Gina Mayer: Die Wildnis in mir

Kurz vor 1900 in Elberfeld, Wuppertal. Die 17 jährige Henrietta, genannt Jette, lebt mit ihrer Mutter mehr schlecht als recht in einer Siedlung. Der Vater ist verstorben, die vom Leben verhärmte Mutter versucht, sich und die Tochter mit Näharbeiten über Wasser zu halten. Natürlich packt auch Jette mit an, ihre größte Hoffnung ist aber das Geld, das der Vater für ihre Ausbildung zur Lehrerin zurückgelegt hat. Doch eines Tages muss die Mutter ihr gestehen, daß sie dieses Geld zum Überleben brauchte und daß Jette auf Anraten des Pastors als Dienstmädchen auf einen Hof gehen sollte, wo sie schon immer mal für ein paar Groschen geholfen hat.

Eine Welt bricht zusammen für Jette, alle Hoffnungen auf ein besseres Leben schwinden, und sie will einfach nicht als Dienstmagd arbeiten und enden. So greift sie in ihrer Not zu einer Lüge, einer häßlichen Lüge, einer Verleumdung…. und sie erreicht ihr Ziel, die Mutter besteht nicht mehr darauf, daß Jette auf dem Hof arbeitet, und mehr noch: die Mutter nimmt den Heiratsantrag des Missionars Freudenreich aus Südwest-Afrika an, dessen Frau gestorben war und zu dem ihr heimischer Pastor den Kontakt vermittelt hatte.

Und so kommt es, daß sich Jette und ihre Mutter in Hamburg wiederfinden, auf ein Schiff gehen und lange Tage Richtung Süden dampfen, in die Wärme, in die Sonne. Sie wissen praktisch nichts von Afrika, ein wenig, was man so aus Büchern aufschnappen kann oder in der Schule gehört hat. Viel ist es nicht und ob das wenige hilft, wenn die beiden unten sind, in der Missionsstation Bethanien, das weiß man auch nicht…..

Afrika ist anders. Ganz anders als sie es sich vorgestellt haben. Heiß, trocken, staubig. Die Entfernungen zwischen den Orten gigantisch. Die beiden werden mit einem Ochsengespann abgeholt, das von Einheimischen gefahren wird. Tagelang sind sie unterwegs, bis sie in die Missionsstation kommen…. Schon bald zeigt sich, daß sie hier nicht glücklich werden können. Jettes Mutter stirbt nach kurzer Zeit und damit hält das Mädchen es nicht mehr aus auf der Station, auf der sie nicht besser lebt als eine Magd in Deutschland. So sinnt sie auf Flucht und sie findet einen Helfer…

Gina Mayer hat sich für ihren Jugendroman ein exotisches Kapitel deutscher Geschichte ausgesucht. Nachdem die großen Kolonialmächte wie England, Frankreich oder Portugal den afrikanischen Kontinent unter sich aufgeteilt hatten, blieb für Deutschland, das sich auch in diesen Club hieven wollte, nicht mehr allzuviel übrig. Deutsch-Südwest, das heutige Namibia, wurde eine ihrer beiden Kolonien, die sie genauso ausbeuten wollten wie die anderen europäischen Mächte es mit den ihren vorführten. Die dort lebenden Menschen, die Neger, Kaffer oder Hottentotten, wie sie abwertend hießen, taugten allenfalls als Sklaven oder sklavenähnlich Lebende bzw. zum Missionieren, aber nur nicht zuviel Bildung, das verdirbt den Charakter. Dieser Herrschaftsanspruch, diese Diskriminierung wurde als quasi-göttlicher Auftrag aufgefasst, hatte doch Noah Ham und seine Nachkommen seinerzeit verflucht [1] und die ursprünglichen Bewohner von Deutsch-Südwest sind ja Hamiten….

Das Buch gliedert sich in zwei Teile, der erste schildet das Leben der Mutter und Jette in Deutschland, die Überfahrt (auf der sich Jette mit der Familie Cordes, die später noch eine Rolle spielen wird, anfreundet) und die Ankunft in Afrika. Das Leben auf der Mission in Bethanien ist bis zum Tod der Mutter als Übergang zu sehen zum Flucht Jettes, die ausführlich beschrieben wird und auf der das Mädchen sehr viel erlebt und lernt. Sie lernt, Hunger zu ertragen und Durst, Hitze und Kälte bedrängen sie, sie wandern über staubigen, steinigen Boden vorbei an dornigen Pflanzen, werden von Tieren bedroht und sie muss essen, was die Natur ihr bietet. Ohne ihren Begleiter wäre sie verloren, er kann ihr zeigen, welche Pflanzen den Durst stillen und die Müdigkeit bannen, er jagt, er kann Feuer machen … und auch das Herz der 17jährigen entflammt….

