Isaac B. Singer: Schoscha

Der Roman spielt, obwohl er im ersten Teil kurz nach dem 1. Weltkrieg einsetzt, in der Morgendämmerung des 2. Weltkrieges im jüdischen Milieu Warschaus. Aaron Greidinger, die Hauptperson des Buches, wird als Sohn eines Rabbiners geboren. Er wächst in der jüdisch Tradition der Talumdisten auf, oder, wie er es im Buch sagt: „Ich bin mit 3 toten Sprachen aufgewachsen: Hebräisch, Aramäisch und Jiddisch (manche halten letztere nicht einmal für eine Sprache) ….. Obwohl meine Vorfahren sich vor etwa sechs- oder siebenhundert Jahren in Polen niedergelassen hatten, kannte ich nur ein paar Worte der polnischen Sprache. … Ich war in jeder Hinsicht ein Anachronismus.„. Es ist schon hier, bei der Schilderung der Lebensumstände des kleinen Aaron die kritische Haltung, eine sich andeutende Distanz zur jüdischen Lebensart zu finden. Er geht in die Cheder, die jüdische Grundschule, aber „.. Dort lernte ich nicht etwa Rechnen, Geographie, Physik, Chemie oder Geschichte, sondern die Gesetze, die zum Beispiel auf ein an einem Feiertag gelegtes Ei anzuwenden sind und auf die Opferriten in einem Tempel, der vor zweitausend Jahren zerstört wurde.

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In dieser Umgebung wächst Aaron heran. Seine liebste Spielgefährtin ist Schoscha, die etwas zurückgebliebenen Tochter der Nachbarin. Zwischen den beiden Kindern besteht eine starke Bindung, aber Aaron „.. war sich nicht bewusst, … daß meine Freundschaft mit Schoscha etwas mit Liebe zu tun hatte.“

Als Schoschas Familie umziehen muss, verlieren sich die beiden aus den Augen. An dieser Stelle macht der Roman dann einen Sprung an den Vorabend zum 2. Weltkrieg. Aaron versucht sich mit mehr oder meist weniger Erfolg als Schriftsteller. Er lernt den Amerikaner Sam Dreiman und dessen Begleiterin, die Schauspielerin Betty Slonim kennen und es ergibt sich, daß er ein Theaterstück für Betty schreiben soll. Zwischen den beiden springt schnell ein Funke über, ebenso wie es zwischen Aaron und Celia, die Frau seines Freundes Chaiml und ihrerseits Geliebte des jüdischen Intellektuellen Morris Feitelsohn, zu einer Liaison kommt. Nun ja, dann ist da auch noch Thekla, das Hausmädchen in dem Haus, in dem Aaron ein Zimmer gemietet hat. Auch diese tröstet er – und sie ihn – über einsame Stunden und gewisse Bedürfnisse hinweg. Und auch sein Verhältnis zu Dora, der überzeugten Kommunistin, die nach Russland will, besteht immer noch weiter.

Dann, eines Tages, will Aaron Betty die Krochmalnastraße zeigen, in der er aufgewachsen ist. Zum ersten Mal seit Schoscha aus seinem Blickwinkel entschwunden ist, schaut er nach, ob er sie noch findet. Und ja, er findet sie und Baschele, ihre Mutter. Und es ist wie vor zwanzig Jahren: Schoscha, die auch aufgrund einer Krankheit auf der Stufe eines 14jährigen Mädchens stehengeblieben ist, hat auf ihn gewartet, liebt ihn und in ihm ist seine Liebe zu ihr wieder lebendig.

Machen wir es kurz, sehr viel kürzer als es im Roman geschildert wird. Arele heiratet Schoschele, obwohl er damit bei allen auf Unverständnis stößt. Aber trotzdem bleiben ihm die anderen Frauen freundschaftlich verbunden, auch Schoscha lebt sich in die Rolle einer Ehefrau ein, ja, sie bittet ihren Arele sogar, das zu tun, von dem jener weiß, was sie meint, daß er tun soll….

Dies alles spielt sich im Dunstkreis der Bedrohung der Juden durch Hitler statt. Es ist allen klar, was passieren wird, wenn Hitler Polen angreift, keiner macht sich Illusionen darüber, wie es den Juden ergehen wird (obwohl ich bezweifel, daß die Phantasie für solches ausreichte [in der Quelle besonders Kapitel 5 (S. 42) zu den Verhältnissen in Warschau)…Trotzdem findet jeder eine Ausrede dafür, daß er Polen, Warschau, die Heimat nicht verlassen will. Alle scheinen wie auf Schienen eines ihnen unbekannten Schicksals zu leben, sie sind nicht in der Lage, von dieser vorgezeichneten Bahn abzubiegen und ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen, zumindest, solange es noch Zeit dafür ist. Stattdessen wird diskutiert, philosophiert, spekuliert …

Das Buch endet sehr plötzlich, ohne daß der Autor weiter über das Schicksal seiner Personen Auskunft gibt. In einem Epilog, 13 Jahre später und in Israel spielend, reicht er dies im Schnelldurchgang nach. Einige leben noch, viele sind gestorben, auch Schoscha, die wohl einfach nicht weiter leben wollte und auf der Flucht starb. Aaron ist mit Bettys Hilfe entkommen, auch Chaiml, Celias Mann, den er in Israel wieder trifft.

In einer Leserrezension bei amazon habe ich eine schöne Deutung für die Tatsache gefunden, daß Aaron so unverständlicherweise bei Schoscha bleibt, obwohl er ganz andere Möglichkeiten hätte, sogar zweimal die Chance zur Flucht ausschlägt: Schoscha ist ein Bild für das junge Israel, klein, schwach, auf andere zum Überleben angewiesen. Die anderen Frauen dagegen stehen für die großen Länder wie z.B die USA, Großbritannien. Was mir an dem Bild nicht gefällt ist die Tatsache, daß Schoscha stirbt, während Israel schon vom ersten Moment an sehr wehrhaft war und eben nicht unterging.

Ist das Verhalten Aarons vielleicht doch eher individuell zu deuten? Er, der viele Frauen liebte und von von ihnen wiedergeliebt wurde, hat hier einen Menschen, auf den im Grunde niemand eifersüchtig sein kann. Er kann Schoscha heiraten und die anderen Frauen trotzdem behalten, zumindest als Freundinnen. Celia und ihr Mann bieten ihm und Schoscha sogar an, zu ihnen zu ziehen…. Oder erklärt sich sein Verhalten mehr aus einem Verantwortungsgefühl gegenüber der ebenso liebens- wie bedauernswerten Schoscha, denn das ist sein Argument gegenüber Betty: „Es ist nicht nur Liebe…. Ich kann ein Kind nicht umbringen. Ich kann auch mein Versprechen nicht brechen…. Sie ist die einzige Frau, der ich vertrauen kann.

Ich habe früher, es ist jetzt schon Jahrzehnte her, viel von Singer gelesen. Er ist ein wunderbarer Erzähler, bringt ebensolche Dialoge zwischen seinen Hauptpersonen. Durch seine Beschreibungen bleibt das osteuropäische Judentum, die Welt des Schtetl, der jüdischen Traditionen und Mentalität, des gesamten jüdischen Lebens lebendig. Er bringt diese Kultur und damit auch eine der Wurzeln des modernen Israels nahe, ohne zu werten schildert er ein Zeitalter, das es mittlerweile nicht mehr gibt.

Facit: wer ein wenig Interesse an der Welt des osteuropäischen Judentums vor dem zweiten Weltkrieg hat, für den ist Singer eine wahre Fundgrube. Daß ich mir gerade „Schoscha“ zum Lesen aus dem Regal genommen habe, ist reiner Zufall.

Isaac B. Singer
Schoscha
dtv, September 2003, 336 S.
ISBN-10: 3423131241
ISBN-13: 978-3423131247

von mir gelesene Ausgabe:

dtv, 1982, 320 S.
ISBN: 3423017880

7 Kommentare zu „Isaac B. Singer: Schoscha

  1. Es ist eine halbe Ewigkeit her, daß ich Schoscha gelesen habe. Ich war damals schwer beeindruckt. Leider verschenkte ich das Buch, wollte jemandem eine Freude machen, doch der wusste es nicht zu schätzen, sagte, er sei dabei eingeschlafen. Seitdem fehlt es in meinem Regal. Jetzt weiß ich, ich muss es noch einmal lesen.
    Liebe Grüße

    P.S.
    Dein Blog ist großartig, ich vergesse hier die Welt. Danke.

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    1. liebe madame filigran, ich glaube nicht, daß ich schon mal ein so wunderbar ausgedrücktes lob bekommen habe, mein herz hüpft ein wenig schneller jetzt!! ich danke also dir ganz, ganz viel!!!

      ja, schoscha ist ein stilles, ein so berührendes, intensives buch… vielleicht wird man ruhig bei diesem buch, nachdenklich, sentimental, melancholisch… aber einschlafen? ;-) ich hoffe, du kannst dir das buch noch einmal besorgen….

      überhaupt haben diese bücher jiddischer autoren etwas, was ich kaum in worte fassen kann. als ob sie die welt etwas tiefer sehen als wir, etwas genauer, als ob sie um den schmerz wüssten, den die welt und das leben in sich tragen…

      ich danke dir für deine besuche hier bei mir!

      liebe grüße
      gerd

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      1. Lieber Gerd,
        und ich danke dir, daß du dich über mein Lob so freust, das hat mich wieder gefreut…

        Deine Beiträge, die mich ganz besonders ansprechen, drucke ich mir aus, und dann lese ich sie nachts noch einmal, oder auch zwei Mal, wenn alles still ist.

        Doch, du hast genau die richtigen Worte gefunden, du hast das so gut ausgedrückt, „als ob sie die Welt etwas tiefer sehen als wir, etwas genauer, als ob sie um den Schmerz wüssten, den die Welt und das Leben in sich tragen…“ Ja, sie wissen um diesen Schmerz, und deshalb sehen sie die Welt tiefer, das ist es, was mich so berührt.

        Liebe Grüße
        Madame Filigran

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  2. …schade dass ich nur per Zufall auf den Beitrag von Sara gestossen bin – denn auch mich hätten Saras alternative Interpretationen sehr interessiert.

    Denn, Liebe Sara – wenn ich als Leser auf „schwer Verdauliches“ oder gar „Unverständliches“ stosse und es anmerke, so ist das m.E. zunächst auch eine kleine Kritik am Werk – meine 13 Kinderjahre im Nachkriegspolen könnten hier und dort durchaus zu etwas anderen Leseerfahrungen geführt haben als einem Leser ohne diesen Aspekt … – das glaube ich schon.

    Liebe Grüße

    Stefan Bohr
    ( Autor der Amazon Rezension Schoscha )

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  3. schöner beitrag!
    als liebe seines lebens beschreibt aaron seine schoscha. die idee schoscha=israel gefällt mir auch :) aber der figur schoscha tut man unrecht, wenn mann (in diesem falle stefan bohr – denn offenbar hat er – wie er selbst zugibt – doch nicht alles so ganz verstanden ..) sie nur darauf reduziert..

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    1. ich danke dir für deinen besuch und es freut mich sehr, daß dieses kleine büchlein wieder mal aufmerksamkeit bekam…

      du schreibst, man würde schoscha unrecht tun, würde man sie so eindimensional als figur auf ein bild für den staat israel reduzieren. was meinst du denn, für was schoscha noch steht, oder welche bedeutung ihr zukommt?
      .

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