Ian McEwan: Nussschale

Es ist die, oder eher: eine klassische Konstellation von Mann und Frau und Geliebtem: Mann liebt Frau, aber Frau liebt Geliebten. Nicht ganz so klassisch ist, daß der Liebhaber der Bruder des Mannes ist und überhaupt nicht klassisch stellt sich die Tatsache dar, daß die Frau den Ich-Erzähler der Geschichte noch mit sich herum trägt, und zwar inwendig. So ist der werdende, fast fertige Knabe immer dabei, kann zwar nicht viel mehr sehen als wechselnde Helligkeiten, dafür hört er gut und vor allem sitzt/liegt/schwimmt er – wie bekannterer Knabe – an der Quelle: ihm bleibt keine körperliche Regung seiner zukünftigen Mutter, die im Moment erst ’nur‘ Schwangere ist, verborgen: ein sich beschleunigender oder beruhigender Herzschlag, ein in die Höhe schnellender Blutdruck, das Drücken der gefüllten Blase an seine Stirn oder das tiefe Grummeln des Gedärms. Fast so nah wie die Mutter immer kommt ihm der Onkel manchmal, in jenen drei Minuten nämlich, in denen er – im Unterschied wohl zum Bruder – die Frau mit Namen Trudy, an den Rand des Paradieses bringt. Dieser Ausflug nahe ans Paradies ist ein Kurztrip, er hat weder Vor- noch Nachspiel, weder säuselndes Liebeswerben noch kuschelnde Nähe, ist aber so aufregend, daß sie ihn trotz ihres Zustands immer wieder bucht.

Nennen wir den Onkel des Erzählers beim Namen: Claude. Ein roher, tumber, dummer Kerl, der einst als Immobilienmakler (hier wird doch nicht etwa eine Anspielung versteckt sein auf einen anderen Immobilienpleitier, der in letzter Zeit Furore macht?) zu Geld gekommen war, von dem jetzt aber schon wieder ein großer Teil zerronnen ist. Aber man hat ja dieses Haus, bzw. – und jetzt kommen wir an des Pudels Kern – Trudy und John haben es, das Haus in London, genauer noch: das Elternhaus von John. Das, obwohl es eher einer abbruchreifen Müllhalde ähnelt, Millionen wert ist. Auf die es Trudy und Claude abgesehen haben. Wobei wiederum besagter John stört.

Besagter John ist wenige Jahre älter als sein Bruder und ähnelt ihm kaum. Poet ist er, Lyriker, empfindsam, erfolglos und Verleger. Ein Waschlappen, so hört es der werdende Knabe im Mutterschoß immer wieder, der sich von seiner Frau aus seinem Haus hat jagen lassen, der im Gegensatz zu seinem Bruder keinen Schlüssel mehr hat zu diesem Haus, der anstatt um seine Frau zu kämpfen, ihr nur Gedichte vorträgt, die, was weniger verwundert, Trudy sehr langweilen.

Ein Plan muss her, ein Plan ist da. Gift soll es sein, in ausreichender Menge und von der Art und Weise, daß John vom Leben zum Tode befördert werde, ohne daß dies auf Claude und Trudy zurückfalle.

Dies alles und noch viel mehr verfolgt in seiner schwimmenden Blase der kurz vor der Geburt stehende Nachwuchs von John und Trudy. Machtlos, hilflos. Bis auf die Tritte, mit denen er seine Mutter aufmerken lassen kann, die aber zu gering ist, als daß sie etwas verhindern könnten… träumen, ja, das kann er. Sich groß träumen, erwachsen, sich träumen zum Retter seines Vaters, zumindest aber zum Rächer des Vaters, den er dem Untergang geweiht sieht. Nicht ohne zu wissen, daß der Plan dazu so unausgegoren und fehlerhaft ist (von Claude eben), daß er nicht funktionieren kann… aber dem Vater hilft dies Wissen nicht.

Er ist noch ungeboren, aber nicht unwissend. Wie viele Stunden hat er zusammen mit seiner Mutter Radiosendungen gelauscht, die sich über Politik ausließen, über Kunst und Kultur, über das Leben ausserhalb der Blase. Mit besagten Tritten weckte seine Austrägerin des nachts, wenn ihm langweilig war und er wollte, daß die nun nicht mehr einschlafen könnende sich mit einem podcast ablenkte… was für eine Welt dort draußen! Sie scheint schlecht und verdorben zu sein und doch so großartig, so zwiespältig, wie seine Gefühle für und wider Trudy. Er hasst sie dafür, daß sie sich von diesem plumpen Claude vögeln läßt, er hasst sie wegen des Planes und er liebt sie abgöttisch, jetzt schon, weil sie seine Mutter ist, weil er nichts ist und erst einmal nichts sein wird ohne sie… er sehnt sich so sehr nach ihren blütenweißen Armen, Brüsten und grünen Augäpfeln. 


