Marina Lewycka: Das Leben kleben

Das ist ja interessant (zumindest für mich), die beiden ersten Roman der Lewycka habe ich ja garnicht hier im Blog stehen, die habe ich wohl noch in der vor-Blog-Zeit gelesen. Schade, denn auch wenn der „Caravan“ sozusagen den „Traktor“ [1] weder richtig ein- noch gar überholen konnte, waren auch er ein schönes Buch. Der Traktor sowieso, dieser Zufallskauf aus der Flughafenbuchhandlung….

Nun also Klebstoffe. Mit diesem Thema verdient sich Georgie Sinclair als Redakteurin ihr Geld, das sie jetzt, wo sich ihr Mann, nachdem beide sich um eine Kleinigkeit gestritten hatten, aus dem Staub gemacht hat, auch nötig hat. Die jetzt Alleinerziehende trifft eines Abends an der Mülltonne auf eine verschrobene alte Frau mit ihren Katzen, der Beginn ihrer Bekanntschaft mit Naomi Shapiro.

Worum geht es in der Geschichte? Der Handlungsrahmen folgt in etwa folgender Linie: Die Bekanntschaft der beiden Frauen intensiviert sich derart, daß Mrs Shapiro Georgie im Krankenhaus als ihre nächste Verwandte angibt. Das Krankenhaus vermutet auf Grund des Zustandes, den die alte Dame nach ihrer Einlieferung nach einem Sturz aufwies (nicht ganz zu Unrecht), daß diese am jenseitigen Rand der Verwahrlosung lebe. Nun ja, wie Lewycka diese Zustände beschreibt, das ist schon ziemlich witzig und auch drastisch und man kann die Zweifel des Krankenhauses im Prinzip verstehen.

Das einschaltete Sozialamt will Mrs Shapiro aus ihrem alten, großen Haus in ein Altenheim umsiedeln. Zur gleichen Zeit tauchen Immobilienhaie auf, die das Haus schon mal unter die Lupe nehmen. Man ahnt schlimmes, so wie Georgie, die von der alten Dame um Hilfe gebeten wird. Und Georgie hilft, auch wenn ihr im Zuge der Hilfe hie und da die Hormone durchgehen und sie ab und an zur teilzeit-schamlosen Frau mutiert. Jedenfalls gelingt es ihr, langsam die Geschichte, die hinter Mrs Shapiro und dem Haus steht, zu erfahren, eine Geschichte, die ein großes Geheimnis enthält. Georgie gewinnt Verbündete im Kampf gegen das Sozialamt und die Immo-Haie: ein Schwadron skurriler, liebenswerter Gestalten: Chaim und Mr. Ali, dann noch die beiden Nichtsnutze, Mrs Baddiel und Nathan, ihren Chef bei der Redaktion. Und wie könnte dieser Truppe, das was sie vorhat, nämlich das Haus zu retten und Mrs Shapiro glücklich zu machen, misslingen?

Als wäre dieser Trubel für Georgie noch nicht genug, muss sie sich auch noch entscheiden, ob sie ihre Ehe kleben, sprich: retten soll, oder ob sie Rip, ihren Mann, endgültig zum Mond schießt. Daß ihr Sohn Ben auf einmal zum endzeitgläubigen Nerd wird, der in allem und jeden ein Zeichen des nahen Untergangs sieht, heitert sie auch nicht wirklich auf….

Soweit die Handlung. Was steht aber dahinter an „Moral“?

Die Geschichte von Mrs Shapiro geht bis ins Dritte Reich zurück, mit allem, was an Juden dort verbrochen wurde (was für mich neu war, war die nur am Rand eine Rolle spielende Geschichte der dänischen Juden [1]). Wobei es Lewycka jetzt nicht um den Holocaust an sich geht, sondern eher um die Zeit danach, nämlich die Gründung Israels 1948. Denn auch die Juden, die seinerzeit nach dem neuen Israel kamen, kamen nicht in eine leeres Land, auch wenn es sich für sie so darstellte. Die Frage: wer war vorher hier, wer hat hier gelebt bis letztes Jahr, wurde (und wird immer noch) verdrängt. Dabei ist die Antwort in fast jeder Nachrichtensendung zu finden: Palästinenser, so wie Mr. Ali, lebten dort, liebten dort, arbeiteten dort… verjagt, ausgeraubt, auf der Flucht verhungert und verdurstet, so schildert Lewycka das Schicksal dieser Menschen um 1948 (ca. 650.000 [3]) in der Geschichte, die sie Mr. Ali in den Mund legt. Und dann war das Land wirklich leer.. und Menschen, wie die Mutter von Chaim begannen, es für sich aufzubauen.

