Sheldon Solomon, Jeff Greenberg, Tom Pyszczynski: Der Wurm in unserem Herzen

Das Tier lebt ohne eigentliche Kenntnis des Todes; daher genießt das tierische Individuum unmittelbar die ganze Unvergänglichkeit der Gattung, indem es sich seiner nur als endlos bewusst ist. Beim Menschen fand sich mit der Vernunft notwendig die erschreckende Gewissheit des Todes ein. Wie aber durchgängig in der Natur jedem Übel ein Heilmittel, oder wenigstens ein Ersatz beigegeben ist, so verhilft die selbe Reflexion, welche die Erkenntnis des Todes herbeiführt auch zu metaphysischen Ansichten, die darüber trösten, und deren das Tier weder bedürftig, noch fähig ist. Hauptsächlich auf diesen Zweck sind alle Religionen und philosophischen Systeme gerichtet, sind also zunächst das von der reflektierenden Vernunft aus eigenen Mitteln hervorgebrachte Gegengift der Gewissheit des Todes. [Arthur Schopenhauer, 3]

wurm


Die Terror-Management-Theorie ist eine Theorie innerhalb der sozialpsychologischen Forschung zum Thema „Angst vor dem Tod“ und wurde Ende der 80er Jahre von S. Solomon, J. Greenberg und T. Pyszczynski entwickelt. Sie befasst sich mit typischen Reaktionsmustern (Management), die Menschen im Umgang mit Todesangst und dem Bewusstsein der eigenen Sterblichkeit (Terror) entwickeln. Mit diesen ihren entsprechenden Beitrag einleitenden Worten umschreibt die Wiki [1] diese sogenannte „Terror-Management-Theorie“ [4] der drei aufgeführten Autoren, die in dem vorliegenden Sachbuch ausführlich dargelegt wird.

Der Mensch ist sterblich und damit allen anderen biologischen Wesen gleich. Er ist ihnen ungleich, in dem er sich dessen – im Gegensatz zu allen anderen Tieren – bewusst ist, dieses Wissen um seinen unvermeidlichen Tod ist Ursache einer tief in ihm sitzenden Angst vor dem Sterben und vor dem Tod. Der Mensch sehnt sich also nach der Unsterblichkeit und findet den Tod, den zu erleiden unvermeidlich ist, eine ihn ängstigende Zumutung. Wie also umgehen mit diesem Wissen und der Angst vor dem Tod, wie beeinflusst sie unser Leben und Handeln, unsere Gedanken und Gefühle?

Ich habe einleitend das kleine Zitat von Schopenhauer wiedergegeben [3], in dem zumindest eine Antwort formuliert ist, die wir beim Studium des vorliegenden Buches der drei Autoren Solomen, Greenberg und Pyszczynski (falls notwendig im folgenden ‚SGP‘ abgekürzt) kennenlernen. SGP identifizieren zwei Mechanismen, mit denen der Mensch dem „Zustand immerwährender Angst“ entgegentritt: (ii) das Aufrechterhalten kultureller Weltbilder, die kulturell definierte Ordnung der Dinge und die Erfüllung von Maßstäben, die uns derart vorgegeben werden einerseits. andererseits unserer Selbstwertgefühl, daß uns davon überzeugt, daß wir besondere Wesen mit Seelen und Identitäten sind, die – faktisch oder symbolisch – auch lange nach unserem physischen Tod Bestand haben werden. [S. 183, teilweise zusammengefasst und dem Sinne nach zitiert].

Die aktuelle Bedeutung dieser Aussage läßt sich leicht aus folgender Feststellung der Autoren ableiten: Das Vertrauen in kulturelle Weltbilder und das eigene Selbstwertgefühl aufrechtzuerhalten wird jedoch zur Herausforderung, wenn wir auf Mensche mit anderen Überzeugungen treffen. Fast immer sind da ernsthafte Komplikationen vorprogrammiert. [S. 183] Ein Clash der ‚Ismen‘, beispielsweise Kommunismus vs. Kapitalismus oder Fundamentalismus vs. Liberalismus kann die Folge sein – bzw. ist die Folge, da die -ismen gegenseitig am Schutzschild gegen die Todesfurcht nagen. SGP führen die mannigfaltigen Beispiele der Ausrottung indigener Völker durch Eroberer auf genau diesen Mechanismus zurück; man muss aber nicht soweit zurückgehen: die tagesaktuellen Nachrichten sind voll von blutigen Akten dieser Art [vgl. 4].

