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Edmund de Waal, von dem ich hier vor einiger Zeit sein Buch der Hase mit den Bernsteinaugen vorgestellt habe [2], hat sich zu diesem Buch von Sasha Abramsky sehr positiv geäußert [1]: This is a fierce and beautiful book. It burns with a passion for ideas, the value of history, the need for argument. As a memoir of a grandfather it is sui generis. I loved it. War für de Waal seinerzeit eine Sammlung kleiner japanischer Elfenbeinschnitzereien, sogenannte Netsuke, Anlaß und Ausgangspunkt der Suche nach seinen Wurzeln, so ist es bei Sasha Abramsky die bemerkenswerte Bibliothek des Großvaters gewesen, die dieser in seinem Privathaus in London, 5 Hillway, im Laufe seines Lebens aufgebaut hat.
Das Haus der zwanzigtausend Bücher ist vor allem das Erinnerungsbuch eines Enkels an seinen Großvater und der Versuch, dessen Biographie und damit auch die eigene Geschichte zu verstehen. Da der Großvater Chimen Abramsky ein äußerst bemerkenswerter Mensch war, der fast ein Jahrhundert auf dieser Erde lebte, wird dieser biographische Ansatz darüber hinausgehend auch zu einer Art Geschichtsstunde für bestimmte Aspekte des Weltgeschehens.
Chimen Abramsky [3] wurde im September 1916 in Minsk (heute Weissrussland), noch im Reich der Zaren, als Sohn des Rabbi Yehesekel Abramsky geboren. Dieser fiel schon frühzeitig durch seine enorme Frömmigkeit und seine Kenntnisse der Thora auf, er besaß ein fotografisches Gedächtnis, das sich auf seinen Sohn Chimen vererbte. Der Junge wurde zu Hause erzogen, lernte dort Russisch, Yiddisch und Hebräisch. Um ihn in dieser unruhigen Zeit vor fremden Einflüssen zu schützen, untersagte ihm sein Vater praktisch jeden Kontakt zu anderen Kindern. Chimen habe, so gibt es Sasha Abramsky wieder, einmal vor lauter Langeweile und Einsamkeit eine Woche lang laut von eins bis zu einer Million gezählt…. Als Jude wurde Yehesekel Abramsky verfolgt, eine Zeitlang war er als Sträfling in einem Lager interniert, ausländische Proteste hatten sein Todesurteil im Schauprozess gerade noch verhindern können. 1932 schließlich, Chimen war somit sechzehn Jahre alt, konnte die Familie nach London emigrieren, für Chimen war damit ein Lebensabschnitt vorbei. Zwei seiner Brüder wurden jedoch als Geiseln in Russland festgehalten, sie durften erst 1937 auf Vermittlung des damaligen britischen Außenministers Eden ausreisen.
Im Stammbaum Chimen Abramskys gab es eine Reihe herausragender Rabbis, mit Chimen brach diese Tradition ab. Obwohl sich Chimen auch mit Rücksicht auf seinen Großvater nie öffentlich vom Judentum lossagte, fing er an, einer anderen “Religion” anzuhängen, dem Kommunismus. Wie viele andere Intellektuelle zu dieser Zeit unterlag er der Faszination der Ideen von Marx, der zu seinem Leitbild wurde. Es war dies auch eine Reaktion auf den aufkeimenden Faschismus in Europa, der in Deutschland und Italien Fuss fasste, in Spanien einen Bürgerkrieg vom Zaun brach und der gerade Intellektuellen den Sozialismus als attraktiven Gegenentwurf erscheinen und vor manchen Auswüchsen in Russland die Augen verschließen ließ. Stalins Spruch von den Spänen, die fielen, wo gehobelt wird, wurde als plausibel akzeptiert.
Im erwachsenen Leben von Chimen Abramsky sind im wesentlichen zwei Phasen festzustellen: die erste ist die seiner totalen Zustimmung zur kommunistischen Ideologie. Diese Zustimmung ging so weit, daß er – was seinen Enkel, als dieser im Nachlass die entsprechenden Unterlagen entdeckte, sehr schockierte – sich in seinem Lebenslauf, verfasst für den Aufnahmeantrag in die Partei über seine Eltern so äußerte: Meine Eltern waren sehr reaktionär. Für kurze Zeit befand sich mein Vater in Russland in Haft. [… In England] habe er sich gegen die konservative Haltung seiner Eltern aufgelehnt.…
Schlimmer noch war der Nachruf, den der bekennende Stalinist Chimen Abramsky zum Tode Stalins 1953 verfasste und der Dokumenten dieser Art, wie man sie heute noch aus Nordkorea erwarten würde, in nichts nachsteht. Insbesondere das völlige Ignorieren der Realität, was Stalins Einstellung zu den Juden in der UdSSR betraf, ist erschütternd. Dort unterdrückte der reale Antisemitismus die Juden immer stärker, während Chimen Stalin noch als deren Freund bejubelte.
Dieser Nachruf war in gewisser Weise der traurige Höhepunkt in seiner Karriere als kommunistischer Agitator. Auf dem XX. Parteitag der KP begann 1956 mit der “Geheimrede” Chruschtschows die offizielle Entstalinisierung durch die Offenlegung der Verbrechen Stalins. Im gleichen Jahr marschierte die Armee der UdSSR in Ungarn ein und unterdrückte dort den Aufstand der Arbeiter. Diese beiden Ereignisse desillusionierten Chimen Abramsky, so daß dieser (nach einem gewissen inneren Ablöseprozess) letztlich 1958 aus der Partei der englischen Kommunisten austrat.
Die geistige Lücke, die dieser Abkehr von seiner bisherigen Ideologie hinterließ, fing Chimen Abramsky auf, indem er sich dem Gebiet der Judaica zuwandte. So hatte die zweite große Phase seines Lebens mit diesem Umbruch begonnen, politisch wurde seine Einstellung von nun an immer liberaler und offener. Zwar wurde er kein praktizierender Jude, aber seine Kenntnisse zum Judentum, zu dessen Geschichte, Entwicklung und Kultur machten ihn im Lauf der Jahre zu einem weltweit bekannten und geschätzten Experten, der schließlich – ohne akademische Nachweise – sogar eine Professur am University College London erhielt und die damit verbundenen Aufgaben mit Begeisterung und einem gut entwickeltem Selbstbewusstsein ausfüllte.
Chimen Abramsky erreichte ein hohes Alter und litt letztlich unter dessen Bürde: der zunehmenden Einsamkeit und dem körperlichen Verfall. Lange vor ihm schon starb seine Frau Miriam, ebenso praktisch alle anderen Verwandten aus seiner Generation, aber auch jüngere Familienmitglieder überlebte er…. Von Kindern und Enkeln begleitet, von Pflegekräften versorgt, war es Chimen Abramsky jedoch vergönnt, seine letzte Lebensphase in seinem Haus, inmitten seiner Bücher zu verbringen. Dort starb er am 14. März 2010, dem Todestag seines trotz der Abkehr vom Kommunismus lebenslang verehrten Karl Marx.
Soweit einige Eckdaten eines höchst interessanten und bemerkenswerten Mannes und Lebens. Bevor ich jedoch zu der Frage komme, was ihn zu einem wirklich herausragendem Menschen macht, noch kurz ein paar Worte zu seinem eher privatem Leben, wie es uns sein Enkel schildert.
Es muss ein recht lebhaftes Leben gewesen sein, an dem seine Frau Miriam, von ihm liebevoll “Miri”, von anderen dagegen “Mimi” genannt, großen Anteil hatte. Sie, die ebenso wie Chimen Mitglied der Kommunistischen Partei in England war und diese gleichfalls desillusioniert Ende der 50er Jahre wieder verließ, war eine begeisterte Gastgeberin, sie bekochte die Gäste des Hauses und es waren viele. An einer Stelle schätzt der Autor, daß die Anzahl der Besucher über die Jahre hinweg wohl der Anzahl der Bücher im Hause entsprach. Jeder kam in den Genuss ihrer Gastfreundschaft, die ein Angebot war, das man nicht ablehnen konnte. In den Zimmern des Hauses wurde es täglich schnell voll, man saß auf den Möbeln, aber auch auf Fensterbänken und diskutierte miteinander bei Essen und Trinken bis spät in die Nacht hinein. Sasha Abramsky schildert eine Episode, in der einer der Schlafgäste sich im Zimmer entkleidete und zum Schlafen auf die Couch niederlegte, während die anderen Gäste, die sich im Zimmer aufhielten, so gar nicht daran dachten, ihre Diskussionen zu beenden und nach Hause zu gehen. In der Zeit seiner kommunistischen Agitation (Chimen verfasste unter diversen Pseudonymen viele Artikel, Aufrufe und Flugblätter) konnten diese Diskussionen auch heftig und lautstark werden…..
Einen großen Teil ihrer Bekannten verloren Chimen und Mimi nach ihrem Parteiaustritt: sie wurden von ihren ehemaligen Genossen geächtet. Man wechselte die Straßenseite, wenn man ihnen begegnete, verbot auch den Kindern das Spielen mit den Abramskyschen Kindern. Es war eine Zeit der relativen Einsamkeit und Umorientierung für die Familie, jedoch gelang es ihr recht schnell, über die neue Leidenschaft „Judaistik“ einen neuen, internationalen und hochkarätigen Bekanntenkreis aufzubauen. Dieser war “lockerer” eingestellt, liberaler in den Ansichten; später, als Chimen an der Universität arbeitete, gehörten ihm gleichfalls ausgewählte Studenten an.
Neben seiner universitären Arbeit war Chimen Abramsky ebenfalls für Auktionshäuser tätig. Was er privat nie schaffte, machte er hier: Kataloge erstellen, Exponate beurteilen und bewerten, Expertisen erstellen. Er wurde zum gefragten und weltweit anerkannten Experten und Sammler – womit ich endlich bei diesem Thema wäre, das der Titel des Buches so beeindruckend ankündigt: der Büchersammlung Chimen Abramskys, zu ihrer Zeit einer der bedeutendsten privaten Sammlungen überhaupt.
Chimen hatte 1936 angefangen, in Jerusalem Geschichte zu studieren. Das Studium blieb jedoch ohne Abschluß, der Ausbruch des 2. WK hinderte ihn 1939, von einem Besuch seiner Eltern in England an der Rückkehr nach Palästina. Er fing daraufhin an, in der jüdischen Buchhandlung “Shapiro, Valentine & Co“ im Londoner East End zu arbeiten und verliebte sich in einer der drei Töchter der Besitzerin, in seine zukünftige Frau Miriam. Weiterhin entscheidend war die Bekanntschaft mit Heinrich Eisemann, einem aus Deutschland geflohenen Raritäten-Buchhändler, der für ihn zum Lehrer und Mentor wurde.
Chimen Abramsky entwickelte eine enorme Sammelleidenschaft, die geprägt war von großer Sachkenntnis. Im Laufe seines Lebens baute er zwei Bibliotheken auf: eine politische, in der er die grundlegenden Werke sozialistischer Autoren (aber nicht nur dieser) in wertvollen Erstausgaben sammelte, Bücher, in denen z.B. Marx oder Engels Notizen und Randbemerkungen hinterließen, er besaß „Das Kapital“ von Marx in 28 Sprachen, ebenso befanden sich Originalbriefe bedeutender Kommunisten wie beispielsweise von Rosa Luxemburg in seiner Sammlung. Sasha Abramsky erzählt die Geschichte und Bedeutung vieler Bücher aus diesem Teil der Bibliothek, die – auch das muss man sagen – mit dem Niedergang des Kommunismus ebenfalls ihren Wert verlor und auch ihre Bedeutung.
Abgelöst wurde dies durch das Sammeln von wertvollen Judaica. Bibeln, Thora-Exemplare, Erstausgaben von Werken bedeutender Philosphen wie z.B. Spinoza, liturgische Bücher zu den jüdischen Festen – es ist wohl kaum zu erfassen, wie wertvoll und voller Substanz diese Sammlung Chimen Abramskys im Lauf der Jahre wurde, in vielen Aspekten vollständiger und umfassender als öffentliche Judaica-Sammlungen in Museen oder Universitäten.
… und doch….. es kommen einem als Bücherfreund beim Lesen an vielen Stellen die Tränen. In einer Rezension des Buches in der “Jüdischen Allgemeinen” [4]steht das Wort, das mir an solchen Passagen spontan einfiel, das ich mich aber nicht getraut hätte, hier von mir aus zu verwenden: Der Jahrhundert-Messie. Denn genau das war Chimen Abramsky ebenso: ein Messie, nicht nur ein Sammler, sondern auch einer, der hortet, der nichts wegschmeissen konnte, in dessen Schreibtischschubladen sich Rechnungen aus den letzten Jahrzehnten sammelten, der in einem Haus lebte, in dem über die Jahrzehnte hinweg nichts renoviert wurde, mit einer miefigen Toilette, mit defekten Rohrleitungen und mit einem undichten Dach, so daß häufig Wasser durch die Decken sickerte, daß in den späteren Jahren chronisch überheizt war, in dem die kostbaren bibliophilen Werke unter allgemein fürchterlichen Bedingungen gelagert wurden – so die Worte des Autoren. Gottseidank waren ein Großteil der Bücher so alt, daß sie noch nicht aus Papier hergestellt waren, sowohl Vellum als auch Lumpenhalbstoff waren unter diesem Klima, daß so ungeeignet war für die Lagerung seltener Texte, bemerkenswert stabil; wie Bücher aus Papier, zumal dem früher verwendeten säurehaltigen, dies überstanden hätten, ist sehr fraglich….
Beim Aufräumen des Nachlasses fand die Kinder Chimens noch eine alte, wertvolle Bibel, die Chimen vor Jahrzehnten gekauft, aber nie aus ihrem Postumschlag ausgepackt hatte…. es gab keinen Katalog der beiden Sammlungen sozialistischer Literatur und der Judaica, Chimen mit seinem fotografischen Gedächtnis war der einzige, der das Chaos beherrschte, der zielsicher ein Buch herausgreifen konnte, um das Zitat, das er gerade gebracht hatte, zu belegen…
Diesen an Verwahrlosung grenzenden Verhältnissen in der Chimenschen Sammlung, die doppelreihig in den sich über fast alle Wände erstreckenden Regalreihen, in Bücherstapeln auf Tischen und Böden platziert war, setzte sich den Schilderungen Sasha Abramskys gemäß auch in der Küche fort: fettglänzend dort sowohl Töpfe und Teller, die zum Erstaunen des Besuchs vor dem Essen gespült werden mussten…. Spülen war in diesem Haushalt die Aufgabe von Chimen, die er wohl nicht immer “state of the art” erfüllte.
Die Erinnerungen des Autoren heißen Das Haus…. und dementsprechend ist das Buch aufgebaut. Wir streifen mit dem Sasha Abramsky durch die Räume des Hauses im Hillway 5 im Londoner Stadtteil South End, lassen uns von ihm den Inhalt der Regale erläutern, wobei er immer wieder sehr interessant auf den historischen Hintergrund einzelner Texte eingeht oder deren Bedeutung für seinen Großvater erläutert. Die Räume sind jetzt nach dem Tod des letzten Bewohners einsam, sie strahlen diese typische Leere und Verlassenheit von Gebäuden aus, deren Bewohner gestorben sind und die nicht mehr bewohnt werden. Aber die Bücherberge künden noch vom Besitzer, dem einmal eine der Cousinen des Autoren in sein ansonsten immer verschlossenes Büro nachschlüpfen konnte. Sie sah ihn [dort] in einem Tunnel durch [Bücher]Stapel hindurch verschwinden, dessen Umriss genau seiner Silhouette entsprach. Ein wunderschönes Bild eines sich durch seine Bücher, sein Wissen, sein Gedächtnis identifizierenden Mannes…
Ein Meister ohne Meisterwerk – so steht es an einer Stelle… Chimen Abramsky war weltweit anerkannter Experte mit einem ausgesuchten Sachverstand und einem enormen Wissen. Dies alles nahm er mit in sein Grab, ohne daß er der Nachwelt eine Zusammenfassung oder ein Exerpt daraus hinterlassen hätte. Kein Buchprojekt, ob von ihm selbst vorgeschlagen oder von Verlegern initiiert, kam über das Stadium erster Skizzen hinaus, fast schien es so, als wäre Chimen von seinem eigenen Wissen erschlagen und blockiert worden. Es ist ebenfalls eine Gabe, beim Niederschreiben von Gedanken eine Grenze dessen zu finden, was man erzählen will, um nicht auszuufern, Chimen war diese Gabe anscheinend nicht gegeben. So waren auch seine Vorträge, wie Sasha Abramsky schildert, immer weit ausholende und schnell gesprochene Betrachtungen, die von einem zu anderen kamen, denn schließlich hängt ja alles mit jedem zusammen und die ganze Welt in anderthalb Stunden zu erklären, ist schwierig….
Das Schicksal der Sammlungen von Chimen Abramsky lehrt uns auch, wie vergänglich solch ein Ruhm ist. Nach seinem Tod wurden die Sammlungen aufgelöst, der Schutz, den die Wortmauern ihrem Besitzer vor dem Wahnsinn der Aussenwelt boten, war nicht mehr vonnöten. Zusammen mit ihrem Besitzer löste sich dieses Werk … des Respekts vor der Vergangenheit, das die Erinnerungen und Ideen inzwischen längst verstorbener Männer und Frauen bewahrte, auf. Experten sichteten den Fundus im Hillway wochenlang und so übersiedelten die wertvollsten Stücke in andere Sammlungen….
Das osteuropäische, chassidische Judentum hat im 20. Jahrhundert vernichtende Schläge erdulden müssen: den durch die Hitlerhorden entfachten Holocaust und den Antisemitismus in Russland bzw. in der UdSSR, der vielleicht nicht auf dem Papier, aber der in der Praxis bestand. Diejenigen der osteuropäischen Juden, denen die Flucht gelang, stießen im Westen Europas und auch in Amerika jedoch auf ein aufgeklärteres, anders ausgerichtetes Judentum, dem die strenge Orthodoxie eines z.B. Yehesekel Abramsky letztlich fremd war. Auch Yehesekel wanderte schließlich nach Israel aus und verbrachte dort seinen Lebensabend, er starb 1976, seine Beerdigung fand unter großer Beteiligung seiner Anhänger statt [5]. So kam es zu Auseinandersetzungen zwischen diesen differierenden Strömungen, die sich in Spaltungen der jüdischen Gemeinde niederschlugen. Auch davon berichtet Das Haus der zwanzigtausend Bücher, denn dessen Bewohner Chimen war einer dieser “nichtjüdischen Juden”, die ihr Judentum zwar nur noch in Ansätzen lebten (im Hause Abramsky wurde beispielsweise konsequent koscher gekocht), diesem jedoch innerlich ihr Leben lang verbunden blieben.
Doch schon der nächste Generation der Kinder und erst recht der der Enkel war vieles Jüdische fremd. So schildert der Autor, wie die Rituale bei Feiertagen wie dem Pessahfest von Chimen zwar noch eingehalten wurden – er las traditionsgemäß seiner Familie (in seinem hohen Sprechtempo) die Haggadah vor, seine Zuhörer jedoch verstanden diesen Text und das damit verbundene Ritual, je jünger, desto weniger.
Der Mensch Chimen Abramsky…. als Stalinist muss er ein großer, teils auch verbissener Verfechter seiner Ideologie gewesen sein. Ein Mann, der sich in den schriftlichen Quellen auskannte, der stundenlang um die richtige Interpretation der relevanten Texte seiner damaligen “Götter” diskutieren und ringen konnte. Er anerkannte die geistige und intellektuelle Kompentenz seines Gegenübers, lieber hatte er es mit einem beschlagenen politischem Gegner zu tun als mit einem Parteigenossen, den er für dumm hielt. Abgesehen davon war er gastfreundlich, verschmitzt, sich seines Wertes und Könnens bewusst. Nach der Desillusionierung und seiner Zuwendung zur jüdischen Geschichte wurde er auch im täglichen Leben mit Menschen umgänglicher, die Enkel waren ihm eine Freude, für sie setzte er sich auch Plastikbecher auf den Kopf und tanzte durch die Zimmer. Interessanterweise erwähnt der Autor das Verhältnis Chimens zu seinen eigenen Kindern praktisch gar nicht.
Zum Schluss schildert Sasha Abramsky seinen Spaziergang durch das alte, ehemalig durch jüdische Bewohner gekennzeichnete Viertel in London, in dem er groß geworden ist, seine Großeltern wohnten, sein Urgroßvater zwanzig Jahre lang Dajan, i.e. Richter, am Londoner Gemeindegericht Beth Din war (dem obersten religiösen Gerichtshof für Juden in Großbritannien) und diesen mit seiner orthodoxen Überzeugung prägte. Dieses Viertel hat seinen Charakter in der Zwischenzeit völlig geändert, die jüdische Bevölkerung ist weg, jetzt leben dort viele Immigranten aus muslimischen Ländern wie Pakistan und prägen das Viertel mit ihrem Leben…. ein wehmütiger Spaziergang und Blick zurück, aber die Welt ändert sich und nichts bleibt so, wie es ist oder einmal war….
Das Haus der zwanzigtausend Bücher ist ein sehr gelungener Versuch, einem beeindruckenden Menschen, einer beeindruckenden Familie, ein posthumes Denkmal zu setzen, eine Erinnerung an sie zu schaffen und damit etwas nachzuholen, wozu er/sie selbst zu Lebzeiten nicht in der Lage gewesen war. Zugleich hat der Autor Sasha Abramsky es verstanden, das Biographische seines Großvaters geschickt mit vielen damit verbundenen historischen und gesellschaftlichen Aspekten zu verknüpfen, seien es nun die um das Schicksal der Juden in Russland, Interna zur kommunisten Partei in England oder auch die Entwicklung der Buchdruckerkunst in Konstantinopel…. immer wieder sind solche Passagen erhellend und sehr interessant geschildert.
Hier setzt auch der einzige kleine Wermutstropfen ein, der zu einer Bitte an den Verlag führt. Bei der Vielzahl von auch historischen Personen und Persönlichkeiten, die im Buch erwähnt wären, wäre ein Personenregister hilfreich, eventuell sogar etwas ausführlicher mit einer kurzen Angabe (soweit zutreffend), in welcher Beziehung diese Person zu Chimen Abramsky stand. Dies würde der Nutzung des Buches als kleines Nachschlagewerk zu einzelnen Fragen sehr entgegenkommen, denn die Darstellung, die der Autor für seine Arbeit gewählt hat, ist, da sie den Räumen in Chimens Haus und damit dem Inhalt der Regale folgt, etwas erratisch in dem Sinne, daß viele Ereignisse oder Tatsachen an verschiedenen Stellen des Textes angeschnitten werden.
Aber abgesehen von diesem kleinen Einwand ist Sasha Abramsky ein mit viel Einfühlungsvermögen und hohem Sachverstand geschriebenes Buch gelungen. Es zeugt von der Bewunderung und Liebe eines Enkels zu seinem Großvater, ohne daß der Autor dabei die Augen vor dessen dunkleren Seiten verschließt. Das Haus der zwanzigtausend Bücher ist ein intelligentes Lesevergnügen, eine Lebensbeschreibung, in der sich die Veränderungen der Welt im letzten Jahrhundert wiederspiegeln, es gehört ganz sicher auf den Büchertisch jedes Bücherfreundes.
Links und Anmerkungen:
[1] “This is a fierce and beautiful book. It burns with a passion for ideas, the value of history, the need for argument. As a memoir of a grandfather it is sui generis. I loved it.” —Edmund de Waal, author of The Hare with Amber Eyes” in: http://www.amazon.de/The-House-Twenty-Thousand-Books/dp/190555964X
[2] Edmund de Waal: Der Hase mit den Bernsteinaugen, Buchvorstellung hier im Blog: https://radiergummi.wordpress.com/…bernsteinaugen/
[3] Die Wikibeiträge der jeweiligen Personen:
– Chimen Abramsky: https://de.wikipedia.org/wiki/Chimen_Abramsky
– Yeheskel Abramsky: https://de.wikipedia.org/wiki/Yehezkel_Abramsky
– Sasha Abramsky: https://de.wikipedia.org/wiki/Sasha_Abramsky
[4] Tilman Salomon: Der Jahrhundert-Messie – Sasha Abramsky ordnet die gewaltige Bibliothek seines Großvaters; in: http://www.juedische-allgemeine.de/article/view/id/23543
[5] vgl. hier: http://www.jta.org/1976/09/21/archive/rabbi-yehezkel-abramsky-dead-at-91
Dieser Beitrag ist auch als Audiofile im literatur Radio bayern zu hören.
Sasha Abramsky
Das Haus der zwanzigtausend Bücher
Mit einem Nachwort von Philip Blom
Übersetzt aus dem Englischen von Bernd Rullkötter
Originalausgabe: The House of Twentythousend Books, London, 2014
diese Ausgabe: HC, dtv, ca. 408 S., 2015
Ich danke dem Verlag für die Überlassung eines Leseexemplars.
Ein Kommentar zu „Sasha Abramsky: Das Haus der zwanzigtausend Bücher“