Kathrin Schmidt: Du stirbst nicht

Helene Wesendahl kann Realität und Traum nicht mehr unterscheiden, sie ist orientierungslos in Zeit und Raum. Sie hatte ein Aneurysma im Gehirn, die schwere Operation überlebt sie, aber nach dem Aufwachen befindet sie sich in einer Art Zwischenreich ohne Kontrolle über sich, ihren Körper, ihre Erinnerung und ihre Sprache. Sie dämmert oft vor sich hin, muss gepflegt werden und nur ganz allmählich gelingen erste kleine Schritte auf dem Weg zurück in ihre Selbstständigkeit.

nicht sterben

Schmidt schildert in ihrem Buch sehr intensiv, mit einer stark ausdifferenzierten Sprache den Weg Helenes zurück ins Leben. Es ist eine Entdeckungsreise in Helenes Vergangenheit, die sich ihr nur ganz allmählich bruchstückhaft wieder enthüllt, ihr oft urplötzlich beim Anblick von Gegenständen oder ähnlichen Gelegenheiten wieder einfällt.

Matthes, ihr Mann besucht sie regelmäßig und treu. Aber es war was mit ihnen…. wollte sie ihn nicht verlassen, hatten sich nicht ihre Wege getrennt? Und welche Rolle spielte die Transsexuelle Viola für sie? In den langen Stunden im Krankenhaus, in der Klinik versucht sie, ihr Leben zu rekonstruieren, einen Stein nach dem anderen wieder zusammenzusetzen zu einem kompletten Lebenslauf. Doch immer wieder bleiben Lücken, die zu schließen ihr nicht gelingt.

Mühsam ist der Weg zurück, sie kann sich nicht konzentrieren, und auch, als es mit dem Sprechen wieder besser geht, kann sie nur ein, zwei Sätze im Voraus denken, ihr „Kapazitätsproblem“. So läßt sie oft die anderen reden, deren Worte plätschern an ihr vorbei, während sie die Gedanken schweifen läßt oder einfach nur leer, erschöpft ist. Schriftstellerin ist sie, in der Klinik erfährt sie, daß ihr zweites Buch gerade erschienen ist. Ihr zweites Buch und jetzt ist sie sprachlos, muss der Bedeutung der Worte mühsam nachgehen…

Ihr altes Leben – zum Teil ist es ihr fremd. Die Wichtungen haben sich verschoben, auch ihr Verhalten ist nicht mehr das vermittelnde, besänftigende der alten Helene Wesendahl. Selbstbewusster ist sie geworden, auch entschiedener, was ihre eigenen Interessen angeht. Ist sie das noch, deren Leben in der Erinnerung jetzt wieder aufersteht, von ihr seziert wird in seiner Bedeutung?

Den Leser führt Schmidt ganz konsequent und eng durch dieses rekonstuierte Leben, ohne Schnörkel und Umwege, klar und sehr differenziert breitet sie aus, wie ein Mensch, dessen Einheit durch eine Krankheit zerstört wurde, wieder alles lernen muss, essen, laufen genauso wie denken. Nicht Mitleid zu erregen ist ihr Anliegen, sondern einen mitzunehmen, das Geschehen mit“denk“bar zu machen, nachfühlbar. Und so beschreibt sie einfach mit zum Teil wunderschönen Wortbildern, reflektiert und analysiert ohne zu werten.

Aus vielen Augenblicken, die derart erscheinen, setzt sich so langsam der Lebenslauf der alten Helene Wesendahl zusammen, in dem Maße, in dem diese auch ihr neues Leben immer besser meistert, immer selbstständiger wird. Es ist der Prozess einer körperlichen Wiederherstellung und einer seelischen Reifung, den Helene durchläuft und besteht, der angefangen hatte mit diesem komischen Schnippen im Kopf und der Gewissheit, die sie hatte und die sie nicht sonderlich aufregte, daß sie stirbt. Aber sie starb nicht.

Facit: kein einfaches Buch, das man so nebenbei runterlesen kann. Aber ein sehr lohnendes.

Link: Ein Interview mit der Autorin

Kathrin Schmidt
Du stirbst nicht
Kiepenheuer & Witsch; Februar 2009, HC, 347 S.
ISBN-10: 3462040987
ISBN-13: 978-3462040982

Ein Kommentar zu „Kathrin Schmidt: Du stirbst nicht

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