Die Autoren haben ihr Buch in drei Abschnitte gegliedert. Im ersten Teil legen sie die Grundzüge ihrer „Terror-Management-Theorie“ dar, bevor sie anschließend „Den Tod im Wandel der Zeiten“ und abschließend den „Tod in moderner Zeit“ betrachten und mit einigen wenigen Ratschlägen zum Thema „Mit dem Tod leben“ enden.

SGP bemühen viele Beispiele, um ihre Gedanken zu erläutern und plausibel zu machen. Da sie experimentell arbeiten, führen sie die Ergebnisse veiler ihrer Versuche an, um damit die Gültigkeit ihrer Theorie zu untermauern. Experimentell arbeiten bedeutet hier im wesentlichen, Probanden unter diversen Bedingungen zu den jeweiligen Untersuchungsprojekten zu befragen, teilweise auch deren physiologische Reaktionen festzuhalten.

Das alles ist gut lesbar geschrieben, auch wenn das eine oder andere bekannt vorkommt, sind die Inhalte es sehr interessant und mit manchem ‚Aha‘ verknüpft. Trotzdem konnte mich die Theorie der Autoren nur partiell überzeugen. Warum?

Die Autoren schildern einleitend den Fall einer jungen Frau, die in Südamerika einen Flugzeugabsturz überlebte. Verletzt, wie sie war, irrte sie lange Tage durch den Dschungel, gequält von Stechinsekten, hungrig, durstig, in ständiger Gefahr, von Tieren angegriffen zu werden. Die Kraft, dies auszuhalten, gab ihr der allen Lebewesen eigene Drang, am Leben zu bleiben. So wie ich die Autoren verstanden habe, setzen sie diesen Lebensdrang gleich mit der Angst vor dem Tod, der Todesfurcht also, dem ich (ohne Fachmann zu sein und mit Argumenten gegenhalten zu können) nicht folge. Zumal sie nicht unterscheiden zwischen einer Angst vor dem Tod und einer Angst vor dem Sterben. Letzteres ängstigt, da es unter Umständen schmerzhaft und qualvoll sein kann, Menschen oft mehr als die Angst vor dem Tod, dem Zustand des Nichtseins. Diese Ausdifferenzierung habe ich in den Ausführungen der Autoren vermisst.

Es finden in den Ausführungen diverse Verallgemeinerungen wie diese hier im Kapitel „Selbstmord“ (S. 286; auch diese Terminologie sollte eigentlich mittlerweile nicht mehr verwendet werden): Warum aber sollten Menschen es so eilig haben mit einem Ereignis, das sie so ängstigt, das wir alle ein Leben lang mit aller Macht zu verdrängen suchen? Ist das so? Wirklich „wir alle“? Keine Ausnahme? „mit aller Macht“? Wie gesagt, pauschale Verallgemeinerungen dieser Art finden sich des öfteren, ich halte sie nicht für zutreffend. Wenn ich mir nur die weltweite Hospizbewegung vor Augen halte, die vielen Menschen, die sich hauptberuflich oder ehrenamtlich dort oder auch in der Notfallseelsorge, der Trauerbegleitung, der seelsorgerischen Begleitung in den diversen Notfällen des Lebens, engagieren….

Ich habe die experimentellen Untersuchungen der Autoren erwähnt, bei deren Auswertung für mich Fragen aufgetaucht sind, die sich aus dem Buch heraus nicht klären. Hier müsste man im Grunde die Originalliteratur einsehen, möglicherweise fände sich dort Klärung. Das grundlegende Schema der Experimente ist folgendermaßen: von zwei Probandengruppen, die beide eine identische Aufgabe zu erfüllen haben, wird eine vorher in geeigneter Weise dazu animiert, sich gedanklich mit dem (eigenen) Tod, der (eigenen) Sterblichkeit zu befassen. Unterschiede in der Aufgabenerledigung werden dann auf diese gedankliche Beschäftigung mit dem Tod zurückgeführt, die diesen aus der Verdrängung hervorgeholt hat.