Chaim und Mr. Ali, die jetzt zusammen in Mrs Shapiros Haus werkel, raufen sich buchstäblich zusammen. Es ist ein hoffnungsvolles Bild, das Lewycka hier malt: das alte, verfallene Haus, das von beiden gemeinsam aufgebaut wird, die, nach dem Raufen begonnen haben, miteinander zu streiten, zu reden, dann auch sich zu verstehen, den Standpunkt des anderen zu akzeptieren und letztlich: mit dem anderen zusammen in einem Haus/Land zu leben. Natürlich schießen sie noch verbale Pfeile aufeinander ab („Ihr Araber wählt euch immer die schlechtesten Anführer“ – „Was sollen wir machen, die guten werden von euch Juden ja immer ins Gefängnis geworfen!“), aber es eskaliert nicht mehr. Beide haben sich unter dem gemeinsamen Dach eingerichtet.

„Das Leben kleben“ ist ein sehr unterhaltsames Buch mit einer flotten, witzigen und keineswegs langweiligen Sprache. Es erzählt die oberflächlich gesehen skurrile Geschichte einer alten Frau, enthält aber durchaus nachdenkeswerte Stellen, über die man nicht einfach so hinweggehen sollte. Zum Beispiel auch (neben den oben schon erwähnten Fragen zum Nahost-Konflikt) die Frage: wie geht man im Alter mit Menschen um. Wieviel Selbstbestimmung darf/kann/muss man ihnen lassen, wenn dieses Selbstbestimmte unseren Regeln widerspricht? Im Roman geht es natürlich gut aus, im richtigen Leben wird es oft schwieriger sein, die richtigen Antworten zu finden….

Jetzt habe ich noch garnichts von Wonder Boy geschrieben und Violetta, aber damit würde ich vielleicht auch schon zu viel verraten… und (das muss jetzt sein): zwickellose roten Slips werden mich jetzt immer an Georgie erinnern, denn auch den Aspekt des Lebens, der unter „Umgehung des Gehirns direkt mit dem Höschen kommuniziert„, läßt Lewycka zu Wort kommen….

Facit: Ich mag Lewycka, ihre unterhaltsame Art und Weise, wie sie wichtige Fragen in wunderbar unterhaltsam-skurrile Geschichten verpackt.

Links:

[1] „Caravan“ und „Kurze Geschichte des Traktors auf Ukrainisch“ von Lewycka, beide bei dtv
[2] zur Geschichte der Rettung der dänischen Juden vor der Deportation
[3] zur Staatsgründung Israels

Marina Lewycka
Das Leben kleben
dtv 2010, Tb, 460 Seiten

7 Kommentare zu „Marina Lewycka: Das Leben kleben

  1. Jetzt flattern noch immer meine Augen von deiner ausführlichen, wunderbaren Besprechung. Leider hat das Buch nicht so viel Aufmerksamkeit erhalten wie ihr erstes, welches ich leider nie gelesen habe. Woran mag die Zurückhaltung wohl liegen?

    Ja, es ist wie du schreibst: „es ist eine kunst, so schwierige themen, wie lewycka sie anschneidet.“ Freuen wir uns darüber, dass wir die Autorin für uns entdeckt haben und anderen davon berichten.

    Liebe Grüße

    Klappentexterin

    Gefällt 1 Person

    1. Hab ganz lieben Dank für deine beiden schönen Kommentare! Ich hoffe, deine Augen haben sich jetzt wieder beruhigt…..

      Die Geschichte des Traktoren kann man immer noch lesen, sie ist in der Problematik ähnlich zeitlos wie ihr Klebstoffbuch, auch voll von liebenswerten Menschen mit kleinen Macken, die sie uns um so mehr ans Herz wachsen lassen.

      Ich habe jetzt aber schön öfter Menschen getroffen, die mit Lewyckas Büchern nichts anfangen können. Vielleicht – so meine Vermutung – versteckt sie ihre „eigentlichen“ Anliegen zu geschickt unter ihrer Oberfläche, so daß mancher nur diese sieht und sie für etwas schräg und seltsam hält. Es ist schade, die Menschen versäumen etwas!

      Ich wünsche dir einen schönen Sonntag (hier fängt gerade ein Gewitter an….)
      liebe grüße
      flatter satz

      Gefällt 1 Person

  2. Ich hatte mir das neue Buch von Lewycka als Urlaubslektüre schon vorgemerkt – nach dieser Besprechung kauf ich es mir auf jeden Fall. „Caravan“ gehört zu meinen allerliebsten Lieblingsbüchern. Gruß, Carmen

    Like

Datenschutzhinweise: Die Kommentarangaben werden an Auttomatic, USA (die Wordpress-Entwickler) zur Spamprüfung übermittelt und die E-Mailadresse an den Dienst Gravatar (Ebenfalls von Auttomatic), um zu prüfen, ob die Kommentatoren dort ein Profilbild hinterlegt haben. Zu Details hierzu sowie generell zur Verarbeitung Ihrer Daten und Widerrufsmöglichkeiten, verweisen wir Sie auf unsere Datenschutzerklärung. Sie können gerne Pseudonyme und anonyme Angaben hinterlassen.

Diese Seite verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden..