Thierry Paquot: Die Kunst des Mittagsschlafs

Die natürliche Verwendung des Lebens ist leben. Leben bedeutet, die natürliche Freude suchen. … Der Mensch lebt in Freiräumen. Die Siesta ist sicherlich ein solcher Freiraum.

Nicht umsonst erinnert der Titel des Essays von Paquot, einem französischen Philosphieprofessor aus Paris, an das alte Buch von Pirsig: „Zen und die Kunst ein Motorrad zu warten“ [1], denn hie wie dort wird uns Lesern nicht einfach eine Bedienungsanleitung, eine Aufzählung von Punkten, die zu beachten sind, gereicht, sondern es wird uns eine Lebensform, eine Lebenseinstellung, nahe gebracht.

Der Mittagsschlaf, die Siesta, von uns Nordlichtern oft mit dem Süden, dem Mediterranem, in Verbindung gebracht, mit Hitze und Sonnenglut, mit geschlossenen Geschäften, ausgestorben wirkenden Straßen, mit Untätigkeit, Müßiggang und verschenkter Zeit, mit dösenden Männern in Cafés, vielleicht in ein Brettspiel vertieft, vielleicht die Augen in die Ferne gerichtet und ein Glas zu trinken in der Hand: ein Zustand, an den unsereins als Besucher, Tourist, sich erst gewöhnen muss, kollidiert dies doch mit unserer Auffassung der allzeitigen Verfügbarkeit eines jeden auf seinem Platz, zumindest in des Tages Verlauf. Gehetzt, getrieben, voll von Sorge, man könne etwas versäumen in dieser auf halber Flamme, in einem anderen Zeituniversum ablaufenden Zeit, offenbart sich hier eine grundlegend andere Einstellung zum Leben. Wo sich bei uns dem Diktat der Zeit, gemessen, zugeteilt und organisiert durch die Uhr unterworfen wird, koppelt der Siestierende sich aus, fährt seinen persönlichen Lebenszug für ein, zwei Stunden auf ein Nebengleis, für das eine andere Uhr tickt, langsamer, ausgerichtet an seinen persönlichen Bedürfnissen. Schläft man gar anstatt sich nur zurückzuziehen in ein anderes, individuelles Bezugssystem, ist man für diesen Augenblick der Zeit garnicht mehr unterworfen, man driftet im Land der Träume schwerelos umher, kann sich den ungestillten Bedürfnissen widmen und wacht dem Gefühl des eigenen Körpers gehorchend wieder auf, um dann erfrischt und mit neuen Energien gefüllt, wieder in den Lebensrhythmus seines normalen Lebens eintauchen zu können.

Dieser Mentalitätsunterschied, dieser Unterschied der Menschen im Umgang mit der Zeit, zeigt sich exemplarisch auch, wenn man den kleinen Abschnitt über das „Nickerchen“ dagegen hält, den Schnabel in seinem ausführlichen Buch über die „Muße“ [3] geschrieben hat. Das Thema, das Paquot bildreich, mit Beispielen aus Literatur, einem überliefertem Schatz an Mythen, mit kurzen Erläuterungen zu bildhaften Darstellungen von Schläfern und natürlich – seiner Profession entsprechend – mit einer ausführlichen Darstellung philosphischer und soziologischer Fragen unterfüttert, behandelt Schnabel kurz und bündig und schließt ihn mit einer tabellarischen Darstellung, die die Art des Mittagsschlafes kategorisiert nach der Dauer, die er einnimmt, gleich so, als würde der Mittagsschläfer sich diese Zeit stehlen und  könne sich vorher entscheiden, wieviel Zeit er opfern wolle/könne/dürfe für sein Nickerchen. Welch ein tiefer Widerspruch zu Paquot, der die in der Siesta verbrachte Zeit als Geschenk ansieht, als Gewinn an Lebensqualität, egal, ob wenige Minuten schlummernd verbracht im Sessel oder ein, zwei mittägliche Stunden im Bette ruhend. Wie unpassend, die Zeit der Muße, der persönlichen Freiheit, des Abtauchens in einen Freiraum zu kategorisieren nach der schnöden Exaktheit von Minuten und Sekunden….