Ein Beispiel (eines von den Autoren konstruierten Falles): Richter sollten über eine auf dem Straßenstrich aufgegriffene Prostituierte verhandeln, die übliche Kaution für solche Delikte liegt bei 50 $. In der Gruppe der Richter, die vorher mit Gedanken zum Tod und zur Sterblichkeit konfrontiert worden waren, schwoll diese Kautionssumme auf im Schnitt 455 $ (!) an, in der Kontrollgruppe blieb es beim ‚Normwert‘. Die Autoren folgern aus dieser (und anderen) Untersuchungsergebnissen: Sehen wir uns mit Dingen konfrontiert, die uns an den Tod gemahnen, reagieren wir, indem wir diejenigen kritisieren und bestrafen, die unsere Überzeugungen ablehnen oder dagegen verstoßen (im Fall der Richter sind dies Moralvorstellungen); diejenigen hingegen, die sie teilen oder hochhalten, belohnen wir. 

Immer wieder, so betonen die Autoren, hat sich bestätigt, daß ausschließlich die Beschäftigung mit Fragen, die mit  Tod und Sterblichkeit zusammenhingen entsprechende Reaktionen bei den Probanden hervorriefen, nicht jedoch Fragen mit anderen negativen Ereignissen (Scheitern bei Prüfungen, starke Schmerzen u.ä.).

Ihre These von der Todesfurcht, die als Urangst in uns Menschen wirkt, wenden die Autoren sehr breitgefächert an. Sie erklären damit auf individueller Basis Verhaltensweisen wie den Drang nach Ruhm, bestimmtes Einkaufs- und Konsumverhalten, begründen damit möglichen Drogenkonsum und potentiell gefährliches Verhalten im z.B. Straßenverkehr. Die immanente Angst vor dem Tod war Motiv für die Ausgestaltung der Religionen, in denen der Mensch durch sein Opfer die Götter gütig stimmen und damit sein eigenes Schicksal günstig beeinflussen konnte. Zudem war der Gedanken an ein wie auch immer geartetes Weiterleben nach dem Tod tröstlich und reduzierte die unbewusst herrschende Angst. Sie drängt uns, Teil einer Gruppe zu werden, deren Meinung und Einstellung wir teilen, wir folgen gerne charismatischen Führern und sind dann rationalen Argumenten gegenüber unempfindlich.

Daß diese Urangst unbewusst wirkt, liegt nach den Autoren an zwei Verteidigungsmechanismen, die wir im Lauf der Evolution entwickelt haben: die eine verdrängt den Gedanken an den Tod aus dem Bewusstsein, in dem wir alles, was uns daran erinnert, weitgehend ignorieren und den Gedanken ans Sterben mental wegschieben. Daß wir täglich sorglos mit dem Auto losfahren, obwohl wir um die Gefährlichkeit des Straßenverkehrs wissen, ist ein Beispiel dafür. Die andere Verteidigungsstrategie ist daraufhin angelegt, unser Selbstbewusstsein, unseren Selbstwert zu stärken, das Gefühl, ein wertvoller Mensch in einen sinnerfüllten Universum zu sein, sprich: Leistungen zu vollbringen, die uns die Anerkennung unser Mitmenschen einträgt.

Die „Terror-Management-Theorie“ hat das erreicht, was die Physiker seit nunmehr mindestens einem Jahrhundert suchen: sie ist eine Theorie für alles. Zumindest, wenn man den Autoren und Schöpfern der Theorie folgt. Denn die SGP wenden ihre Gedanken so ziemlich auf alles an, was im täglichen Leben geschehen kann, schicken viele Phänomene durch ihr Erklärungsmuster. Und wenn daraus nur solche Sätze folgern wie dieser [S. 269]: Psychiatrische Störungen werden in der Regel durch eine Kombination verschiedener Faktoren ausgelöst, aber es besteht kein Zweifel, dass bei vielen davon die Angst vor dem Tod eine wichtige Rolle spielt. Sie diskutieren zur Erläuterung Fallbeispiele aus der Schizophrenie, zu Obsessionen und Phobien, zu PTBS, Depressionen und zum Suizid. Ein wenig erinnert das an einen Zirkelschluss, denn jedes Phänomen läßt sich letztlich im Lichte einer bestimmten Theorie betrachten und analysieren, womit aber nicht unbedingt dann auch die Theorie selbst bestätigt wird: sie dient ja nur als ein Deutungsmuster: so wie anfänglich das dem (und nur dem) Menschen eigene Bewusstsein des eigenen, unvermeidlichen Sterbens der Ausgangspunkt der Überlegungen war, könnte man sicher auch eine andere Besonderheit des Menschen als Ausgangspunkt eines Erklärungsmusters nehmen: seine Fähigkeit vielleicht, die Frage nach dem „Sinn des Lebens“ zu stellen. Immerhin kann diese Frage so groß sein, daß sie im Fall von Suizidenten, die an der Sinnlosigkeit des Lebens verzweifeln, sogar die proklamierte Angst vor dem Tod überwindet. Auch mit dieser Frage und dem Unbehagen, sie nicht beantworten zu können, ließen sich sicherlich viele (Alltags)Phänomene erklären.

Der Quintessenz des Buches, das der Mensch in praktisch all seinen Handlungen unbewusst von der Angst vor dem Tod beeinflusst wird, hat mich also in dieser Breite nicht überzeugt. Das ändert aber nichts daran, daß das Buch sehr interessant ist, auch wenn man ein paar weniger der zum Teil in epischer Breite dargelegten Fallbeispiele nicht vermisst hätte. Den abschließenden Rat der Autoren, sich mit dem Tod, den eigenen Tod auch, zu befassen, kann man nur unterstützen. Zudem haben es die Autoren (und die Übersetzerin) verstanden, den Text verständlich und flüssig lesbar zu halten. Ein Personenverzeichnis und weit über 400 Verweise auf Primärliteratur lassen dem Interessieren genügend Raum, in die Tiefe zu gehen.

Links und Anmerkungen:

[1] https://de.wikipedia.org/wiki/Terror-Management-Theorie
[2] siehe z.B. hier: http://www.spiegel.de/politik/ausland/terror-in-istanbul-angriff-auf-flughafen-atatuerk-in-der-tuerkei-a-1100339.html
[3] Arthur Schopenhauer (1844): Über den Tod, online z.B. hier:  http://www.schopenhauers-kosmos.de/Tod
Schopenhauer wird übrigens im vorliegenden Buch (lt. Personenregister) nur ein einziges Mal mit einer Aussage angeführt, die im Kontext der Ausführungen von minderer Bedeutung ist.
[4] In einer Woche (26./27. KW), in der in Istanbul über vierzig Menschen durch Selbstmordattentäter umgebracht wurden, in Bangla Desh achtundzwanzig Menschen bei einer Geiselnahme starben und in Bagdad mehr als zweihundert Menschen einem Anschlag des IS zum Opfer fielen, wirkt der Begriff „Terror“ im Namen dieser Theorie etwas deplatziert.

Sheldon Solomon, Jeff Greenberg, Tom Pyszczynski
Der Wurm in unserem Herzen
Wie das Wissen um die Sterblichkeit unser Leben beeinflusst
Übersetzt aus dem Englischen von Susanne Kuhlmann-Krieg
Originalausgabe: The Worm at the Core, NY, 2015
diese Ausgabe: DVA, HC, ca. 370 S., 2016

Ich danke dem Verlag für die Überlassung eines Leseexemplars.

2 Kommentare zu „Sheldon Solomon, Jeff Greenberg, Tom Pyszczynski: Der Wurm in unserem Herzen

  1. Nach dem, was du schreibst, leuchtet mir die Theorie von der Todesfurcht, die hinter allem, was wir tun, steckt, nicht ein. Ich konsumiere aus Angst vor dem Tod? Menschen, die drogensüchtig sind und sich damit einer mitunter tödlichen Gefahr aussetzen tun dies aus Todesfurcht? Ich bezweifle, dass Psychologen und Psychiater das bestätigen würden. Aber es ist völlig richtig, dass Menschen sich mit ihrer Sterblichkeit auseinandersetzen sollten – schon, um ihr Leben wertzuschätzen.
    LG,
    Ina

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    1. ja, das ist so ein wenig dieser zirkelschluss: der konsum z.b. stärkt dein selbstwertgefühl (ich kann mir das leisten!), die kosmetikerin ebenso (ich bin schön) und drängt damit in der logik der autoren die furcht zurück… der suizidale tötet sich, weil er u.a. mit dem tod auch die angst vor dem tod los wird… mir erscheint das auch z.t. sehr weit hergeholt, man müsste sich aber – bevor abschließend urteilt – tatsächlich die originalliteratur ansehen, wie z.b. die fragebögen angelegt, die personengruppen ausgesucht oder die vergleichsfragen formuliert waren… trotzdem eine interessanter gedanke, der ja (siehe schopenhauer) nicht grundlegend neu ist…

      lg
      gerd

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