Sara Paretsky: Die verschwundene Frau

Die Privatdetektivin Vic Warshawski verläßt die große Medienparty, auf der sie eingeladen war und kann auf dem Rückweg ihr altes Auto gerade noch bremsen (und gegen einen Hydranten setzen), bevor sie den leblosen Körper einer jungen Frau überfährt. Wie sich schon bald zeigt, soll das demolierte Auto noch ihr geringstes Problem sein, denn die junge Frau, die kurz nach der Einlieferung in das Krankenhaus stirbt, ist offensichtlich misshandelt worden. Bevor jedoch durch eine Obduktion genaueres geklärt werden kann, verschwindet der Leichnam und bei Warshawski taucht die Polizei auf und ein korrupter Detektiv beschuldigt sie, die Frau überfahren zu haben und ihre Fahrerflucht zu kaschieren.

Notgedrungen fängt Warshawski an zu recherchieren. Die tote Frau, Nicola arbeitete als Kindermädchen für Robert Baladine, den Eigentümer von „Carnifice“, eines Sicherheitsdienstes, der sogar eine eigene Haftanstalt vor den Toren der Stadt betreibt. Die Tote war Insassin dieses Gefängnisses, nachdem sie Schmuck von Elenore Balantine gestohlen hatte. Angeblich war es ihr gelungen, aus der Haftanstalt zu fliehen, eine Erklärung, die Warshawski aber nicht glaubt.

Balantine ist skrupellos und brutal. Er versucht, Warshawski erst zu kaufen und dann, als dies nicht gelingt, einzuschüchtern. Einigen dieser Attacken kann Vic ausweichen, so findet sie das in ihrem Büro versteckte Kokain vor der plötzlichen Polizeidurchsuchung, aber letztlich erwischt Balantine sie doch und kann sie durch Lemour, den korrupten Polizisten, verhaften lassen. So kommt Vic genau an den Ort, an dem alles anfing, das Gefängnis, aus dem Nicola angeblich entflohen ist.

Und sie bleibt hier, zahlt die verhängt Kaution nicht, sie will hier ihrem Fall auf den Grund gehen. Dies gelingt ihr letztlich so „erfolgreich“, daß sie genau wie Nicola halbtot auf die Straße geschmissen wird. Im Gegensatz zu Nicola war sie jedoch besser in Form und hatte Freunde, die sich um sie kümmern, so daß sie überlebt und mit dem Material, das sie gesammelt hat, einen Plan schmieden kann, ihren Feind Balantine ans Messer zu liefern.

So viel zum Inhalt dieses immerhin fast 450 Seiten starken Romans.

Vic Warshawski ist so, wie man sich eine Privatdetektiv der alten Schule vorstellt: stur, beratungsresistent, geradeaus, immer pleite, immer seine Freunde um Hilfe bittend, uneinschüchterbar bis zur Selbstaufgabe. Das Gesetz wird auch schon mal in die eigene Hand genommen und die Erkenntnis, daß das Alter langsam doch anfängt, seinen Tribut zu verlangen, gewinnt langsam Raum in ihrem Denken. Die Zweifel, ob sie es sich noch lange erlauben kann, diesen im Grunde aussichtslosen Kampf gegen diese mächtigen, skrupellosen Geschäftemacher zu führen, wachsen, nicht nur bei ihr, sondern auch bei ihren Freunden.

Das Amerika, das in diesem Buch auftaucht, ist eine polare Gesellschaft: die Reichen, die im Überfluss schwimmen, an dem einen Ende und die Armen, Entrechteten, die sich ihrer Haut nicht wehren können. Dazwischen leben die Leute, die immer in Gefahr sind, abzustürzen, so wie Warshawski selbst. Die Beletage der Gesellschaft, wie Paretsky sie hier schildert, gleicht einem Haifischbecken, in dem der stärkere den schwächeren frisst, Rücksicht wird nicht genommen, nicht einmal im Kreis der eigenen Familie. So wird Robbie, der Sohn Balantines, der den Vorstellungen seiner Eltern so garnicht entspricht, seelisch immer wieder seelisch misshandelt, während die Mädchen so ganz nach dem Geschmack der Eltern geraten.

Einiges in dem Roman scheint etwas weit hergeholt, aber das macht nichts, das Buch ist trotzdem (oder gerade deswegen?) sehr spannend und man will es eigentlich kaum aus der Hand legen. Insbesondere die Passagen, die sich mit dem Innenleben im Gefängnis befassen, scheinen auf den ersten Blick (für europäische Verhältnisse) etwas übertrieben bzw. effekthascherisch, aber da die Autorin sich ausdrücklich auf einen Bericht der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch beruft, werden sie letztendlich zumindest in der Tendenz zutreffend sein.

Wenn ich es mir so überlege, hätte ich dann doch noch einen Kritikpunkt: Warum überhaupt gibt es diese Verwicklungen, die Handlung, die das Buch beschreibt? Eine junge Frau wird im Gefängnis halbtot geschlagen und zur Vortäuschung eines Autounfalls auf die Straße geschmissen. Soweit, so schlecht. Aber warum um Himmels willen läuft denn alles Amok, nachdem diese Frau, was zu erwarten war, gefunden wurde? Warum wird die Leiche aus dem Leichenschauhaus geklaut anstatt daß man die Frau schon vorher verschwinden läßt? Verstehe wer will, aber uns hat wenigstens ein spannendes Buch beschert!

Facit: „Die verschwundene Frau“ ist ein spannender Krimi, der alles bietet, was ein Krimi bieten muss inclusive einer gewissen Nachdenklichkeit und einer gehörigen Prise Sozialkritik. Mit Sicherheit nicht das letzte Buch von Paretsky, das ich lese.

Sara Paretsky
Die verschwundene Frau
Piper, 2002
ISBN-10: 3492235581
ISBN-13: 978-3492235587

Links:

Sabine Heger
Die Debatte um die Struktur und Organisation moderner Frauengefängnisse in den USA

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