Simon Garfield: Briefe!

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Auch wenn wir heute viel weniger Briefe schreiben als früher (so die Klage), es sei denn, wir hätten einen besonderen Anlaß wie ein Familienfest oder einen Trauerfall – oder gerade deswegen, erregt ein Brief, der nicht eine Rechnung enthält oder Werbung oder irgendeine amtliche Mitteilung, sondern der privat ist, unsere besondere Aufmerksamkeit und eventuell sogar ein wenig Überraschung und Erwartung. Das Verschicken von Briefen, von Berichten mit privatem Charakter, in denen man von seinem Leben erzählt, von Begebenheiten, die einem untergekommen sind, in denen man auf das eingeht, was der Briefpartner im letzten Brief erzählt hat – mit dem Aufkommen der Mail wird diese Kulturtechnik immer mehr zurückgedrängt… wobei in der Zwischenzeit auch die Mail selbst schon „alt“ ist und abgelöst wird durch SMS, durch Messenger wie WhatsApp oder durch die Nachrichtensysteme der sozialen Netzwerke.

Der Journalist Simon Garfield [3] widmet sich den Briefen, es ist ein leicht nostalgisch angehauchter Versuch, ihre Faszination einzufangen und lebendig werden zu lassen. Zwar „drückt“ er sich um einen eigentlich wesentlichen Punkt herum: er definiert nicht, was überhaupt ein Brief ist, ob dies ein rein technischer Begriff ist oder sich auf Funktion bzw. die Art des Inhalts bezieht. Dies ist nicht trivial, denn trotz des beklagenswerten Rückgangs der Briefkultur quillt unser Briefkasten ja doch häufig über wegen.. eben: vieler Briefen… oder sollte man dann sagen: wegen vieler Post? Egal, es ist mir nur aufgefallen, ein kleines Manko, daß dadurch mehr als ausgeglichen wird, daß jeder Leser dieses Buches intuitiv weiß oder wenigstens spürt, was Garfield unter „Brief“ versteht…

Vom Ansatz her geht der Autor systematisch vor, erzählt von den ersten Briefen, die auf englischem Boden in alten römischen Anlagen gefunden wurden und deren Botschaften auf kleinen Täfelchen geritzt waren. Es sind Nachrichten, die Geschäftliches behandeln und in die Heimat geschrieben werden, aber auch Mitteilungen an Vorgesetzte, verbunden mit Bitten wie Die Kameraden haben kein Bier. Bitte befiehl, daß welches gebracht wird.. Hoffen wir, daß die Bitte erhört worden ist…

Zum Brief gehört notwendigerweise auch eine Möglichkeit, ihn über mehr oder weniger weite Strecken zum Adressaten zu transportieren. Es ist ein langer Weg von den ersten Anfängen bis hin zum durchorganisierten Postwesen der Neuzeit. Nicht immer kommen die Briefe zuverlässig an, manches geht verloren, es gibt Zeiten, in denen Briefe von der Obrigkeit geöffnet werden, um sie nach Informationen durchzuschauen. Noch sind wir in der Epoche, in der der Empfänger für den Brieftransport bezahlt, die Umstellung auf die Zahlpflicht des Absenders verbunden mit der Einführung der Briefmarke sollte einen Quantensprung in der Briefkultur sein: Zusammen mit den jetzt durchorganisierten Beförderungsmöglichkeiten wurde der Brief zum massenkompatiblen Medium.

Der Brief oder auch der Briefwechsel zwischen zwei Persönlichkeiten ist, so erläutert Garfield, meist ein intimer, privater, unverstellter Zugang zu deren Leben und Ansichten. Ein Brief wird nicht so sehr aus dem Augenblick heraus geschrieben, man läßt sich gemeinhin mehr Zeit, ist besonnener und formuliert überlegter. Was Garfield damit meint, illustriert diese Äußerung Umberto Ecos, die ich passend zum Buch in einem akutellen Interview gefunden habe [2]: … Wenn ich früher einen Brief bekam, habe ich meine Antwort sorgfältig abgewogen, sie dann zu Papier gebracht und in die Post gesteckt. Heute dagegen reagiert man im Affekt. Wenn Sie mir sagen: Du bist ein Arschloch, würde meine briefliche Antwort lauten, Werter Herr, vielleicht haben Sie mit Ihrer Beleidigung ein wenig übertrieben. Wenn ich aber unmittelbar darauf reagieren soll, sage ich: Selber! (lacht). Damit leistet man den Schwachköpfen Vorschub, …

