Adrianus Franciscus Theodorus van der Heijden: Tonio

Tonio van der Heijden war noch keine zweiunddzwanzig Jahre alt, als er 2010 am frühen Pfingstsonntag nach einer mit Freunden durchfeierten Nacht mit dem Rad auf dem Nachhauseweg mit einem Auto kollidierte. Die Verletzungen waren schwerwiegend, im größten Amsterdamer Krankenhaus kämpfte man stundenlang um sein Leben – vergebens. In Anwesenheit seiner Eltern verstarb der Sohn und ließ die beiden als gebrochene Menschen zurück.

Den Vater, Adrianus Franciscus Theodorus van der Heijden, ein bekannter niederländischer Schriftsteller (https://www.suhrkamp.de/autoren/a_f_th_van_der_heijden_1841.html), verließ die künstlerische Kraft in diesem Moment der absoluten persönlichen Katastrophe. In diesem vorliegenden, umfangreichen „Requiemroman“ (verfasst zwischen Juni 2010 und März 2011) versucht er gegen den Tod des Sohnes anzuschreiben, indem er die Erinnerung an ihn zusammenträgt und festhält, ihn literarisch so vollständig wie möglich zum Leben erweckt. Es ist dies ein wahnwitziges Projekt, es ist der Versuch, gegen den Tod anzukämpfen, ihm durch Worte, Sätze und Absätze seiner Kraft zu berauben und seinen Sohn durch die Vollständigkeit der Erinnerung am Leben zu halten. Zugute kommt den unglücklichen, verzweifelten Vater, daß er ein schon früher geplantes Projekt zwar nicht verwirklicht, aber doch angefangen hatte, seinem Sohn nämlich zum achtzehnten Geburtstag eine Chronik seines bis dahin gelebten Lebens zu schreiben.

Wo fängt dieses Leben an? von der Heijden läßt die Geschichte jedenfalls schon bei den Grundvoraussetzungen beginnen, dem Kennen- und Sich-lieben-lernen der Eltern, die da sind der Autor und die Mirjam Rotenstreich (https://mirjamrotenstreich.com), genannt „Minchen“. Die den Genüssen des Lebens nicht Abgeneigten (Tabak, Alkohol) mäßigen sich der Sperma- und anderer Qualitäten willen, bis in den Moment hinein, in der die Zeugung stattgefunden hat – diese ist van der Heijden überzeugt auf die Sekunde genau angeben zu können. Es war der erklärte Willen der Eltern, ein Kind auf die Welt zu bringen und ihm Eltern zu sein. Eine Anforderung, die dem Vater durchaus auch Sorgen macht, der er sich nicht von vornherein gewachsen fühlte und die er – zumindest aus der geschilderten Perspektive heraus – mit großen Erwartungen und Anforderungen an sich selbst befrachtete.

Es liegt in der Natur der Sache, daß van der Heijdens Ausführungen teilweise weitschweifig sind, schließlich will er das Leben seines Sohnes festhalten. Episoden der Kindheit werden nachträglich mit Bedeutung versehen, das magische Denken fängt an den trauernden Vater zu beherrschen: könnte er doch nur eine oder zwei Sekunden in den dem Unfall vorausgehenden Jahren einschieben oder wegnehmen, soviele Sekunden, daß die todbringende Kollision des Sohnes mit dem Auto eben gerade nicht stattfinden könnte.. Aber auch: Die einst so unschuldigen Erinnerungen werden rückwirkend zu Vorzeichen des Todes. Die Schilderung solcher Kindheits- und Jugendepisoden wechselt mit der Darstellung des gerade erlebten Schreckens: dem Klingeln der Polizisten am frühen Morgen, der schwammigen Aussage vom ‚kritischen Zustand‘ des Sohnes, dem unendlichen Warten im Krankenhaus, denn die Operation dauert Stunden und das schließlich vernichtende Ergebnis, daß eine Rettung nicht möglich gewesen sei. In einer improsiverten Örtlichkeit im Krankenhaus, einem Zelt gleich, können die Eltern ihren Sohn sehen und Abschied nehmen, erleben mit, wie die künstliche Beatmung abgestellt wird… Aus dem Leben der Rotenstreich-van der Heijdens verschwindet spätestens in diesem Moment die Farbe, das alles überdeckende Grau einer erstickenden Trauer übernimmt die Herrschaft.


In seiner kompromisslosen Ehrlichkeit hat mich dieser umfangreichere Teil der Erinnerungen an Knausgård erinnert, der sein Leben ja auch wie unter einer Lupe ausbreitet. Vom Inhalt her reiht sich Tonio ein in Erinnerung, wie sie Palmen niedergelegt hat (I. M., Ischa Meijer, In Margine, In Memoriam und Logbuch eines unbarmherzigen Jahres) oder auch Didion (Blaue Stunden  und Jahr des magischen Denkens): es ist der Versuch, die Unsagbarkeit einer absoluten Halt- und Orientierungslosigkeit, die einen Menschen in Raum und Zeit schleudert, darzustellen, zu beschreiben. Und diese Trauer des Autoren (und auch seiner Frau) ist selbstzerstörerisch in mehrerlei Hinsicht.

Zum einen spielt die Schuldfrage, die Frage nach der Verantwortung eine große Rolle, über weite Strecken hin scheint sie die Herrschaft über die Gegenwart zu übernehmen: Ohne eine Beantwortung der Schuldfrage war nicht weiterzuleben. Etwas oder jemand musste das auf seinem Gewissen haben – irgendeine verantwortliche Instanz. Ein Mensch oder ein Institut. Weil ich nichts und niemanden ausmachen konnte, endet ich bei mir. Ich war der Schuldige. . Hatte sich der Autor schon sehr früh gefragt, ob er überhaupt in der Lage sei, ein guter Vater zu sein, sieht er sich durch den Tod des Sohnes nach fast zweiundzwanzig Jahren also in diesem Zweifel bestätigt: er war ganz offensichtlich nicht in der Lage, seinen Sohn zu beschützen. Und mit dieser Tatsache verdunkelt sich das gesamte Leben des Vater, sowohl in der Rückschau als natürlich auch für die Zukunft, wird sinnlos und Symbol seines Versagens. Nichts Erreichtes zählt mehr, ist von Bedeutung, der Tod des Sohnes ist identisch mit dem Totalversagen des Vaters. In der Erinnerung wird Tonio zu einem Idealbild verklärt, nie beispielsweise habe es (was für mich kaum vorstellbar ist) auch nur einen Streit zwischen Sohn und Vater gegeben, ein einziges Mal nur lag so etwas in der Luft, als nämlich die Orientierungsphase des Sohnes, was einen möglichen Beruf anging, selbst dem Vater etwas zu ausgeprägt erschien – auch dieser mögliche Konfrontation wurde jedoch letztlich aus dem Weg gegangen.

Beide verwaisten Eltern suchen Trost in der all abendliche Betäubung durch Alkohol. Es entwickeln sich Trinkrituale, das Essen verliert an Bedeutung, zumindest der Vater vernachlässigt sich auch äußerlich, was zum Beispiel die Kleidung angeht. Bewegungslos hockt man auf dem Sofa, starrt auf die Lieblingsecke, in der einst der Sohn saß, wenn er zu Besuch kam, und trinkt… im Inneren kreisen die Gedanken unentwegt um dieses eine Thema, die wörtlich zu nehmende Bewegungslosigkeit führt zusammen mit dem reichlichen Alkoholgenuss zu körperlichen Beschwerden, zu Gewichtszunahme und Problemen beim Bewegen…

Jede Sekunde, die Tonio an diesem seinem Todestag erlebt hat, wird wichtig, sein Leben an diesem Tag nachzuvollziehen, die offenen Fragen (mit wem war er zusammen, wer ist das geheimnisvolle Mädchen, mit dem er das Fotoshooting gemacht hat, warum ist er überhaupt diesen für ihn unüblichen Weg gefahren, wenn er nach Hause wollte, warum war er nicht in dem Club, in den sich mit Freunden zu treffen er gesagt hatte…) zu beantworten, besetzt die Eltern, vor allem den Vater. So tasten sie sich langsam an die größte Herausforderung heran: den Ort aufzusuchen, an dem der Unfall geschehen ist. Es ist der letzte Abschnitt im Buch, langsam und ausladend erzählt von der Heijden von der Annäherung an diesen Ort, vom Ausnahmezustand, in dem sie, die Eltern sich befinden und er verdeutlicht diesen in der parallelen Schilderung des Chaos, das das Eintreffen der niederländischen Fussballnationalmannschaft aus Südafrika, wo sie zwar das Endspiel gegen Spanien verloren haben, in Amsterdam auslöst wo sie nichtsdestotrotz frenetisch gefeiert werden.. von der Heijden macht aus seiner Abneigung gegen das Geschehen auf der Straße kein Geheimnis, ich denke, er projiziert seine aufgewühlte eigene Gefühlswelt in dieses Ereignis.