Es deutet sich schon an, der Begriff der Zeit in seiner Bedeutung für die Organisation des Lebens und damit auch der Uhr als demjenigen Instrument, das die Zeit strukturiert und für alle gleichschaltet, ist für Paquot ein zentraler Punkt in seinem Essay. Grob zusammengefasst kann man sagen, daß im Lauf der Jahrhunderte der Begriff der Zeit immer exakter gefasst und äußeren Bedingungen unterworfen wurde. Die persönlichen, individuellen Bedürfnisse des einzelnen, die sich in verschiedensten Eigenschaften und Rhythmen äußern, wurden immer weiter zurückgedrängt und ins Abseits geschoben. Egal, ob Morgenmuffel, Frühaufsteher oder Nachteule, das Diktat der Uhr verlangt, daß morgens um eine bestimmte Uhrzeit mit der Arbeit begonnen wird. Die Zeit wird vereinheitlicht, sie ist nicht mehr den natürlichen Rhythmen (dieser Begriff ist Paquot wichtig) unterworfen [4]. Paquot sieht darin das Primat des Produktionsprozesses, der in der gegenwärtigen Ausprägung die Bedürfnisse des Individuums nicht berücksichtigt – zum eigenen Schaden, denn es ist erwiesen, daß z.B. ein kurzes Mittagsnickerchen die Leistungsfähigkeit wieder stark ansteigen läßt.

Von dieser Entwicklung keineswegs ausgenommen ist die Landwirtschaft. Der Landwirt, der Bauer oder Viehhirt auf dem Feld, der Weide ist früher keiner großen Kontrolle unterworfen. Er konnte bei seiner Arbeit seinen persönlichen Bedürfnissen nach Ruhe und Schlaf nachgehen, festgehalten in vielen alten Gemälden mit diesem Sujet: Wir sehen hier auf dem Gemälde von Brueghel: die Kornernte [5], wie wohlig hingeräkelt der Feldarbeiter seine Arme und Beine von sich streckt und sich den Armen von Hypnos wiegt… Mag rundherum auch noch gearbeitet werden oder schon gevespert, ihm ist nach Ruhe, nach Schlaf, nach Erquickung… auch hier gilt, daß die moderne, industrialisierte Landwirtschaft (aber ebenso die bäuerliche, geben wir uns da keinen Illusionen hin) diesen Bedürfnissen keine Beachtung mehr schenkt, gleichermaßen gilt hier mittlerweile das Diktat der Uhr.

Die Siesta ist nach Paquot ein mehr oder weniger langer Moment, in dem der Mensch wieder zu sich finden kann, indem und da er sich abgrenzt von der Welt. Dieser kurze Augenblick ermöglicht die Sammlung, die „provisorische Wiederherstellung unserer geteilten, zersplitterten, verstreuten Identität.“ So ist der Mittagsschlaf letztlich ein Widerstand gegen die Funktionalisierung der Zeit und ein Signal für die Anerkennung individueller Bedürfnisse und Verhaltensweisen. Wer mittags schläft, tut kund, daß er sich als Indiduum gegen die Vereinheitlichung der Welt stellt. Natürlich, auch der Autor weiß dies, hat nicht jeder die Gelegenheit, diese Form des Widerstands zu leisten, wer am Fließband steht, ist ein Getriebener, nicht mehr Herr seiner Entscheidungen. Oft aber ist der subversive Widerstand möglich, das Erschleichen kurzer Zeiträume, die Eroberung eines ruhigen Viertelstündchens, in dem der Kopf niedersinken mag auf einen Tisch, einen Stapel Bücher oder er einfach in der aufgestützen Hand ruht, um dem Geist Gelegenheit zu geben, sich auf die kurze, aber erfrischende Reise zu begeben.

Neben dem Zeitbegriff (auch in der Ausformung als individuelle Lebens- und Seinsrhythmen) ist der Raum, in dem Menschen leben, für Paquot ein zentrales Thema des Buches, auf das ich hier aber nicht näher eingehen will als insofern, daß der Autor ausführlich seine Forderung begründet, daß die vielen möglichen Rhythmen, nach denen Menschen leben und agieren und die in der Stadt aufeinandertreffen, sich in der Stadtplanung als auch in der Architektur wiederfinden müssen.