Die Geschichte hat wenig zu tun mit Romantik, die Wanderung über Hunderte von Kilometern zu den Cordes, von denen sich Jette Hilfe verspricht, ist hart und lebensgefährlich. Aber Jette lernt auch das Land kennen, die Siedler dort und die Händler und sie merkt schnell, daß sich nicht die sanften und gutmütigen unter ihnen durchgesetzt haben. Im Gegenteil, es herrscht das Gesetz des Stärkeren, das viele Träume unter sich begräbt…. aber trotz aller enttäuschten Hoffnungen findet Jette schließlich ihren Weg…

Die Hauptperson Henrietta reift durch diese Wanderung, überhaupt ist ja die Zeit in der Wüste, der Gang in/durch die Wüste immer auch ein Bild für eine innere Leuterung und Reifung. Trotzdem kann man als Leser nicht vergessen, daß das Mädchen die ganzen Ereignisse, die die Geschichte beschreibt, durch eine wirklich häßliche Lüge in Gang gesetzt hat, eine Lüge, die nicht zu rechtfertigen ist, ich denke, auch unter den damaligen Verhältnissen nicht. Das wirft einen Schatten auf ihr Bild, zumal sie gegen Ende der Geschichte noch einmal zu einer heftigen Unwahrheit greift, unnötigerweise und diesmal wohl ohne negative Folgen.

Zum Buch selbst möchte ich „nur“ anmerken, daß es sehr schön und flüssig geschrieben ist, es liest sich gut und sehr anschaulich werden die Bilder, die Mayer zeichnet, in der eigenen Fantasie lebendig. Hitze, Kälte, Staub, all das meint man zu spüren und wahrzunehmen. Und auch dürften sich viele junge Leserinnen in der Gefühlswelt der 17jährigen Henrietta wiederfinden, einem Mädchen noch mit Widersprüchen, einem großen Ziel vor Augen und der ersten wirklichen Liebe im Herzen. Und aussserdem wird noch eine Menge an Wissen über die deutsche Kolonialzeit in Afrika vermittelt, über das Leben der dortigen Bevölkerung unter der ausbeuterischen Fremdherrschaft, eine Zeit, die sich übrigens deutlich auch im deutschen Sprachschatz niedergeschlagen hat [2], unabhängig von diesem Buch übrigens auch ein interessantes Kapitel.. (btw: Mayer verwendet in ihrem Buch der historischen Authentizität wegen solche rassistischen Termini wie Neger, Kaffer etc, erläutert diese diskriminierenden Ausdrücke aber in kurzen Anmerkungen.)

Links:

[1] eine interessante Diskussion zu der entsprechenden Bibelstelle
[2] Susan Arndt, Antje Hornscheid (Hrsg): Afrika und die deutsche Sprache, Unrast-Verlag, Münster, 2004
[3] Wiki-Artikel zu Deutsch-Südwestafrika

Gina Mayer
Die Wildnis in mir
Thienemann Verlag, HC, 336 S., 2011

5 Kommentare zu „Gina Mayer: Die Wildnis in mir

  1. Da habe ich ja Eulen nach Athen getragen. ;) Mich interessieren besonders bei Romanen mit historischen Sujet die Beweggründe der Autoren. Ob historisches Interesse, Abenteuer, ferne Länder, Psychologie oder Glaube im Vordergrund stehen.
    Noch eine Eule, wer sich historisch näher mit dem Thema befassen möchte, sei auf das gut lesbare Buch „Missionsbräute“ von Dagmar Konrad verwiesen. Sie stützt sich vorwiegend auf Quellen aus der Basler Mission. Apropos Mission, auch die deutsche Mission in Afrika gab es schon lange bevor das Deutsche Reich Kolonialmacht wurde.

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  2. „Julie Gundert“ kenne ich nicht, danke für den Hinweis! Aber ich habe viele Originaltexte von Missionarsfrauen aus dem 19. und beginnenden 20. Jahrhundert gelesen. Auch die monatlichen Berichte der Missionare an ihre MIssionsgesellschaften sind sehr aufschlussreich. Die Texte kann man im Archiv der Vereinigten Evangelischen Mission in Wuppertal und in den wissenschaftlichen Archiven in Swakopmund und Windhoek (Namibia) einsehen.

    Liebe Grüße
    Gina Mayer

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  3. Interessant ist bei solchen Büchern den Hintergrund der Autoren zu beachten, nicht nur um zu sehen, wie verlässlich die fiktionalisierten Fakten sind, sondern auch um etwas über ihre Motivation zu erfahren.

    Wer sich für die Missionsbewegung, das Leben deutscher Missionare, ihrer Frauen und Kinder interessiert, dem sei der Roman „Julie Gundert“ von Jutta Rebmann empfohlen. Nicht zuletzt deshalb, weil sie die Großmutter Hermann Hesses ist.

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    1. danke für deinen kommentar – auf den weiter unten eine antwort der autorin steht – und deine ergänzung…

      .. wobei man m.e. ergänzend darauf hinweisen sollte, daß frau gundert mit ihrem mann in südindien missionierte (und nicht in afrika) [… und dadurch der junge enkel später im heimischen calw – wie ball es in seiner biographie hesses formuliert – in einem kleinstädtischen pietisten- als auch einem weltmännischen brahmanenmilieu aufwächst, das ihn und seine gesamte lebenseinstellung beeinflusst.] bezeichnenderweise wird julie gundert von ball nicht erwähnt….

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