Till Kurbjuweit: Ansichtskarten aus der Kälte

Ein Buch über männliche Individuation durch Vatersuche und sexuelle Reifung, über das Spannungsfeld von Liebe und Freiheit.

Ein etwas holpriger Satz aus dem Klappentext des Buches mit einem etwas ungebräuchlichen Wort aus dem Umfeld des Psychoanalytikers C.G.Jung: Individuation. Eine hohe Messlatte also, die sich Kurbjuweit da auflegt [1].

Einfacher zu beurteilen sind da schon die beiden anderen Faktoren, die der kurze Satz enthält.

Auf der Beerdigung seines früheren Blutsfreundes, der ihn nichtsdestotrotz mit seiner Ehefrau betrogen hatte, sieht die zentrale Figur des Buches, Jonathan Ravensburger, auf dem Friedhof eine Grabplatte mit seinem Namen und dem Geburtsdatum seines Vaters. In der Tradition der Familie hießen alle Jungen Jonathan, dies könnte also stimmten, aber sein Vater ist im Krieg in Stalingrad geblieben und nicht heimgekehrt. Die Frage, wer jetzt in Langenberg, weit ab von seiner Heimatstadt Göttingen, begraben ist, ob sein Vater den Kessel von Stalingrad doch überlebt hat, wühlt ihn natürlich auf und ermuntert und motiviert durch seinen Sohn Jonathan („Jonas“) fängt er mit den schütteren Hinweisen, die ihm der Beerdigungsunternehmer geben kann, an zu suchen. Im Lauf dieser Recherche, die in ihm immer stärker die Hoffnung und fast die Gewissheit weckt, daß in diesem Grab tatsächlich sein Vater liegt, ergibt sich ein widersprüchliches Bild des Vaters, das sich erst im Finale auflöst.

Die Suche nach der Identität des in Langenberg bestatteten Mannes führt Jonathan auch zurück in seine eigene vaterlose Vergangenheit (den neuen Mann seiner Mutter akzeptierte er nie als Vater) und er erkennt Brüche und Verwerfungen in seiner Vita.

Unter anderem, und jetzt widmen wir uns seiner sexuellen Reifung, wird ihm die Ursache seines sexuellen Leidens bewusst, seiner starken Neigung zur ejaculatio praecox, die so ganz im Widerspruch steht zum Phantasiebild, das er sich von sich selbst als quasi Reinkarnation eines Casanova, Don Juan und Kamasutraisten in einer Person ausmalt. In realiter dagegen leidet nicht nur er unter seinem frühen Kommen, sondern auch Dorothee, seine Frau, die ihm nach 30, in sexueller Hinsicht dürren Ehejahren eine Trennung auf Probe vorschlägt.

Was anfangen mit der neuen Freiheit? Erst mal eine Kontaktanzeige, wieder mal in die Buchhandlung, in der man als Jugendlicher verschämt Erotikbücher gekauft hat, ein Wochenend-Sex-Seminar… verschwurbelte Textstellen über freie Liebe und die sexuelle Befreiung reichern diesen Teil der Handlung an…..

Ist es wirklich Individuation, wenn es dem Helden gelingt, eine Frau, die sich in der Bahn unter fadenscheinigstem Vorwand an ihn heranmacht, auch als „Sexualwesen“ wahrzunehmen [S. 217], sie später zu Hause zu besuchen und wenn die Erektion erst dann zusammenbricht, wenn er das ihn abtörnende Hinterteil sieht? Ist es wirklich Individuation, sich als Elite zu fühlen, nur weil man sich einer Vasektomie unterzogen hat, um folgenlos sexuellem Vergnügen frönen zu können [S. 219]? Mir erscheint dies jedenfalls zu kurz gegriffen, selbst wenn man anerkennen muss, daß Kurbjuweit seinen Helden durchaus eine Entwicklung durchlaufen läßt (und sogar ein paar erschreckende Lücken in seiner Allgemeinbildung konnten geschlossen werden…) und zwar eine Entwicklung, die viel interessanter und wertvoller darzustellen gewesen wäre als die leicht pubertären Ansätze, den reinen Sexualtrieb auszukosten: die Entdeckung der Zärtlichkeit und der Mut, Gefühle zu zeigen, die den Helden am Schluss des Buches sogar wieder zurück zu seiner Frau führen….

Facit: ein etwas hölzener Erstling Kurbjuweits, dessen Part, der sich mit der Vatersuche befasst, noch recht kurzweilig zu lesen ist, im Gegensatz zu den Stellen, die sich der sexuellen Reifung des Helden widmen.

[1] „Jung sagt dazu: „Jedes Leben ist schließlich die Verwirklichung eines Ganzen, das heißt eines Selbst, weshalb man die Verwirklichung auch als Individuation bezeichnen kann.“ In der Verwirklichung dieses Selbst erblickte Jung den Sinn des menschlichen Lebens überhaupt.“ Zitiert nach: Wehr G., Unterwegs zu sich selbst, Kevelaer 2009, S. 10

Till Kurbjuweit
Ansichtskarten aus der Kälte
Informationsluecke-Verlag, HC, 2011, 296 S.

Das Buch wurde mir dankenswerterweise von Autoren zur Besprechung zur Verfügung gestellt.

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