Blaise Cendrars: Kleine Negermärchen

Ein Märchenbuch der besonderen Art. Sieht man mal vom Titel ab, den heute wahrscheinlich aus Gründen der political correctness kein Verlag mehr so akzeptieren würde [1], ist es ein wunderschönes Buch. Der französischen Originaltitel ist noch etwas ausführlicher und läßt einen Blick auf die Motive des Sammlers zu: „Kleine Negermärchen für weiße Kinder“ [3], wobei sich letztere wahrscheinlich etwas umstellen müssten, sofern sie bis dahin vorwiegend die Märchen der Brüder Grimm oder des Dänen Andersen verschlungen haben.

Von Königen und Prinzen, von Königinnen und Prinzessinnen, von Gold und Edelsteinen nämlich ist hier nicht die Rede. Diese Märchen handeln nicht vom Reichtum, wie man ihn erwerben kann durch Glück oder Verdienst, wie man ihn verlieren kann durch Dummheit oder auch durch die Missgunst anderer. Entführen euopäische Märchen die Hörer oder Leserdoch in eine (sprichwörtliche) Märchenwelt, die mit der unseren realen wenig zu tun hat. Zwar gibt es natürlich Wälder und Seen und Flüsse, aber bevölkert sind sie von Wesen, die nichts mit uns gemein haben, im Gegenteil, es sind Wesen, denen wir oft ausgeliefert sind [4].

Angekommen an einem finsteren Ort, irgendwo in der Luft,
wollen die beiden Fabeltiere nicht mehr weitergehen,
so müde sind sie geworden.
Sie zünden ein Feuer an und legens ich in.
sie mache es sich bequem, und da sie nichts zu essen haben,
fangen sie an, laut zu zählen,
wieviel, ach, wieviel Schritte sie wohl gegangen sind,
von hier bis da, von da bis dort,
von dort bis ans Ende der Welt.

Genau in dieser (afrikanischen) Lebenwirklichkeit sind aber viele der Märchen dieser Sammlung angesiedelt. Zwar haben die Figuren, die dort auftauchen, auch Eigenschaften, die ihnen im wirklichen Leben nicht zukommen, Tiere können sprechen wie Menschen, Verhalten sich auch wie Menschen, können zornig sein oder weise, können traurig sein oder lachen. Aber  es sind Geschichten, die vom Leben erzählen, vom Hunger, vom Essen, von der Kälte und der Trockenheit. Es sind Geschichten, die erklären sollen, wie es dazu gekommen ist, daß das Leben so ist, wie es ist… es sind Versuche einer Weltdeutung.

Die Geschichten erzählen oft von Gewalt und Tod, vomKampf der Tiere untereinander und von dem der Menschen mit den Tieren, vom Fressen und Gefressen werden, von den Naturgewalten, von denen alle abhängig sind…. Oft klingen sie wie Dialoge, in denen Fragen gestellt und beantwortet werden, man kann sich den Kreis der Menschen vorstellen, in deren Mitte der Geschichtenerzähler sitzt und mit seinem Publikum spielt, es zu Fragen herausfordert, zum Dialog, den er mit ihm führt.

Den Märchen merkt man an, daß sie aus einer Kultur kommen, in der das gesprochene Wort wichtiger ist als das geschriebene. Die Märchenerzähler sorgen dafür, daß die Geschichten lebendig bleiben, sie haben die Funktion, die bei uns die Bücher haben. Auch Scheherzade hat ihre Geschichten erzählt und nicht vorgelesen…. und so merkt man diesen Märchen an, daß sie erzählt werden, daß niemand ein Buch nimmt, um sie vorzulesen. sondern daß sie lebendig im Gedächtnis der Menschen verankert sind. Sie haben Rhythmus, sie leben auch von Wiederholungen und farbigen Bildern, von einer anschaulichen, bunten, bilderhaften Sprache

Es ist ein Blick in eine ganz andere Welt, ein Blick durch ein Schlüsselloch, der ein wenig den Zipfel lüftet zu den Gedanken einer fremden Kultur. Und ein schönes Leseerlebnis ist es allemal….

Links und Anmerkungen:

[1] eine Gelegenheit, bei der ich immer wieder gerne zu dem Büchlein von S. Arnd und A. Hornscheidt: Afrika und die deutsche Sprache (Unrast-Verlag, Münster, 2004) greife…
[2] kurze Biographie von Blaise Cendrars
[3[ sofern ich folgenden Satz richtig übersetzt habe: „Petite contes négres pour les enfants des blancs
[4] folgerichtig sind diese Märchen in ihren jeweiligen Kontexten interpretierbar, ich habe dies selbst schon einmal am Märchen vom Aschenputtel hier beschrieben, bekannt sind auch die tiefenpsychologischen Deutungen Drewermanns (Drewermann: Hänsel und Gretel …, dtv 35163)

Blaise Cendrars
mit Federzeichnungen von E.O. Köpke
Kleine Negermärchen
übersetzt aus dem Französischen von Jürgen Schroeder
Karl Rauch Verlag, 1961

Ein Kommentar zu „Blaise Cendrars: Kleine Negermärchen

  1. Trotz Deiner ansprechenden Rezension gruselt es mich, wenn ich den Titel lese. Aber das war 1961 noch völlig unbedenklich, man kennt solche Bezeichnungen ja auch aus zahlreichen anderen (Kinder-)Büchern.
    Außerdem wäre zu überlegen, ob es sich tatsächlich um Märchen handelt. Du verwendest ja auch das Wort „Fabel“, vielleicht ist das eher zutreffend?
    Wird das Buch aktuell noch verlegt?

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