Kathrin Schmidt: Die Gunnar-Lennefsen-Expedition

josepha

Was ein Buch, was für ein Roman, was für eine Geschichte… sie führt zurück ins Jahr 1976 jenseits der im Jahre neunzehnhundertneunundvierzig anscheinend endgültig befestigten Grenze in eine gemütliche Wohnung, in der sich Therese Schlupfburg (sic!) und ihre Urenkelin Josepha in ihrer eigenen Welt eingerichtet haben. Das ’sic!‘ steht dort nicht von ungefähr, wir werden es im Verlauf des Buches bzw. dieser Besprechung zu deuten wissen bzw. gedeutet bekommen.

Die jüngere der beiden Frauen, Josepha also, ist zu zweit: in ihrem Inneren wächst ein schwarz-weißes Kind heran, der Vater, der werdenden Mutter bekannt nur für eine Nacht, ist Angolaner, spielt aber im weiteren Verlauf keine Rolle mehr, wird von Josepha den neugierigen Offiziellen gegenüber, die sich um die Schwangere und deren Gesundheit kümmern, hartnäckig verschwiegen, so hartnäckig, daß auf der Schwangerenpappe – zumindest zeitweilig – ein ‚A‚ erscheint, für Asozialenkartei. Überhaupt spielen die Männer in dieser Geschichte allenfalls die von der Natur her als notwendig erachtete Rolle der Besamer und Befruchter, die wahre Macht obliegt den Frauen, der Geschlechtlichkeit zu wahren Wundertaten fähig ist.

Da härtet schon einmal eine Achtzigjährige das Gemächt des über Neunzigjährigen, um sich lustvoller Umarmung zu erfreuen, da empfangen über Sechzigjährige nach der Menopause noch Kinder, die nach wenigen Monaten geboren werden und deren ultraschnelle Entwicklung zu Sensationsmeldungen Anlaß gibt. In Sturzgeburten auf die Welt gekommene Zwillinge werden mit solch nahrhafter und mit unfassbarem Druck der Drüse entweichender Milch genährt, daß man ihrem Wachsen zusehen kann. So erregend der Anblick, daß dem anwesenden Amtmann spontan Sperma entweicht und sich in der Luft mit der Milch mischt, einer Milch, die just jenen spillerigen Amtmann süchtig macht, ihn zu athletischer Form bringt und seinen Stoffwechsel so umstellt, daß er nur noch mit Muttermilch funktioniert. Muttermilch, die ihm aus anscheinend nie versiegender Brust verabreicht wird….

Auch die Kinder, deren Väter wie erwähnt meist unwichtig sind und die ohne den Segen von Staat und Kirche die Welt erblicken, sind nicht ohne. Ottilies, der Therese lang vermisste und diesseits der im Jahre neunzehnhundertneunundvierzig anscheinend endgültig befestigten Grenze lebende Tochter beispielsweise schenkt (vorstehend schon erwähnt) spät in ihrem Leben einem Sohn noch selbiges, einem Säugling, dessen ausgeschiedene verdaute Nahrung den Geruch der jeweilig herrschenden Uniform annimmt – was beim Besuch der Mutter, d.h. jenseits der … etc pp, in der Öffentlichkeit zu heftiger Verwirrung unter den Menschen führt, ja, zu Panik fast. Überhaupt ist dieses Kind ein Kind mit drei Vätern, einen biologischen, einem Ziehvater und einem Zahlvater. Wie ist es überhaupt zu diesem Kind gekommen, dies ebenso eine wunderlich-magische Begebenheit, denn in Ottilies Nähe implodierten neuerdings sämtliche Bildschirme. Was wiederum zur Bekanntschaft mit dem Fernsehmechaniker Revenslueh führt, der zwar noch verheiratet war, aber doch bald zu den drei Vätern zählen sollte… das mit dem Verheiratetsein gab sich jedoch schnell, stürzte die Frau sich in ihrer Verzweiflung ob der Untreue des Gatten doch aus dem heimischen Fenster, fiel zwar relativ weich, war trotzdem verletzt. Es gab noch eine Versöhnung zwischen den Eheleuten, doch just in dieser versetzt Revenslueh seiner Frau unbeabsichtigt – sozusagen – den Todesstoß. So starb sie glücklich, der kleine wurde für sie zum großen Tod… und für den Mann hieß es jetzt: Leinen los, Ottilie ahoi!

Man sieht, es geht durchaus deftig zu, keine der Körperflüssigkeiten, die der Mensch absondert, bleibt unerwähnt und ohne Bedeutung. Nun passiert das Ganze aber nicht ohne Plan. Den beiden Frauen, Therese und Jospha, kommt nicht nur aufgrund ihrer Weiblichkeit Macht zu, ihnen wohnt auch Magisches inne, auf einer imaginären Leinwand nämlich in das Leben ihrer Vorfahrinnen blicken zu können. Diese Sitzungen, die die beiden abhalten, ihre Familiengeschichte zu erforschen, stellen die Stationen der titelgebenden Gunnar-Lennefsen-Expedition dar.

Sie beginnt 1914 in Ostpreusen mit einem Brudermord, die junge Therese nämlich sieht sich den Bruder mit einem Holzschuh erschlagen, um ihm den Gastod im tobenden Krieg zu ersparen. Therese arbeitete damals als Dienstmädchen und wurde vom Sohn des Gutsbesitzers geschwängert, besagte Ottilie war die Frucht dieser Nächte, doch eine Heirat zwischen Magd und Junker kam natürlich nie in Frage….. ein älterer Kürschner und Steineschneider wurde ihr angetraut, aber dieser Erbs machte es nicht lange, schon an der Hochzeitstafel zeigte er Schwächen, kotzte das gerade Verzehrte quer über den Tisch – nur weil Therese etwas schmatzte beim Essen… Nach seinem baldigen Tod wurde die Ehe annulliert, Fritz (der ein ungefähres anderthalb Jahrzehnt später beim Wettmasturbieren seines verkrümmten Penisses wegen Hemmungen haben sollte), die Frucht der beiden, wurde somit von einer ledigen Mutter als eheliches Kind geboren….

Die Tochter Ottilie selbst lernte die Liebe ebenfalls früh kennen, ihr Erwählter war der jüdische Fahrende Avraham Rautenkrantz aus Riga, der gelegentlich in Königsberg weilte. 1933 sollte sie ihn zum letzten Mal sehen, Rudolph nannte sie das Kind, das sie einem Deutschen Beischläfer unterschob. Dieser Rudolph ist wichtig für die Geschichte des Buches, denn er sollte später zum Vater werden von Josepha, deswegen wäre das Verschweigen seiner Herkunft hier ein Fehler gewesen. Verschweigen bzw. nur darauf hinweisen will ich jedoch darauf, daß es Ottilie nach dem Krieg nach Bayern verschlagen hat, daß Josphas Mutter bei der Geburt verstarb und Rudolph selbst sein Kind bei der Oma ließ, um mit einer anderen Frau noch einmal sein Glück zu finden, einer Frau, die ihr eigenes, tragisches Schicksal mit sich zu tragen hat…..

Aber bevor es dazu kam, war der zweite Weltkrieg zu überstehen, die Reihe der Ahnen geschlossen zu halten, was nicht einfach war, folgerichtig ist die Geschichte oder wäre sie es, würde ich es unternehmen hier an dieser Stelle, kompliziert zu erzählen. Jedenfalls ist die Mutter Josephas ein weiteres, ein Wasserkind der schon hier erwähnten Sturzgebärenden, Wasserkind, weil sie durch das Badewasser empfangen wurde, in dem sich vorher der ejakuliert habende, nur noch durch Muttermilch nährende Amtmann gereinigt hatte…. Eaulalia nannte sie ihre Mutter, die Kleine war bei der Geburt nur wenige Zentimeter groß, aber voll entwickelt – zum Erstaunen aller.

Es ist kompliziert und das Vorstehende nur ein auf wenige der vielen Figuren konzentrierter Auszug. Es gab Situationen, an denen wäre die Kette der Ahninnen fast unterbrochen worden, weil sie z.B. verdampften in der Hitze des Dresdener Infernos, der Krieg zerriss die Familien, es kam zu Vergewaltigungen und ‚Judenf***s‘, Kinder wurden mit versteckt und mit anderen Identitäten in andere Leben geworfen, in Leben, in denen sie gleichzeitig Tochter, Adoptivtochter und Vergewaltigungsopfer ein und desselben Mannes wurden….

Ohne die Hilfe eines speziellen Kosmos von Göttinnen wäre es nicht gelungen, wäre die Linie der Schlupfburgs irgendwann geendet. Göttinnen wie Inklinatia, die Göttin der Gleichgewichtsstörung, Diploida, die Göttin der Abstammungslehre, Östromania, die Göttin der weiblichen Tollheit, Fidelia, die Göttin der grundlos heiteren Stunden, Exkrementia, die Göttin … na ja, gut, das wird wohl jeder ahnen…. ein bunter Göttinenkosmos also (ich habe nur Beispiele genannt), der sich in der Gestaltung, Begleitung und Behütung der Weiberschicksale hin und wieder  über die Jahrzehnte hinweg in die Quere kam, weil die Interessenlage manchmal etwas unterschiedlich war, der aber summa summarum das Projekt ‚Schlupfburg‘ erfolgreich in die Gegenwart geführt hat.

Es sind nur winzig kleine Leckerbissen, Appetizer sozusagen, des Inhalts, auf die ich hier eingegangen bin. Das Buch ist so randvoll mit Episoden, Geschichten und Ereignissen, daß eine nur halbwegs vollständige Inhaltsangabe ziemlich lang geriete, sofern sie überhaupt möglich ist, ohne das halbe Buch zu referieren…. aber ich wiederhole mich….


In Schmidts Roman wechseln sich die Erzählebenen ab. Die Rahmenhandlung spielt im Jahr 1976 in der DDR, in den einzelnen Etappen der Gunnar-Lennefsen-Expedition führt uns die Autorin anhand der Schicksale der diversen Vorfahrinnen zurück in die deutsche Vergangenheit, in das Ostpreussen anfangs des 20. Jahrhunderts, in den Zeit zwischen den Kriegen, in den Zweiten Weltkrieg mitsamt seinen Gräueln des Holocaust, die direkt in die Familiegeschichte hineinwirken. Die Teilung Deutschlands dann mit Ottilie auf jenseitiger und den anderen noch lebenden Gliedern der Familie auf diesseitiger der im Jahre neunzehnhundertneunundvierzig anscheinend endgültig befestigten Grenze, eine Formulierung, die sich häufig im Text der selbst 1958 in Gotha gebürtigen Autorin findet.

Die neunzehnjährige Josepha arbeitet in einer Druckerei, der ‚VEB Kalender und Büroartikel Max Papp‘ in der thüringischen Kleinstadt W.. Im Verlauf des Romans erfahren wir eine Menge über das Leben in dieser damaligen DDR, über die Arbeitsbedingungen, über soziale Umstände, über das Alltagsleben. Natürlich fällt Josepha durch die hartnäckige Verweigerung, den Vater des (wie nur sie weiß) schwarzweißen Kindes zu nennen, auf, hat Nachteile, will sich ganz aus der staatlichen Betreuung herausziehen und kann nur durch Not und Mühe von einer Freundin überredet werden, sich zu arrangieren mit dem staatlichen System. Auch hier, in der Umgebung der DDR, spart Schmidt nicht mit wunderlichen und slapstickartigen Einlagen: die Faust Josephas, die im Zimmer der Meisterin bei Gelegenheit voller Wut in die Fruchtmarmelade schlägt, expediert beispielsweise eine Kirsche auf das wandhängige Bild des Staatsratvorsitzenden, dessen Mund sich daraufhin unabwischbar kirschrot färbt. Nicht nur dies…. mit unzüchtigen Aufforderungen, die fortan den gespitzten Lippen des formals zu Spröden entweichen, treibt das Bild später die Meisterin, die das Bild bei sich zu Hause seiner marmeladigen Schändung wegen verstecken wollte, zu unerhörten Manipulationen am eigenen Körper an, bis schließlich rauchverzehrte Gestalten, von den ‚zuständigen Stellen‘ ausgesandt, sich ihrer annahmen und sie nie mehr gesehen wurde…. immer waren es die ‚zuständigen Stellen‘, durch geheime Nummern alarmiert, die für Ordnung im Sinne der Ordnungsmacht sorgten, für eine Ordnung, die ängstigte….

Zeitgeschichte also aus weiblicher Sicht. Aber mehr noch stellt der Roman eine Hommage an die Macht der Frauen dar, einer Macht, die sich auch und gerade ihrer Geschlechtlichkeit bedient. Die schlupfburgischen Frauen bekennen sich zu ihrer Lust, viele ihrer Kinder sind unehelich (zumindest gemacht worden), werden ohne Vater erzogen. Sie bedien(t)en sich der Männer so wie es selbst Josepha mit dem schwarzweißen Kind im Bauch (der ‚Schlupfburg‘) noch praktiziert: im Urlaub auf der Luftmatratze in der Ostsee schaukelnd lädt sie in plötzlich erregter Lust den unerwartet auftauchenden Schnorchler ein, seinen anderen Schnorchel doch flugs (oder besser schwimmend und klammernd) in ihr zu versenken… derart tauscht Schmidt in diesen Passagen ihres Roman die übliche Rollenverteilung: der Mann wird hier zum Objekt, dessen sich die Frau bedient. In anderen Episoden retardiert der Mann zum Säugling, dessen Leben voll und ganz von der Mutter(milch) abhängt: der erwähnte Amtmann Thalerthal beispielsweise, der sich nur noch von Muttermilch nähren kann. Auch Erbs, der später annullierte Ehemann Thereses war so ein schwaches Geschöpf, das neben seiner Frau nicht existieren konnte und von dannen ging….


Die Gunnar-Lennefsen-Expedition war als Buch ein großer Erfolg, die Kritik (mit wenigen Ausnahmen) feierte es, es 1998 beim Ingeborg-Bachheim-Wettbewerb mit dem Preis des Landes Kärnten ausgezeichnet [2]. Es ist in der Tat ein Lesespaß, ein Roman, der beim Fabulieren und Erzählen keine Grenzen kennt und vor nichts scheut. Attribute wie ‚derb‘, ‚prall‘, ’sinnenfroh‘ (so wie es die aus- und einladende Rückenansicht auf dem Buchcover suggeriert), aber auch ‚phantastisch‘ charakterisieren diesen Roman durchaus treffend, dabei hat er ebenfalls genügend ernste und tragische Passagen, in denen sich Bilder und Beschreibungen historischer Zeiten formen. Die Art und Weise in der Schmidt geschrieben hat, entspricht dem teilweise märchenhaften Inhalt: es ist zwar kein Text ohne Punkt und Komma, aber über weite Strecken ohne Absatz und Unterbrechung, häufig ein nur spärlich strukturierter Fließtext über viele Seiten, so wie ein atemloser Erzähler sein Werk eben verrichten würde. Ob man es dagegen tatsächlich als Geschichtsschreibung aus weiblicher Sicht (so im Klappentext des Romans) nehmen kann, sei dahin gestellt oder ob der Roman doch eher ein in den historischen Kontext eingebundenes Fabulat ist, mag jeder für sich selbst entscheiden. Jedenfalls ist Schmidts Roman ein opulenter Lesespaß, wenngleich der Spaß für mich genauso groß gewesen wäre, wäre das Buch ein wenig kürzer geraten. Denn da auch eine Autorin wie Schmidt nicht immer nur Neues oder Altes neu erzählen kann, verliert der Verstoß gegen übliche Inhalte und Beschreibungen im Lauf der Episoden an manchen Stellen an Reiz und wiederholt sich, die Magie der beiden Frauen Therese und Josepha verflacht sozusagen. Abgesehen davon jedoch kann ich aus meiner Sicht das Studium dieses ganz speziellen Expeditionsberichts nur anraten.

Links und Anmerkungen:

[1] Autorenseite bei ihrem Verlag: https://www.randomhouse.de/Autor/Kathrin-Schmidt/p77677.rhd
[2] http://archiv.bachmannpreis.orf.at/bp98/fs_autoren.html

ferner gibt´s bei mir im Blog noch die Besprechung von Kathrin Schmidts Roman: Du stirbst nicht aus dem Jahr 2009:  https://radiergummi.wordpress.com/2009/11/03/kathrin-schmidt-du-stirbst-nicht/

Kathrin Schmidt
Die Gunnar-Lennefsen-Expedition
diese Ausgabe: btb, TB, ca. 428 S., 2007

3 Kommentare zu „Kathrin Schmidt: Die Gunnar-Lennefsen-Expedition

  1. Hallo Herbert,
    Du schaffst es jedes Mal wieder mir ein Buch schmackhaft zu machen, dass ich so nicht ausgewählt hätte. Die Gunnar Lennefsen Expedition wandert erstmal auf meine wuli und muss sich hinten anstellen.
    Hört sich nach guter Urlaubslektüre an.
    Danke für die schöne Rezension!
    LG Sonja

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