Martin Mosebach: Der Nebelfürst

Karte der Bäreninsel, erstellt von Theodor Lerner Bildquelle [B]
Karte der Bäreninsel, erstellt von Theodor Lerner
Bildquelle [B]
Bäreninsel, Insel im S. von Spitzbergen, zwischen 74 und 75° nördl. Br. und unter 19° östl. L. v.Gr. gelegen, merkwürdig durch das einzige Lager der produktiven Steinkohleformation, welches im Polargebiet existiert. Sie wurde 1596 von Barents entdeckt, von Keilhau 1827 geografisch untersucht, von L. v. Buch (Berl. 1847) beschrieben und 1868 von einer schwedischen Expedition aufgenommen. Danach bildet ihren nordwestlichen Teil eine Hochebenbe mit kleinen Seen. Im SO erhebt sich der Mount Misery bis 544 m. Die Insel besitzt infolge ihrer eigenartigen Lage (im Norden des Golfstroms) ein auffällig mildes Klima: Jahresmittel – 5,2° C. [Meyers Konversations-Lexikon 1890]


Einige Jahre später allerdings wurde dieser Beitrag im Meyers…. bearbeitet und er enthielt nun folgende Information: Im Auftrag eines Hamburger Syndikats nahm 1898 der Deutsche Theodor Lerner 85 qkm im Besitz, und 1899 hatte der Deutsche Seefischereiverein eine Station. [2] Dem Mosebach´schen Roman Der Nebelfürst liegt also ein historisches Ereignis und mit Theodor Lerner eine historische Figur zugrunde. Natürlich gibt es zu Theodor Lerner eine hinreichende Zahl von Fundstellen in Internet, deswegen hier nur ein grober Überblick über diese schillernde Figur, die Mosebach zur Hauptperson seines Romans gemacht hat.

Der reale Theodor Lerner [1] wurde 1866 in Antweiler an der Ahr geboren. Seine Begeisterung für´s Wasser und die Schifffahrt zeigte sich schon früh, als die Familie am Rhein lebte. Sowohl die Besuche des Gymnasiums (Linz und Düsseldorf) als auch des Studiums (Jura, Medizin, Nationalökonomie in Würzburg bzw. Bonn) blieben ohne Abschluss, stattdessen ging er nach Bremen und unternahm von dort aus mehrere Schiffsreisen. 1896/7 war er an der Vorbereitung der Ballonfahrt des Schweden Salomon August Andrée (1854-1897) beteiligt, der von Spitzbergen aus mit zwei weiteren Männern den Nordpol in einem Wasserstoff-Ballon überqueren wollte, Lerner fungierte als Reporter für eine Berliner Zeitung. Nachdem die Expedition Andrées offensichtlich gescheitert und der Ballonfahrer vermisst wurde, leitete Lerner mit dem vormaligen Fischkutter Helgoland eine Suchfahrt nach dem Forscher, bei der er die auf halben Weg nach Spitzbergen liegende Bäreninsel in Teilen in Besitz nahm: die Kohlevorkommen auf der Insel schienen ihm abbauwürdig und die Insel als Stützpunkt für die Hochseefischerei geeignet. Unwissentlich kommt Lerner mit seiner Bäreninsel-Aktion wohl geheimen Aktivitäten des Deutschen Reichs in die Quere [z.B. 3], jedenfalls erfährt er keinerlei offizielle Unterstützung und das Projekt scheitert letztlich. Dies ist der Punkt, an dem Der Nebelfürst von Mosebach einsetzt….


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Es ist ein fantasievoller Spaß, den sich Martin Mosebach rund um diesen historischen Fakt ausgedacht hat. Bei ihm ist Lerner ein Lokalreporter einer Berliner Zeitung, ausgestattet (im Urteil seines Chefredakteurs) mit ansteckender Dummheit, eingesetzt immer dann, wenn es brennt. Brände und deren Zerstörungswerk, die Verzweiflung der Betroffenen, der heroische Kampf gegen die Feuersbrunst – dies darzustellen ist ihm wohl gegeben. Und ausgerechnet er versäumt einen der großen Brände, den der Anilinfabrik (Agfa) Berlin-Treptow. Und warum? Weil der Kutscher, der ihn dorthin fahren sollte, diese imposante Persönlichkeit, diese auffallende Frau angefahren hatte und Lerner sich zur Hilfsleistung genötigt sah, ferner raunzte der Kutscher auf seine Frage zurück, es hätte sich um einen Fehlalarm gehandelt. Derart und diesbezüglich beruhigt kann sich Lerner der Dame widmen und ihr aus einer weiteren Verlegenheit helfen, indem er ihr eine Unterkunft verschafft.

Diese Dame, Frau Hanhaus (auf S. 4 des Schutzumschlages wandelt sie sich keck in eine Frau Neuhaus, aber Namen sind eh Schall und Rauch wie so vieles in diesem Roman…), diese Dame also wickelt Lerner ein. Sie ist der heimliche Star des Romans: sehr zielorientiert, sehr ergebnisorientiert, skrupellos kennt sie keine Probleme, sondern nur Lösungen. Und womit wickelt sie ihn ein? Mit dem schier wahnsinnig anmutenden Plan, auf den sie durch das Studium eines Zeitschriftenartikels gekommen ist: Lerner solle beim Chefredakteur seines Blattes um ein Schiff ersuchen, um damit (offiziell) den vermissten Ballonfahrer André suchen zu können. Käme er bei der Bäreninsel vorbei (dem eigentlichen, arkanen Ziel der Expedition) könne er diese kurzerhand in Besitz nehmen, sei sie doch (so entnahm Frau Hanhaus dem besagten Artikel, herrenlos, aber voller guter, vorzüglicher sogar, Steinkohle. Und einen Stützpunkt für die deutsche Hochseefischerei könne man dort ebenfalls errichten. Auf (nach erfolgter Inbesitznahme dann) Lerners Land.

Ein wahnwitzig anmutender Plan von Frau Hanhaus, aber dem um seinen Arbeitsplatz (es gab in Berlin nur eine einzige Zeitung, die nicht aktuell vom großen Brand berichtete….) fürchteten Lerner – was blieb ihm übrig, und ausserdem schmeichelte es ihm, leuchtete die Argumentation ihm immer mehr ein, je öfter er sie gedanklich umwälzte. Ähnlich erging es dem Chefredakteur, den die Sorgen durchaus plagten, musste er doch Verluste an Abonnementen hinnehmen, seit einiger Zeit schon, dann diese Pleite jetzt mit dem Brand – da käme ein Knaller wie die Suche nach dem vermissten Polarforscher und Ballonfahrer André gerade recht – wenn man es sich sorgfältig überlegt. Langsam also stieg das Fernersche Ansehen wieder in der Meinung des Redakteur und schließ- und endlich bekam er sein Schiff, eher ein Schifflein zwar: die Helgoland samt Kapitän und Suchmannschaft. Von der Bäreninsel war keine Rede, aber – so beruhigte Frau Hanhaus ihren Herrn Ferner, als sich bei diesem so etwas wie ein Gewissen regte, ein schlechtes zumal – wer könne denn ausschließen, daß André nicht gerade auf der Bäreninsel gestrandet sei? Zumindest könne man ihn dort ja suchen… und wenn man ihn dort dann fände…. um so besser!

Sie ist real, die Bäreninsel, die Männer erreichen sie mit der Helgoland weitgehend ohne Probleme, man schlägt Pfosten ein in den felsigen Boden, um das Gebiet abzustecken, daß Ferner derart in Besitz nimmt. Nicht ganz problemlos übrigens, weil ein gleichzeitig anwesendes russischen Kriegsschiff die Gebietsannexion nicht ohne weiteres anerkennt, war doch die Insel einst (ein Grab zeugt noch davon!) besiedelt von russischen ‚Altgläubigen‘, die sich ob der Frage, ob das Kreuzzeichen mit drei oder nur mit zwei an den Fingerspitzen zusammengelegten Fingern (von denen einer bei beiden Glaubensrichtungen jedoch der Daumen ist oder war) von anderen unterschieden und letztlich diejenigen, die Altgläubige genannt wurden, aus Russland wichen und auf der Bäreninsel eine Heimstatt fanden. Die vor Ort von beiden Parteien angestrebte Beurteilung der Situation durch höchste politische Stellen, an die man telegraphierte, blieb aus, man wollte auf der Ebene der Regierungen wohl keine Misstöne zwischen Russland und dem Reich aufkommen lassen.

War die Bäreninsel auch real, ebenso wie die Kohlevorkommen auf ihr, so schloss sich jedoch nach der Rückkehr Ferners mit der Helgoland von Frau Hanhaus betrieben eine von ihr en detail durchplante Mission an, das Projekt Bäreninsel zu vermarkten, indem vor allen Dingen ihr Potential oder das, was man darunter verstand, hervorgehoben wurde, denn, was dortens angetroffen worden war, hätte gneauso gut auch ’so‘ sein können. Und wenn es ’so‘ gewesen wäre, hätte es ebensogut auch so, also sozusagen ’noch so-er‘ sein können, und dieses letzte ’noch so-er-sein‘ wurde in den folgenden Wochen angepriesen, um Investoren zu finden. Aus den mühsam eingeschlagenen Pfählen wurden Anlagen, aus der oberflächlich angekratzten Kohle ein in den Berg getriebener Stollen, aus Kohlevorkommen wurden projektierte zwanzig Millionen Tonnen im Jahr, na ja, siebzig klingt möglicherweise viel lockender, und wenn schon siebzig, dann kann ebenso gut davon ausgehen, daß es hundert sind….

Mosebach entwickelt aus diesem Gedanken ein sehr unterhaltsam geschilderte Geschichte, bei der man ohne große Mühen die Parallelen zur heutigen Zeit erkennen kann. Die begnadete Hochstaplerin Frau Hanhaus, die ihren Herrn Ferner so vollständig in ihren Bann geschlagen hat, die potentiellen Investoren, die sich vom versprochenen Gewinn blenden lassen und glücklich sind, wenn ihnen das versprochen wird, was sie versprochen haben möchten, die von Sorgen Geplagten, die in dieser Investition ihre Chance sehen, das Schiff ihrer eigenen Geschäfte noch einmal auf einen Gewinn bringenden Kurs zu setzen, die Subalternen, die die notwendigen Gutachten schreiben, die angeblichen Verhältnisse bezeugen, weil sie dafür bezahlt werden…..

Letztendlich – so viel sei verraten – platzt das Geschäft, das eine gewisse Eigendynamik entwickelt hatte, auch weil notgedrungenermaßen noch andere beteiligt werden mussten, deren Geld und Beziehungen man brauchte, die aber nicht wirklich kontrolliert werden konnten. So wurden die Betrüger selbst zum Opfer, zudem waren sie an der einen oder anderen Stelle doch zu keck und die Verärgerten, die sich durch andere Quellen informierten, begannen, Druck zu machen…. ein Fakt, der Frau Hanhaus keineswegs zur Aufgabe brachte, sondern ihre Pläne noch exaltierter werden ließ…

Wie exaltiert, das sei hier nicht verraten, nur soviel noch, daß beide, sowohl unser Herr Ferner als auch Frau Hanhaus in Häfen einliefen, sozusagen, sie ihr Glück fanden und der Autor seine Geschichte für alle mit einem glücklichen Ende ausgehen ließ.

Der Nebelfürst, eine nette, unterhaltsame Geschichte, geschrieben in einem etwas alterthümlichen Stil, der der Zeit der Handlung angepasst ist, eine Geschichte, die ohne große Mühe Parallelitäten zu heutigen, aktuellen Vorgängen in der Weltwirtschaft erkennen läßt. Ein Lesespaß abseits des Mainstreams also.

Links und Anmerkungen:

[1] zur Person Theodor Lerners: Andrea  Rönz: Theodor Eduard Julius Lerner (1866-1931), Polarforscher; in: http://www.rheinische-geschichte.lvr.de/persoenlichkeiten/L/Seiten/TheodorLerner.aspx (Stand: 17.09.2016)
vgl. auch hier: Tilman Spreckelsen: Der Nebelfürst; in: http://www.faz.net/aktuell/wissen/…Index_2
[2] zitiert nach Klappentext des Buches
[3] Klaus Barthelmess: Bäreninsel 1898 und 1899: Wie Theodor Lerner eine Geheimmission des Deutschen Seefischerei-Vereins zur Schaffung einer deutschen Arktis-Kolonie unwissentlich durchkreuzte; in: http://epic.awi.de/28975/1/Bar2009c.pdf
Leider ist nur die erste Seite dieses Aufsatzes online.. zum Autoren siehe hier: http://www.cetacea.de/news/2011/02/22/klaus-barthelmess/

Bildquelle:

Karte: https://de.wikipedia.org/wiki/Bäreninsel; Urheber: Theodor Lerner (Stadtarchiv Frankfurt, Lerner Nachlass) [Public domain], via Wikimedia Commons (urheberrechtliche Schutzfrist ist abgelaufen)

Martin Mosebach
Der Nebelfürst
diese Ausgabe: Eichborn, (Die Andere Bibliothek (Sonderausgabe)), HC, ca 350 S., 2011

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