Aber zurück zu „.. formuliert überlegter“: Das Briefeschreiben als Kunst führte schnell dazu, daß bestimmte Regeln für die Abfassung eines „guten“ Briefes galten. Es machte einen Unterschied, ob man ihn an eine höher- oder niedriger gestellte Persönlichkeit sandte, ob er privat oder offiziell war, ob er „einfach so“ oder ober er aus einem bestimmten Anlass versendet wurde. Es rief geradezu nach Ratgebern, die den ratsuchenden Briefschreiber anleiten sollten, hier keine Fauxpas zu begehen. Die älteste dieser Art Anleitungen, von denen Garfield berichtet, wurde immerhin schon im Jahre 1215 von Boncompagnus, einem Rhetorik-Professor aus Bologna und Padua („Rhetorica antiqua“) auf den Markt gebracht und umfasste stattliche sechs Bände. Es sollte im Verlauf der folgenden Jahrhunderte nicht der einzige Ratgeber bleiben….


Nun haben wir Wesentliches beisammen: der Brief als Lupe zur Persönlichkeit des Schreibers, Kenntnisse und Fähigkeiten zum Verfassen eines Briefes, das durchorganisierte Postwesen mit Briefkästen, Routen und Tarifen und das letztlich damit zusammenhängende explosionsartige Anwachsen der beförderten Briefmenge… doch es gilt weiterhin: Grau, teurer Freund, ist alle Theorie, und Grün des Lebens goldner Baum und so füllt Garfield seine Betrachtungen zum Brief und zum Schreiben derselben mit Beispielen aus Briefwechseln bekannter oder gar berühmter Menschen.

Heinrich VIII beispielsweise warb per Brief volle 18 Monate, von Mai 1527 bis Oktober 1528, lang um Anna Boleyn: „…. so will ich Euch als meine einzige Geliebte nehmen, alle anderen außer Euch aus meinen Gedanken und Gefühlen verstoßen und Euch allein dienen.“ Nun ja, was hält schon ewig… ein paar Jahre später saß Anna Boleyn im Tower, angeklagt des Ehebruchs und des Hochverrats. Der letzte, bewegende Abschiedsbrief der Boleyn, in der sie ihre Unschuld und Treue bekundet, ist zwar abgedruckt, aber wird wahrscheinlich eine Fälschung sein…

Ach, so viele BriefschreiberInnen: im Frankreich des späten 17. Jahrhunderts war Madame de Sévigné berühmt für ihre Briefe, 1300 davon verfasste sie in 50 Jahren. Deftiger, zumindest zum Teil, waren schriftliche Schilderungen der Lieselotte von der Pfalz. Ihr Abenteuer auf dem Nachttopf klingt in ihrer Darstellung so: „.. wie ich in der besten Arbeit war, brach der kammerpott; zu allem glück erhielt ich mich an einer tafel, were sonst wohl weich, aber schmutzig geffallen …. Were ich auch nicht geschwind aufgesprungen, heten mich die scherben greulich zerschnitten. “ Das muss man jetzt nicht unbedingt wissen, interessant ist der Zusatz an die heimlichen Mitleser des Königs: „.. dies ist eine schöne historie und würdig, von einem minister d´etat gelesen zu werden; ich mögte wissen, ob er dieses dem könig rapportieren wird, denn die staatssachen werden übel gehen, wenn der König dieses nicht erfährt.“ , zeigt er doch, daß auch die Post hochgestellter Persönlichkeiten (noch dazu aus dem Ausland) kontrolliert wurde, und das gar nicht so heimlich.

Es sind die Liebesbriefe Bonapartes an Josephine erhalten, in denen sich anklagender, egozentrischer und misstrauischer Mann zeigt, der sich 1830 mit folgenden Worten von der ehemalig Begehrten trennt: „…. Adieu, meine Liebe. Laß mich wissen, daß es dir gut geht. Es heißt, Du bist so fett wie eine gute normannische Bäuerin.

In den Briefen Beethovens ging es häufig ums Geld, der Mann lebte in zwiefacher Not: zuwenig Geld und eine schlechte Gesundheit: „... Mein Gehalt beträgt nur soviel, daß ich davon den halbjährigen Wohnzins bestreiten kann, dann bleiben noch einige hundert Gulden Wiener Währung übrig! … Arzt, Chirurgenus,. alles muss bezahlt werden…“

Von Heinrich von Kleist erfahren wir, in welcher Weise er seinen Dienstvorgesetzten im Brief anredet, wahrlich bemerkenswert: „Ich küsse Ihnen voll der innigsten Rührung und Liebe die Hände, mein verehrungswürdigster Herr Geheimer Oberfinanzrat!

Tragisch ist der Briefwechsel zwischen Leonard Woolf und Vanessa Bell, der Schwester von Virginia Woolf, die sich im März 1941 ertränkt hat: „.. Sie haben letzte Woche den Fluss abgesucht, geben aber, glaube ich, die Suche jetzt langsam auf.„.. Die Leiche Virginias wurde noch gefunden, von Kindern, ein paar Tage später. Mit Steinen in den Taschen, an einem entfernteren Teil des Ufers….

Ich will von den zahlreichen anderen Episoden und Geschichten, die Garfield erzählt nur noch eine erwähnen, und zwar die, die sich zwischen Ted Hughes und Slvia Plath abspielte. Die Ehe zwischen den beiden endete tragisch, der Tod Sylvia Plaths ist bekannt, in den Worten Teds an seine Schwester Olwyn klingt dies so: „..am Montagmorgen um etwa 6.00 Uhr hat sich Sylvia vergast. Die Beerdigung ist nächsten Montag in Heptonstall.
Sie bat mich vorher um Hilfe, wie sie das so oft getan hat. Ich war der einzige, der ihr hätte helfen können, und der einzige, den ihre Zustände und Forderungen so abgestumpft hatten, dass ich nicth erkennen konnte, als sie sie wirklich brauchte.
Ich schreibe später mehr.
Alles Liebe
Ted“

In einem weiteren, berührenden Brief schreibt Hughes an die Mutter Sylvias. In diesem Brief versucht er eine Rechtfertigung, die Ehe der beiden war kompliziert und anstrengend: „..Wir waren vollkommen blind, wir waren beide verzweifelt, dumm und hochmütig….“ Die erhaltenen Briefe sowohl von Sylvia als auch von Ted lassen – wie es auch in den anderen Beispielen aus Garfields Buch der Fall ist – einen tiefen Einblick in die Realität dieser Beziehung zu, es sind unverstelltere Einsichten, ehrlichere als man sie in z.B. in autobiographischen Schriften findet.

Genug, es sind noch viele andere Briefwechsel bzw. BriefschreiberInnen erwähnt, aber die müßt ihr euch selber erlesen… als Appetizer soll das, was ich aufgeführt habe, reichen. Worauf Garfield hin und wieder ausführlich eingeht, das sei nur erwähnt, ist die Bedeutung solcher Briefe als Sammelobjekte und auch als Dokumente für die wissenschaftliche Aufarbeitung von Lebensläufen.

Die Zusammenstellung Garfields wäre nicht vollständig, wenn sie den Abgesang auf den Brief nicht noch einmal aufgreifen würde: die vermeintliche Ablösung des Briefes durch elektronische Hilfsmittel wie Mails, SMS oder die Messenger der sozialen Netzwerke. Ob damit des Briefes letztes Stündlein wirklich geschlagen hat – man muss es absehen. Pessimistische Untergangsszenarien treffen ja gottseidank nicht immer ein….

Last not least….. Durch das gesamte Buch zieht sich, eine wunderschöne Idee Garfields, der Briefwechsel zwischen Bessie und Chris Parker, einem ganz normalen Paar aus England. In ihren Briefen, die sie sich im Zweiten Weltkrieg schrieben (Chris war Soldat an der Front) läßt sich ablesen, wie sich ihre Beziehung immer weiter entwickelte und aus einer anfänglichen Freundschaft und aus Sympathie langsam Liebe wurde, Liebe und Begehren und eine unheimliche Freude auf das Leben miteinander, das nach Ende des Krieges auf sie wartete…. des Begehrens übrigens (bzw. dessen Formulierung in den Briefen) durften die Briefe erst nach dem Tod der beiden vom Sohn gelesen werden: Ich schreibe da, was ich gerne mit ihr machen möchte. 500 Briefe mit 525.000 Wörtern sind es insgesamt….


Garfields Arbeit über Briefe! ist ein schönes, unterhaltsames, informatives Buch. Gerade die Ausführlichkeit, in der er auf manche der Briefwechsel eingeht, ist sehr erhellend. Manches mag man schon mal gehört haben, hier wird es vertieft. Der Schwerpunkt des Buches, das kann man ihm natürlich nicht vorwerfen, es ist nun mal ein Buch aus England, liegt auf dem angelsächsischen Sektor: England und auch Amerika, das sollte man einfach nur wissen. Aber ganz unerwähnt bleiben auch die deutschen Schreiber nicht, wenngleich ein entsprechendes Buch aus Deutschland ganz anderen Inhalts wäre. Ferner beschränkt sich Garfield auf Briefe von Politikern und Künstlern, Briefe oder Briefwechsel von Wissenschaftlern (mir fällt da jetzt spontan der zwischen Max Born und Albert Einstein ein), werden nicht behandelt.

Als Buch übrigens ist das Werk mit knapp 6 cm Breite durchaus imponierend und im Regal kaum zu übersehen, der Verlag hat für den Druck ein recht dickes Papier gewählt. Dieses Format jagt im ersten Moment einen kleinen Schrecken ein, das Buch liest sich aber zügig, viele Abbildungen lockern den unterhaltsam geschriebenen Text zusätzlich auf.

Links und Anmerkungen:

[1] Der Blog zum Buch: https://weltderbriefe.wordpress.com
[2] Umberto Eco: Italien ist immer ein rechtes Land gewesen; DIE ZEIT, 39/2015, S. 45f
[3] Wiki-Seite zum Autoren: https://de.wikipedia.org/wiki/Simon_Garfield

Simon Garfield
Briefe!
Ein Buch über die Liebe in Worten, wundersame Postwege und den Mann, der sich selbst verschickte

Übersetzt aus dem Englischen von Jörg Fündling
Originalausgabe: To the Letter, Edingburgh, 2013
diese Ausgabe
: Theiss / WBG, HC., 539 S. mit 97 s/w Abb, 2015

Ich danke dem Verlag für die Überlassung eines Leseexemplars.

2 Kommentare zu „Simon Garfield: Briefe!

  1. Für mich gehört das Briefeschreiben noch immer zum Leben dazu. Genauer gesagt ist es eines meiner Lieblingshobbys – wahrscheinlich das einzige, das mich seit meiner Kindheit begleitet. Zusammen mit der Liebe zu Katzen. 😍
    Natürlich benutze ich auch häufig den Computer oder mein Smartphone, so wie jetzt gerade. Doch das Briefeschreiben hat etwas, was all diese modernen Technologien nicht ersetzen können…

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    1. … das ist wohl wahr… ich habe auf deiner seite gesehen, daß du dem hobby briefeschreiben in der tat sehr zugetan bist. ich für mich persönlich kann dies leider nicht sagen, ein grund dafür ist meine unsagbar schlechte, unleserliche schrift, die ich selbst kaum entziffern kann… schade eigentlich!

      herzlichen dank für deinen besuch und den kommentar!

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