Nicola H. Cosentino: Hummerjahre

Der Hummer, egal, ob amerikanischer oder europäischer Provinienz, ist ein Meeresbewohner, dem es oft zu eng wird in seiner Schale, der diese dann abwirft und sich eine neue zulegt: er häutet sich, bis ihm auch das neue Kleid nicht mehr passt und das Procedere wieder von vorn anfängt. In seiner Kindheit passiert ihm dies häufig, bis zu vierundvierzig mal im ersten Lebensjahr [so ist auf der Wiki zu lesen https://de.wikipedia.org/wiki/Hummer ], im Alter dann (und Hummer können sehr alt werden und sie hören nie auf, zu wachsen) nimmt die Frequenz jedoch ab.

Es ist wohl dieses Bild, das den jungen kalabresischen Autoren Nicola H. Cosentino [z.B. hier: https://nonsoloverlag.de/autoren/cosentino?v=3a52f3c22ed6 ] zu dem Titel seines Romans [der italienische Originaltitel Vita e morte delle aragoste lautet übersetzt: Leben und Tod von Hummern] bewegt hat: Hummerjahre ist eine Beziehungsgeschichte, in der der Erzähler sich an seine Jugendjahre und besonders an seinen Freund Vincenzo erinnert. Die Analogie liegt auf der Hand: auch die beiden jungen Menschen wachsen in ihr Leben hinein, probieren Rollen aus und wachsen langsam zu dem Menschen heran, den man dann erwachsen nennen kann. Ein Prozess der Irrungen und Wirrungen, ein schmerzhafter Prozess manchmal, denn er ist mit Abschieden und Verlusten verbunden, aber auch einer mit schönen, mit wunderschönen Momenten der Freiheit, sich entscheiden zu können (oder zu müssen….), des unendlich scheinenden Horizonts, den das vor einem liegende Leben ausbreitet.


Ob ich selbst der Held meines Lebens sein werde
oder dieser Platz einem anderen gebührt,
das werden diese Seiten zeigen.

Der Roman spielt in der Jetztzeit, Vincenzo und der Erzähler Antonio sind Ende Zwanzig, kennengelernt hatten sie sich 2004 als Dreizehnjährige am Strand, schon damals war Hummer (als Alternative zu fettiger Pasta mit zerkochten Auberginen) ein Thema zwischen ihnen, es sollte Jahre später noch einmal so werden – was sie damals freilich nicht ahnen konnten – und dann sollte sich der Kreis sozusagen mit dieser erneuten Hummergeschichte schließen, Anfang und Ende einer Beziehung. Es ist eine asymmetrische Beziehung, die sich zwischen den beiden Jungs herausbildet, Antonio ist derjenige, der sich an Vincenzo orientiert, während dieser (zumindest aus der erinnernden Sicht Antonios) sehr viel unabhängiger bleibt. Ich war nur der Stichwortgeber für das seine, lautet Antonios nüchterne Erkenntnis am Ende. Eine erotische Komponente, damit diese falsche Spur nicht gelegt wird, hat das Verhältnis der beiden Jungs nicht, es tauchen einige Mädels (später dann Frauen) in der Geschichte auf und auch unter diesem Aspekt scheint Vincenzo die Leitfigur.

Vincenzo ist oder versucht sich als Schriftsteller, seine Bücher, die er veröffentlichen kann, verkaufen sich mäßig, es gibt ein paar freundliche Rezensionen, ein sich überschlagender Erfolg ist jedoch bis jetzt nicht zu vermelden. Antonio ist Gebrauchsgrafiker, der für Tassen, Anstecknadeln und ähnlichem Grafiken designt. Beide stammen aus Kalabrien im Süden Italiens, wo auch ein großer Teil der Geschichte spielt, über die Eltern, das Elternhaus der beiden Jungen dagegen erfahren wir wenig. Im späteren Verlauf der Beziehung dann spielen auch einige Episoden in Rom oder anderen Teilen des Landes, auch das spanische Sevilla ist nicht ganz unwichtig, dagegen spielt Kalabrien, die Heimat des Autoren, im Roman praktisch keine Rolle.

Cosentinos Roman hat keine durchgängige Handlung, er berichtet über nichts Außergewöhnliches. Das Leben eines gewöhnlichen Menschen ist nur eine private Erinnerung wert, aus der Erinnerung von Menschen, die ihn mögen. Und ich mochte Teapot sehr. Teapot, das sei erwähnt, ist das Autorenpseudonym, das dem Vincenzo unter dem offensichtlich inspirierenden Einfluss eines Ereignisses, das er erlebt hat, wählte. Antonio erzählt seine Erinnerungen in Episoden, die zeitlich abwechseln angeordnet sind, auf eine ältere Geschichte folgt eine jüngere, danach wieder eine ältere usw. Dies macht den Überblick über die Entwicklung der beiden Jungs bzw. jungen Männer etwas schwierig.

In diesem Sinn ist der Roman auch ein Entwicklungsroman, der das Leben der beiden Protagonisten über einen Zeitraum von roundabout fünfzehn Jahren verfolgt. Cosentino, der selbst 1991 geboren ist, gehört dieser Generation selbst an, kennt das Lebensgefühl, bei dem sich praktisch täglich etwas im Leben ändern kann, das verbunden ist mit Verlust und Trauer, das aber auch mit Gewinn und Lust verbunden sein kann. Daß der Autor seine Hauptfigur ebenfalls als Schriftsteller konzipiert hat, passt in diese Konstellation.

Vincenzo ist derjenige des Paares, der den Ton angibt. Mag Antonio auch die derjenige sein, der einen Erstkontakt zu zum Beispiel Silvia herstellt, so ist es letztlich schnell sein Freund, der sich mit dieser jungen Frau anfreundet. Überhaupt die Frauen… sie spielen eine große Rolle in dieser Geschichte, Silvia, die nicht ganz einfach ist, Ariane, die sie in Spanien kennenlernen und in deren Wohnung sie nicht reden dürfen, Paola Molinari, die Vincenzo beim Flaschendrehen zufällt, Olimpia, Nicole… Vincenzo liebt komplizierte Verhältnisse, die sich wirklich lohnen, fordern sie ihn heraus oder geben sie ihm eine gute Entschuldigung, für den Fall, daß sie zerbrechen? Ariane jedenfalls ist bzw. wird für beide Protagonisten eine wichtige Figur, die Antonio letztlich hilft, sich von Vincenzo zu emanzipieren. Denn genau das hat er die ganzen Jahre gemacht, im Windschatten und unter der Führung von Vincenzo gelebt. Kann Antonio ein ganzes Buch über seine Gedanken, die sich um Vincenzo drehen, schreiben, so steht für ihn jedoch die Frage imm Raum, wieviele Anekdoten hätte er [i.e. Vinzenco] erzählen können, in denen nicht ich Sancho Pansa war und er Don Quichotte? Die Antwort, die sich Antonio letztlich auf diese innere Frage gibt, ist desillusionierend, aber erlösend: Wahrscheinlich keine einzige. Antonio hat endlich realisiert, daß er sich, anstatt sein Leben frei und selbstbestimmt zu leben, immer an seinem Freund orientiert hat, ihn praktisch als Krücke eingesetzt hat, um durch das, was er sein Leben nannte, zu hinken – obwohl er es doch frei hätte gehen können. Mit dieser Erkenntnis hat der Erzähler den Prozess des Erwachsenwerdens abgeschlossen, er hat Entscheidungen getroffen bzw. hat Entwicklungen und Ereignisse akzeptiert, bekennt sich zu ihnen und hat sich aus Abhängigkeit zu Vinzenco gelöst. Der Hummer hat’s gegeben, der Hummer hat’s genommen…. , der Häutungen werden jetzt wohl weniger werden.

Ich möchte eine der Episoden herausheben, in dem ich sie hier explizit erwähne: im Jahr 2011 schildert Cosentino unter dem vielsagenden Titel Das richtige Sagen die Schwierigkeiten, die die Clique, zu der Antonio und Vinzenco gehören, damit haben, mit dem Unfalltod Emilios, dem Bruder eines ihrer Freunde, umzugehen. Was sagen, wie sich verhalten, die eigene Trauer erleben, mit der des Freundes und dessen Familie umgehen und diese ertragen: für junge Menschen noch ohne große Lebenserfahrung ist das problematisch und der Autor fängt diese ganze Unsicherheit, die in der traurigen Situation liegt, sehr einfühlsam und sensibel ein. Aber wenn ihr es schon wisst, …. dann laßt euch doch mal bei ihm blicken. Ihr seid einfach verschwunden.


Cosentino hat mit Hummerjahre einen wunderschönen Roman übers Erwachsenwerden, über das Suchen nach dem eigenen Leben, geschrieben. Es ist ein Tasten, ein Probieren, ein Zurückzucken,ein Sich-Trennen, ein Vorwärtsschreiten, ein Entdecken – dieser Weg vom Jungen zum jungen Mann ist so vieles, enthält so viele Herausforderungen wie auch mögliche Enttäuschungen. Es ist die Zeit des Sichausprobierens, des nicht Endgültigen – die Zeit der Freiheiten, in der der Begriff der Verantwortung noch kleiner geschrieben wird als später, wenn das eigene Leben Kontur angenommen hat und nicht mehr alleine gelebt wird: beide Figuren Cosentinos haben sich am Ende der Geschichte in feste Verhältnisse eingefunden. Einfühlsam beschreibt Cosentino dies, analytisch, er reflektiert die Episoden beider Leben, die er seinem Antonio in die Feder diktiert hat und läßt diesen dadurch seine Abhängigkeit von Vinzenco erkennen, so daß man als Leser beinahe beruhigt ist und das Gefühl hat, auch Antonio hat jetzt in sein eigenes Leben gefunden. Ein Buch, das mir Freude gemacht hat, das ein Lesespaß war und das nicht nur als Sommerlektüre geeignet ist. Und das neugierig darauf macht, was noch von diesem Autoren zu lesen sein wird, den der kleine nonsolo-Verlag aus Freiburg uns mit diesem Roman näher gebracht hat.

Nicola H. Cosentino
Hummerjahre
Übersetzt aus dem Italienischen von Ruth Mader-Koltay
Originalausgabe: Vita e morte delle aragoste, Rom, 2017
diese Ausgabe: nonsolo Verlag, Freiburg, Paperback, ca. 145 S., 2019

Ich danke dem Verlag für die Überlassung eines Leseexemplars

2 Kommentare zu „Nicola H. Cosentino: Hummerjahre

  1. Eine sehr schöne Rezension von Hummerjahre. Es ist sicherlich viel Autobiografisches vorhanden, zumal der Autor auch noch sehr jung ist. Die beiden Protagonisten sind sehr authentisch beschrieben, daher interessieren wir uns für ihr Leben, welches ansonsten unbemerkenswert ist. Es gibt eben doch sehr viele Hummer in der See. Ein sehr guter Blog, den man nur weiterempfehlen kann! Gruß!
    Thorsten J. Pattberg, Autor der Lehre vom Unterschied

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