jedoch auch selbst Rechenschaft ablegt über ihre Wünsche und Entscheidungen, geben einen Blick frei auf das Innenleben dieser Frau, die sich – und damit handelt sie wiederum sehr konventionell – damit abgefunden hatte, daß ihr Geliebter seinen Launen und Bedürfnissen nach handelte, während sie zu Hause lebte und auf ihn wartete. War sich Olga darüber im Klaren, auch wenn sie die Hoffnung erst spät aufgegeben hatte, daß Herbert nie zurückkommen würde? Jedenfalls schilderte sie in ihren Briefen einige Tatsachen, die ein neues Licht auf die Beziehung werfen….


Ich schrieb eingangs, daß sowohl in Olga als auch im Vorleser eine Frauenfigur im Zentrum der Geschichte steht. Die Analogie kann man jedoch noch weiter spinnen, denn beiden Frauenfiguren steht eine jüngere Männerfigur zur Seite. War es bei Hanna Michael, so ist es bei Olga zum einen der immer ein wenig Kind gebliebene (und damit im übertragenen Sinn ‚jüngere‘) und später dann Ferdinand, der Sohn der Familie, in der sie nähte, letztere Beziehung hat jedoch keine erotische Komponente wie die beiden anderen. Uns so wie sich Michael im Alter um Hanna kümmert, so kümmert sich auch Ferdinand um Olga, sorgt sich um sie und ist noch lange nach ihrem Tod glücklich, daß ihm in Adelheids Gesicht das Gesicht Olgas begegnete.

Olga ist eine starke Persönlichkeit, fast zu stark, denn man muss wirklich nachdenken, ob diese Figur überhaupt einen „Mangel“ aufweist, so perfekt scheint sie: charakterstark, intelligent, tolerant und was einem sonst noch einfallen mag. Erst in ihren Briefen taucht hie und da ein Aspekt auf (aber auch hier sind es wenige), der dies relativiert – so wie Olga selbst ihren Zornesausbruch Herbert gegenüber sofort wieder rückgängig machen will. Und dabei ist sie so berechtigt, diese Wut, die sie empfand und sich von der Seele schrieb! Ach ja….

Mit Olga ist Schlink jedenfalls ein wunderbarer, einfühlsamer Roman gelungen, ein Roman fürs Herz und für die Seele, der diese berührt und streichelt. Viel mehr kann und sollte man wohl auch nicht von ihm erwarten. Es ist kein zeitgeschichtlicher Roman, den Schlink schrieb, einzig seine Analyse des Größenwahns, der Deutschland in jeder Epoche begleitete (und die auch nicht neu ist), scheint mir in dieser Hinsicht wert, festgehalten zu werden.

Ach ja, Olga…… wie sähe die Welt wohl aus, wenn sie von solchen Menschen, wie du einer warst, regiert würde, anstatt von Menschen, die damit prahlen, daß ihr Knopf größer ist als der des anderen…..

Bernhard Schlink
Olga
diese Ausgabe
: Diogenes, HC, 320 S., 2018

Ich danke dem Verlag über die Überlassung eines Leseexemplars.

6 Kommentare zu „Bernhard Schlink: Olga

  1. Eine wunderschöne Beschreibung eines literarisch hochstehenden Buches, das mich auch sehr beeindruckt hat. Inbesondere die Briefe, die Olga an Herbert geschrieben hat, haben mich sehr berührt.

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  2. Ich habe „Olga“ auch gelesen und kann dir in allem nur zustimmen! Olga ist fantastisch gelungen und ich liebe an diesem Roman insbesondere, dass er in vielem minimalistisch ist. Er umfasst zwar eine große Epoche, reißt einges an, kann aufgrund der Seitenzahl natürlich nicht ins Detail gehen, aber das ist auch gut so. Ich hätte ihn nicht anders gewollt.
    Schöne Buchbesprechung!
    GlG, monerl

    Gefällt 1 Person

  3. eine wundervolle Besprechung. Ich glaube, ich sollte das Buch unbedingt lesen: wegen deines Lobes, weil Schlink der Autor ist und weil Arktis und Norwegen vorkommen. Diogenes macht es in diesem Halbjahr wieder schwer, man kann sich gar nicht entscheiden, so viele wunderbare Titel. Ich bin gerade ganz vertieft im Roman-Debüt „Leinsee“ von Anne Reinecke. Viele Grüße

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    1. danke, danke, danke… du bist lieb, meine besprechung so zu loben! das freut mich natürlich sehr!!!!

      ja, diogenes ist eine wahre plage. viel zu viel und viel zu gute bücher. man kommt sich vor, wie der esel zwischen den beiden heuhaufen, zwischen denen er sich nicht entscheiden kann. auf ‚leinsee‘ stoß ich die letzten tage auch immer wieder, aber ich werde jetzt erst einmal von diesem japaner ‚die maske‘ lesen, natürlich auch von diogenes. und dann noch einen neuen McCarten. und jesmyn ward auch noch.. herr, schmeiss zeit vom himmel!!!

      p.s.: über die arktis ist übrigens nicht allzuviel im buch enthalten, das an dieser stelle ja aus olgas sicht schildert…

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