Der Requiemroman Tonio ist, obwohl sehr interessant, zum Teil recht langatmig und ausschweifend. Dies liegt zwiefach in der Natur der Sache: zum einen ist es explizites Ziel des Vaters/Autoren, das Leben seines Sohnes so vollständig wie möglich darzustellen und zu fixieren. Zum anderen spiegelt sich natürlich die Trauersituation auch im Text: die Gedanken kreisen nun mal unaufhörlich, Tag und Nacht um dieses eine Thema und vieles wird oftmals gedacht. Als Leser schaut man den beiden Eltern de facto beim Verzweifeln zu, man sieht, wie das Leben mit seinem Alltag immer drohender auf sie einwirkt, sie immer mehr Probleme haben, überhaupt einmal aus ihrer Trauerwelt herauszukommen. Immer ist Tonio in seinem Tod als Verlust anwesend, er wird zum einzigen Fixpunkt des Lebens. Eines Lebens, in dem eine latente Suizidalität herrscht: Habe ich Mirjam je vorgeschlagen, gemeinsam abzutreten, um so dem Schmerz Einhalt zu gebieten? Nein. Der Gedanke war unausgesprochen zwischen uns da. Wir haben ihm nicht nachgegeben. Oder doch? Es existieren auch langsame Formen von Selbstmord, zum Beispiel indem man eine schleichende Selbstzerstörung ihr Werk tun läßt. …

Während Mirjam Rotenstreich ‚einfach‘ eher die verzweifelte Mutter ist, die ihren toten Sohn betrauert, ist der Vater ‚besessen‘ von der Frage nach der Schuld, nach der Verantwortung für diesen Tod. Eine tragische Frage, denn es gibt fast nie eine Antwort darauf. Auch bei diesem Unfall ist Schuld nicht zuteilbar, das Auto ist vllt ein wenig zu schnell gefahren, Tonio war vielleicht durch das Trinken beim Feiern und – es war früh morgens – möglicherweise auch durch die Müdigkeit nicht aufmerksam genug. Die eigentliche Tragik besteht darin, daß der Vater mangels eines klar zu benennenden Verantwortlichen sich die Schuld gibt, auf der ganzen Linie. Womit er jedoch, abgesehen von der Unsinnigkeit dieses Gedankens, gleichzeitig seinem Sohn nicht gerecht wird, schließlich war dieser alt und erwachsen genug, eigene Verantwortung zu tragen.

Diese Erinnerungen zu lesen hat mich bedrückt. Ich bin davon überzeugt, daß die Eltern Hilfe gebraucht hätten, jemanden, der zumindest zeitweise die Bürde dieses Verlustes mit ihnen getragen hätte. Ein offenes Ohr, in das sie ihren Kummer hätten senken können anstatt ihn mit Alkohol zu betäuben… Dies alles hätte den Schmerz nicht verringert, aber möglicherweise jedoch das Ertragen erleichtert. Abschließend, Tonio ist ja letztlich ein Buch, muss ich jedoch ohne Wenn und Aber festhalten, daß die Wucht und die Eindringlichkeit, in der Adrianus Franciscus Theodorus van der Heijden dieses Requiem schildert, nicht nur bedrückend, sondern in seiner Intensität (und Qualität) sehr beeindruckend ist.

Tonio
Ein Requiemroman
Übersetzt aus dem Niederländischen von
Originalausgabe: Tonio. Een requiemroman,
diese Ausgabe: Suhrkamp, HC, ca. 670 S., 2011

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