Was meiner Ansicht nach für das Thema noch wichtig ist und auf was Paquot nicht erwähnt, ist die Entwicklung der Beleuchtungstechniken. Sind in der Vorzeit die Talgkerze, der Kienspan und die Pechfackel die Leuchtmittel, die zur Verfügung stehen, die aber die Nacht kaum zum Tage machen können, ändert sich dies grundlegend mit der Erfindung der Glühbirne, die durch elektrischen Strom praktisch beliebig Helligkeit erzeugen kann. Ohne diese Beleuchtungsmöglichkeit wäre eine industrielle Entwicklung nicht möglich gewesen, wie sollte man Produktionshallen mit Talgkerzen erhellen? Mit Glühbirnen und modernen Leuchtmitteln aber ist man unabhängig vom Tageslicht, man kann Tag und Nacht arbeiten, den Menschen damit endgültig seiner natürlichen Bedürfnisse entfremden. Der rein nach Funktion und Produktionsinteressen ablaufenden Strukturierung des Tagesablaufs wurde damit Vorschub geleistet, auch weil nur derart die Einheit von Arbeitsplatz und Wohnraum aufgehoben werden konnte. Wer zuhause arbeitet, ist nur einen Wimpernschlag von der Möglichkeit des Nickerchens zwischendurch entfernt, wer in die Fabrik muss, kann davon nur träumen…

„Die Kunst des Mittagsschlafs“ ist ein wunderschönes, kleines, bibliophil gestaltetes Büchlein, vortrefflich auch als Geschenk geeignet. Es enthält einige Abbildungen von Gemälden, denn Paquot zeigt an vielen Beispielen auf, wie der Schläfer in früherer Zeit akzeptiert war, wie er sich darstellte und in Szene gesetzt wurde. Auch die Erwähnung der Landwirtschaft weiter vorne ist nicht zufällig. Ausführlich beschreibt Paquot die Mittagsdämonen, die sich in der Mittagsstunde, der Zeit größter sexueller Intensität, in der „… wahre Ströme von Samen.. “ fließen, zeigen. Diese Stunde ist in der griechischen Mythologie die Stunde der Begierde, der Verführung des Hirten, der in der Tageshitze träumt und – wer weiß? – der erotischen Fantasie sich hingibt, die ihm Bilder vorgaukelt, die ihm wahr erscheinen in der flirrenden Luft um ihn herum … Pan, die Nymphen.. ach.. dem geweckten Verlangen mag er sich hingeben vielleicht, der hingesunkene Hirt mit seinem erhitzten Sinnen, auf die eine oder andere Art und Weise … nicht ohne Grund ist Pan der bocksfüßige Naturgott….

Auch ich selbst schätze den Mittagsschlaf. Fünfzehn, zwanzig Minuten, die Füße hochgelegt wirken Wunder. War des Nachts das Treffen mit Hypnos nicht so harmonisch, ist das Wissen um diese Möglichkeit beruhigend und stärkend, genauso wie mich die Aussicht auf einen Reisetag, der mich des Mittags vom Schlafe fernhält, schreckt… Paquot hat mich, wie Schnabel es ausdrückt, jetzt mit seinen Essay „munitioniert“ für all die Gelegenheiten, wo mir der Hang zum Nickerchen von Unwissenden als Schwäche ausgelegt werden sollte…..

Links und Anmerkungen:

[1] R.M. Pirsig: Zen und die Kunst ein Motorrad zu warten. Noch älter ist der Titel des (für die anfängliche Verbreitung des Zen-Gedankens in Europa wichtigen) Buches von Herrigel: Zen in der Kunst des Bogenschießens, auf den Pirsig anspielt.
[2] http://www.dradio.de/dkultur/sendungen/kritik/1640376/
[3] Ulrich Schnabel: Muße, München 201
[4] Es sei an dieser Stelle z.B. an die temporalen Stunden des Mittelalters erinnert, bei denen der zwar Tag fest in 12 Stunden geteilt wurde (von Sonnenauf- bis Sonnenuntergang), aber über das ganze Jahr hinweg, so daß die Länge der einzelnen Stunde im Grunde von Tag zu Tag verschieden ist: http://de.wikipedia.org/wiki/Temporale_Stunden
[5] http://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Datei:Pieter_Bruegel_the_Elder-_The_Corn_Harvest_(August).JPG&filetimestamp=20100518172656
[6] zum Mittagsdämonen der griechischen Mythologie hier noch ein Artikel der Wiki

Thierry Paquot
Die Kunst des Mittagsschlafs
übersetzt aus dem Französischen von Sabine Dzuck und Melanie Heusel
Steidl, L.S.D., HC, 96 S., 2011

23 Kommentare zu „Thierry Paquot: Die Kunst des Mittagsschlafs

  1. Lieber Flattersatz,
    ich hinke ja immer hinterher, weil ich erst seit kurzer Zeit auf Ihren animierenden Leseblog gestoßen bin, aber diese Besprechung hat mich gleich gefesselt und gestern war dieser Essay wirklich unterhaltsame und bereichernde Deckchairlektüre auf der Dachterrasse…ja diese beneidenswerten Alten -:))….und ich bin nicht weggeschlummert.
    Mein Biorythmus ist ein anderer, mir fallen gegen 17.00 Uhr die Augen zu zur Teatime…bin ein spätes Mädchen -:)))
    Das Büchlein kommt auf jeden Fall in die Geschenkliste für andere.
    Ich freue mich schon jetzt auf jede weitere Entdeckung hier.