Nussschale ist im Grunde ein Zweipersonenstück. Der Erzähler tritt (sic!) praktisch nicht als Handelnder in Erscheinung, die anderen Figuren, die auftreten, sind ebenfalls nur marginal. Allenfalls John hat für eine kurze Zeit noch eine tragende Rolle, aber selbst er ist im wesentlichen Objekt – eines Brudermords, eines Gattenmords. Das einleitende Zitat des Romans aus Hamlet erweist diesem Shakespearestück Reverenz, auch dort mordet der eine Bruder den anderen und ehelicht die Witwe. Nur spielt die Nussschale an keinem Königshof, im Gegenteil ruft die Schilderung der Zustände im Haus beim Lesen Ekel und Übelkeit hervor, das Haus selbst scheint wie von Usher zu sein, es ist in der Substanz dem Untergang geweiht. Was solls! Im London dieser Tage zählt das Haus nichts, der Grund und Boden alles und er ist Millionen wert.

Der von McEwan gewählte Erzähler ist als Erzähler perfekt: er ist immer vor Ort, immer dabei und läßt sich durch Worte nicht täuschen, da er die körperlichen Reaktionen auf Lügen und Aufregungen unmittelbar spürt. Was macht´s, daß er nichts sieht! Und er ist der unwahrscheinlichste, ja, als Fötus ein unmöglicher Erzähler und wenn schon, denn schon: er ist Erzähler ebenso wie Weinkenner (denn Trudy pichelt entgegen aller ärztlicher Erkenntnis gerne einen: Wie herrlich ein durch die Plazenta dekantierter Burgunder schmeckt.) und konstatiert, noch nicht geboren, selbstkritisch schon ein Alkoholproblem für sich. Es ist meisterhaft, wie McEwan diese Figur sarkastisch, ironisch, spöttisch, voller Empörung und auch Wut über Europa, über die Welt und seine/ihre Probleme philosophieren läßt. Da nimmt jemand kein Blatt vor den Mund. Und als Leser gerät man an keiner Stelle auch nur ansatzweise in Versuchung, zu sagen: was eine blödsinnige Idee, das mit dem Kind.

Die Handlung selbst, sie scheint klar: Trudy, die schwangere Frau Johns hat die Fronten gewechselt, ganz offensichtlich der leiblichen Freuden wegen, denn intellektuell sondert Claude nur Sprechblasen ab. John, der Lyriker, ist mit seiner Schuppenflechte und seinen erfolglosen Gedichten der geborene Versager. Claude dagegen hat ausser seiner Standfestigkeit wenig zu bieten, aber für Trudy reicht das erst einmal.

Dann Auftritt John und alles ändert sich. Der, der da erscheint, ist kein Loser, das ist im Gegenteil ein raffinierter Hund, der sein eigenes Spiel spielt… und kaum hat man sich an diesen Wechsel der Geschichte gewöhnt, da wird alles schon wieder ganz anders.

Der Mord, der Mord, ja freilich: auf einmal eilt´s, es pressiert, weil.. egal, ich will´s hier nicht verraten, jedenfalls es muss schon morgen sein…. Welche Qual für das Kind, das alles miterlebt, Trudy, die alles gibt, John das Gift zu applizieren… warnen möchte es, alles verhindern, aber es kann nicht, es kann nicht… vergebens. Wie Jahrtausende zuvor Adam den Apfel nahm aus Evas reizender Hand, so greift auch hier John… Das Schicksal nimmt seinen Lauf und hat´s unser Erzähler nicht schon lange gesehen, daß der Plan unrund ist und Anlaß gibt zur Sorge? Zur Sorge, die letztlich die Flucht ratsam werden läßt, die aber nicht gelingen sollte: mit aller Macht drängt es den Knaben aus seiner immer enger werdenden Höhlung hinaus in die Welt, mag auch vor der Tür schon das Taxi warten.


Der unbenannte Fötus, der Embryo, offensichtlich der blauen Farbe zugeordneten Geschlechts, ist ein Bild, eine Metapher für uns alle. Wir sitzen so wie er in einer Blase, in unserer normalen Umwelt, mit der wir zu tun haben. Von den Ereignissen der Welt hören wir durch diverse Medien, ohne sie wirklich beeinflussen zu können. Hilflos machen wir uns möglicherweise Gedanken, betäuben uns mit dies und jenem, treten ab und zu mal gegen die Wand beispielsweise bei Wahlen, an denen wir teilnehmen, um uns noch einmal lebend zu melden, aber wirklich Einfluss haben wir kaum. Erst – und möglicherweise ist das die Botschaft – erst wenn wir die Blase durchstoßen, gewinnen wir Freiheit, auch Freiheit zum Handeln…


Sein oder Nichtsein, nicht das ist bei diesem Roman die Frage, sondern: Lesen oder nicht Lesen und auf diese Frage gibt es nur eine Antwort: Lesen. Unbedingt! Denn das, was uns McEwan hier bietet, ist einfach mitreissend, ist spannend, ist hintergründig, ist sarkastisch, böse und raffiniert. Literatur at its best!

Anmerkungen:

Weitere Roman von Ian McEwan hier im Blog:

Der Tagträumer
Solar
Am Strand
Abbitte
Kindeswohl

Ian McEwan
Nussschale
Übersetzt aus dem Englischen von Bernhard Robben
Originalausgabe: Nutshell, London, 2016
diese Ausgabe: Diogenes, HC, ca. 275 S., 2017

Ich danke dem Verlag für die Überlassung eines Leseexemplars.

8 Kommentare zu „Ian McEwan: Nussschale

  1. Danke für deine sehr treffende Rezension, ich hab es am Wochenende fast in einem Rutsch gelesen und fand es überraschend gut und spannend (bin bislang kein „Fan“ von McEwan), gerade auch durch den ungewöhnlichen Ich-Erzähler.

    Gefällt 1 Person

  2. Wie schön, deinen Blog entdeckt zu haben, da hat das #litnetzwerk gute Arbeit geleistet :) Ich habe kürzlich „Honig“ von McEwan gelesen und war angenehm unterhalten, aber nicht übermäßig begeistert. Nussschale steht auch noch auf meiner „möchte ich lesen“-Liste, denn wenn man ihm eins lassen muss: Ausgefallene Storylines kann er gut!

    Like

    1. honig kenne ich wiederum nicht, wenn mir ein roman von mcewan nicht gefallen hat (oder besser: nicht so gut), war das solar. aber der hier, nussschale, der hat schon was, von der idee her und auch von der umsetzung.

      Like

    1. danke, liebe constanze. ja, mit der nussschale ist mcewan wirklich ein haupttreffer gelungen, man trifft kaum jemanden (siehe die meinung deiner vorkommentatorin), dem/der der roman nicht gefällt. es sind diese leseerlebnisse, die einen immer wieder neu aufbauen und beleben…
      liebe grüße

      Like

    1. liebe marina, das wundert mich, weil ich tatsächlich von der ersten seite an begeistert von der geschichte war – obwohl ich auch etwas skeptisch an das buch herangegangen war. kannst du deine abneigung irgendwie in worte fassen? ;-) das würde mich schon interessieren!
      liebe grüße

      Like

      1. Ich kann es nicht mit Worten belegen. Ein Freund hat es kürzlich so ausgedrückt (er kam auch nicht rein): „Es bereitete mir Unbehagen.“ Dem stimmte ich zu … so wird es wohl an diesem Fötus-spricht-Szenario liegen …
        Interessant ist, dass viele die sonst nichts von McEwan kennen, es sehr gut fanden. Ich fand ältere von ihm oft sehr gelungen z.B. Saturday

        Like

Datenschutzhinweise: Die Kommentarangaben werden an Auttomatic, USA (die Wordpress-Entwickler) zur Spamprüfung übermittelt und die E-Mailadresse an den Dienst Gravatar (Ebenfalls von Auttomatic), um zu prüfen, ob die Kommentatoren dort ein Profilbild hinterlegt haben. Zu Details hierzu sowie generell zur Verarbeitung Ihrer Daten und Widerrufsmöglichkeiten, verweisen wir Sie auf unsere Datenschutzerklärung. Sie können gerne Pseudonyme und anonyme Angaben hinterlassen.

Diese Seite verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden..