Henning Mankell: Die italienischen Schuhe

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Bis zur „großen Katastrophe“ war Frederick Welin Arzt, Chirurg. Die „große Katastrophe“, der Kunstfehler, mit dem er einer Sportlerin den falschen Arm amputierte, hat ihn aus der Bahn geworfen. Er hat seinen Beruf aufgegeben und ist auf die Schäreninsel gezogen, auf der seine Großeltern gelebt hatten. Dort ist er allein mit seinen beiden Haustieren, einem alten Hund und einer alten Katze.

Seine Sozialkontakte sind sehr dürftig, erschöpfen sich in einer seltsamen Arzt-Hypochonder-Beziehung zu dem Postboten Jansson, der auf seinen Touren regelmäßig auf die Insel kommt. Im Grunde dämmert Welin auf der Insel in einer Art innerer Starre vor sich hin, Leben spürt er, wenn er im Winter sein Eisloch hackt und ins eiskalte Wasser steigt.

Eines Tages, es ist mitten im Winter, sieht er am Steg eine ältere Frau mit einem Rollator, von Jansson auf die Insel gebracht. Welin erkennt Harriet sofort, es ist seine Liebe, die er vor fast 40 Jahren heimlich und über Nacht hat sitzen lassen. Sie ist todkrank und kommt, um das Versprechen einzufordern, daß Welin ihr in der Jugend gegeben hat: den Waldteich, von dem er ihr damals erzählte, zu besuchen.

Hier fängt ein kleines Roadmovie an, sie fahren mit der alten Karre von Welin durch den schwedischen Winter, auf verschneiten Straßen, schlafen in kleinen Hotels, essen in billigen Raststätten, schweigen sich an und reden ab und zu. Schließlich finden sie den Teich, schwarz und zugefroren liegt er im Wald…

Auf der Rückfahrt (Welin hofft, daß die Störung seines Lebens bald vorbei ist und er wieder seinen gewohnten Lebensrythmus aufnehmen kann) will Harriet einen Umweg fahren. Sie kommen zu einem Wohnwagen, aus dem eine Frau aussteigt. „Dies ist dein/e Tochter/Vater!“. Obwohl im klar wird, daß er jetzt nie wieder zu seinem Leben zurück kann, wird Welin mit der Situation nicht fertig und fährt Hals über Kopf auf seine Insel zurück.

Dort findet er tatsächlich nicht mehr in sein altes Leben zurück. Aber er hat keine Ahnung, wie sein neues Leben aussehen könnte. Einzig versucht er, die Frau, der er seinerzeit den falschen Arm abnahm, zu finden. Er besucht sie in ihrem Haus, in dem sie schwererziehbare Mädchen betreut. So hat sein Leben innerhalb kurzer Zeit Zuwachs bekommen, drei Frauen sind eingetreten und haben ihn aus seiner Starre herausgeholt.

Mankell stellt diese drei Frauen: Harriet, die Mutter von Louise, Louise und Agnes, die ehemalige Sportlerin in Gegensatz zu Welin. Die Frauen sind stark, sie haben Entscheidungen für ihr Leben getroffen und setzen sie um, sie scheuen sich nicht, auch Konsequenzen solcher Entscheidungen zu tragen. Sie bekennen sich zu ihren Gefühlen, im Gegensatz zum Mann Welin. Für mich eine Schlüsselstelle des Buches sind folgender Gedanken Welins, nachdem Harriet ihm kurz vor ihrem Tod gesagt hat, nie hätte sie jemanden so geliebt wie ihn:

„… Das wühlte mich auf. Ich hatte es nicht erwartet. Nun war es, als könnte ich schließlich sehen, was der Verrat an ihr bedeutet hatte, für sie ebenso wie für mich.
Ich beging Verrat, da ich Angst hatte, selbst verraten zu werden. Mein Angst davor, mich zu binden, vor Gefühlen, die so stark waren, daß ich sie nicht kontrollieren konnte, hatte bewirkt, daß ich mich immer mehr zurückzog. Warum es so war, konnte ich nicht beantworten. Aber ich wusste, daß ich nicht allein war. Ich lebte in einer Welt, in der viele Männer herumgingen und auf die gleiche Art Angst hatten wie ich.“

Des Mannes Angst also, die Angst, sich zu binden, zu entscheiden, die Angst vor Gefühlen, die Angst davor, sich zu bekennen… das führt Mankell sehr ruhig und eindringlich vor. Die Frage nach Schuld und Sühne, nach Bekennen, nach den Lebenslügen und den Möglichkeiten diese aufzulösen, auch wenn das Leben schon fortgeschritten ist, diese Fragen stellt sich Welin und muss sie für sich beantworten. Das ist nicht einfach, unangenehme Wahrheiten hört er über sich und muss sie ertragen, er fühlt erst jetzt den Schmerz, den er über viele Menschen gebracht hat und vor dem er einfach immer geflohen ist. Nur hier, auf seiner Insel, auf der er sich so abseits wähnte, hier kann er jetzt nicht mehr fliehen, hier sitzt er fest und ist für jeden greifbar.

Melancholie und Schwere weht durch den Roman, düsterer schwedischer Winter und der regnerische Sommer, aber auch Menschen, die in dieser Umgebung fröhlich sein können und das Leben geniessen. Es ist ein Roman, der nicht durch die Handlung fesselt, sondern durch die Schicksale der Akteure, durch ihre Charaktere und durch die Gedankenwelten, durch die uns Mankell führt und die einem vielleicht an der einen oder anderen Stelle sogar bekannt vorkommen…..

Facit: ja, das Buch kann ich nur empfehlen!

Henning Mankell
Die italienischen Schuhe
dtv, 2009, 368 S.
ISBN-10: 3423211520
ISBN-13: 978-3423211529

5 Kommentare zu „Henning Mankell: Die italienischen Schuhe

    1. Danke für den Hinweis, du hast eine sehr schöne, den Eindruck des Buches trefflich wiedergebende Besprechung geschrieben!

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  1. Oh, dieses Buch habe ich sehr geliebt! Es hat so eine eigene Stimmung, eben dieses melancholische wie du schreibst, und es geht so eine Ruhe von der Geschichte aus, obwohl es durchaus nicht ruhig zugeht, zumindest nicht in den Köpfen der Charaktere ;)
    Ich war sehr begeistert davon, wie gut Mankell die Gefühlswelten der Figuren und die charakterlichen Entwicklungen dargestellt hat. Ich habe bei den Wallander-Krimis schon immer gedacht dass er das gut kann, und bei „Die italienischen Schuhe“ kommt sein Talent diesbezüglich finde ich so richtig zum Vorschein!

    Ich hab jetzt richtig Lust bekommen das Buch nochmal zu lesen, leider hatte ich es damals ausgeliehen und habe es noch nicht selbst gekauft…
    Lg, Eva

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