    mit hellwachen Grüßen
    Karin

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  2. Was für eine schöne Rezension, die Lust aufs Lesen macht – das Buch muss ich haben. Allein schon, weil ich Mittagsschlaf allzu oft entbehren muss und ihn mir leider nur in den ersten Tagen eines Urlaubes (dann aber in stundenhaften Ausmaßen) gönnen kann.

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    1. ja, während des lesens wird einem oft bewusst, wie häufig man den signalen seines körpers (und auch der seele!), die einem eigentlich deutlich sagen: „ich brauche jetzt dies und das“, nicht gehorcht, sondern man dadrüber hinweggeht. das ist schade sowohl als auch schädlich, auch wenn der körper es sich dann in stundenlangen ausmaßen holt, wenn die gelegenheit ist.

      ich bin sicher, dir wird das büchlein auch gefallen, allein schon, wenn man es in die hand nimmt und aufschlägt….

      lg
      fs

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          1. Wie meine Mutter früher immer sagte: „Du musst immer das letzte Wort haben!“ Damit hoffte sie dann, die Diskussion abzuschließen, klappte aber nie ; ) Inzwischen hat sie es wohl aufgegeben ; )

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  3. Das klingt ja entzückend, lieber Flattersatz! Ich mag Siestas sehr gern, als Kind und Jugendliche habe ich fast jeden Tag eine gehalten, zwischen Mittagessen und Hausaufgaben erledigen. Heute mache ich das nur noch am Wochenende oder im Urlaub, damit ich abends auch müde genug bin, um rechtzeitig ins Bett und morgens wieder früh genug raus zu kommen. Ich glaube, dieses Büchlein muss ich dringend meinem Liebsten schenken, der auch ein großer Fan von Siestas ist (das griechische Erbe, nehme ich an, obwohl – was für ein „Erbe“ ist es dann bei mir?). Danke für den feinen Tipp! Schnabels „Muße“ hat mir übrigens auch sehr gefallen, falls du schauen magst: http://phileablog.wordpress.com/2011/02/09/musigganger-flaneure-traumer/. Liebe Grüße, Petra

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    1. ach, das freut mich, daß dir die besprechung appetit gemacht hat, ich bin sicher, dir wird das büchlein gefallen…es ist übrigens eine ganz wunderschöne reihe, die lagerfeld da bei/mit steidl verlegt, das von durchleser so gelobt „wozu lesen“ von dantzig gehört dazu und noch andere werke, von denen ganz sicher noch mehr den weg in mein regal finden….

      übrigens, zu deiner schnabel-rezi habe ich damals sogar einen kommentar abgegeben… (der bis auf stichproben immer noch gültigkeit hat…)

      dir auch liebe grüße
      fs

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      1. Ah, stimmt! Ist schon wieder so lange her ; ) Und immer noch nicht gelesen? Dir fehlt offenbar die Muße dazu ; ) Das Mittagsschlaf-Büchlein habe ich übrigens gleich bestellt und freu mich schon darauf. Vielleicht eignet es sich ja sogar zum Vorlesen. Vor der Siesta zum Beispiel.

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        1. oh, ganz sicher eignet es sich… der abschnitt über die gemälde (die im buch leider etwas klein abgebildet sind) oder auch der über den mittagsdämonen.. ich kann mir das gut vorstellen, eine grüne wiese, vogelstimmen in der luft, ein leichter lufthauch, der die haut streichelt, die sonne spielt mit dem blättern schattenspiele und eine sanfte stimme erzählt von pan und den nymphen… hach…

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          1. geduld, geduld, meine liebe .. sicher wissen sie, daß die vorfreude auf ein ereignis einem aphrodisiakum gleich das erlebnis noch weitaus eindrucksvoller gestalten kann als die nur allzu gewöhnliche direkte verfügbarkeit: hier liegt es, nimm es dir! wer wollte es so einfach haben, so profan? wer schon?

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          2. oho… sie ungezogene, sie! könnte es sein, daß das ihnen innewohnende temperament momentan die oberhand gewinnt? zügeln sie sich etwas, meine liebe, gehen sie bügeln! *gg*

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