Jürgen Goldstein: Die Entdeckung der Natur

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Der Mensch lebt in der Natur, er ist, weil Lebewesen, Teil derselben einfach durch sein Sein. Die oftmals in Ansätzen durchscheinende künstliche Trennung zwischen Mensch und Natur ist unselig, alles, was der Mensch der Natur antut, wirkt auf ihn selbst zurück. Der Mensch, ungeachtet dessen, transzendiert die Natur, er kann sie wahrnehmen, beobachten, deuten, erforschen, über sie reflektieren. In diesen Tätigkeiten spiegelt sich sein Bild von der Natur wieder, denn nie ist es uns möglich, die Natur „an sich“ sehen, sondern notgedrungen sehen wir immer das Bild von der Natur, das durch die Verarbeitung der optischen Daten, die unser Auge empfängt und weiterleitet, im Hirn entsteht, wo das allgemeine Weltbild, in das der Betrachter eingebunden ist, wie ein Filter das Wahrgenommene moduliert. Der eine sieht im Baum die Schöpfung Gottes, der andere den Ort, an dem er zum ersten Mal küsste. Der dritte beurteilt den Wertholzanteil, der vierte spürt die Herausforderung, diesen Baum ohne Hilfsmittel zu erklimmen: ein Baum, aber viele Wahrnehmungen…


Der Professor der Philosophie Jürgen Goldstein [unbedingt: 1] beleuchtet in seinen Ausführungen das sich im Lauf der Jahrhunderte wandelnde Verhältnis Mensch/Natur, die sich ändernde Wahrnehmung der Natur durch den Menschen, der immer größere Bereiche der Erde entdeckt und für sich erschließt, wobei immer auch der philosophische/religiöse/weltanschauliche Hintergrund der jeweiligen Epoche zum Tragen kommt, bzw.  – im günstigsten Fall – durchbrochen und erweitert wird. Für die vorliegende Entdeckung der Natur kann, so führt er aus, und soll Vollständigkeit kein Ziel sein. Die Beschränkung auf exemplarische Naturerfahrung erfolgt anhand des Leitfadens der Bergbesteigungen und Seefahrten, andere große Leistungen wie die Durchquerung von Kontinenten, die Erreichung der Pole werden ausgenommen, ohne damit ihre Leistung und Bedeutung zu schmälern. Doch Bergbesteigungen und Hochseefahren sind … keine beliebigen Bewegungen im Raum, sie sind immer auch Ausdruck des uranthropologischen Willens, hoch hinaus und weit fort zu kommen.

In seinem Ausführungen analysiert Goldstein folgende „Meilensteine“, an denen er exemplarisch deren Bedeutung für unsere „Entdeckung der Natur“ aufzeigt:

1336: Francesco Petrarca besteigt den Mount Ventoux
1492: Kolumbus entdeckt „Amerika“
1699: Maria Sibylla Merian bereist Surinam
1773: Georg Forster erreicht Tahiti
1777: Johann Wolfgang von Goethe besteigt den Brocken
1778: Georg Christoph Lichtenberg erreicht Helgoland
1802: Alexander von Humbold besteigt den Chimborozo (fast….)
1804: François-René de Chateaubriand erklimmt den Vesuv
1835: Charles Darwin erreicht das Galapagos-Archipel
1865: Edward Whymper besteigt das Matterhorn
1865: Jean-Henri Fabre besteigt den Mount Ventoux
1883: Wilhelm Weike erreicht das Baffin-Land
1895: Fridtjof Nansen erreicht den 86. Grad nördlicher Breite
1938: Claude Lévi-Strauss erreicht Amazonien
1979: Peter Handke besteigt die Sainte-Victoire
1980: Reinhold Messners Alleinbesteigung des Mt. Everest ohne Sauerstoff
1992 Chris McCandless auf der Suche nach der verlorenen Wildnis


Et eunt homines mirari alta montium et ingentes fluctus maris et latissimos lapsus fluminum et oceani ambitum et gyros siderum, et relinquunt se ipsos. 

1336: Francesco Petrarca besteigt den Mount Ventoux

Der Mount Ventoux, der „Riese der Provence“ ist zumindest allen Radsportfreunden bekannt: er ist ein beliebtes Etappenziel auf der „Tour de France“. Sieht man, in welchem Tempo diese Radfahrer den Berg hinauffahren und dann auf ein recht kahles, abweisendes Plateau gelangen, welches aber eine wunderbare Aussicht bietet, so ahnt man kaum, was die Besteigung des Berges 1336 durch den italienischen Dichter Petrarca seinerzeit bedeutete.

Das oben wiedergegebene Zitat des großen Kirchenvaters Augustinus beherrschte über viele Jahrhunderte die Wahrnehmung der Natur durch den Menschen. In der Formulierung eher eine Feststellung wandelte sich der Spruch zur Aufforderung, sich nicht an den Äußerlichkeiten der Welt aufzuhalten, wo doch die viel reichere Welt im Inneren des Menschen selbst liegt, und dort sogar im Innersten selbst Gott zu finden ist. Mit seiner Besteigung des Berges um der Besteigung willen setzt sich Petrarca über dieses Gebot des Augustinus hinweg, er will bestaunen, was es von der Höhe aus zu bestaunen gibt, die „curiositas„, die Neugier, treibt ihn, der concupiscentia oculorum, der Augenlust, nachzugeben.

Petrarca wäre kein Dichter gewesen, hätte er seine Erlebnisse und Eindrücke vom Aufstieg, den er zusammen mit seinem Bruder unternommen hatte und bei dem er oftmals vom geraden Weg abkam, nicht schriftlich festgehalten und zwar in einem Brief an seinen akademischen Lehrer.

Noch kann sich Petrarce nicht völlig vom Gebot des Augustinus lösen, ja, Goldstein versucht anhand von Deutungen plausibel zu machen, daß dieser Aufstiegsbericht (und damit die Besteigung) „erfunden“ sein könnte und derart den inneren Kampf des Dichters um seine Naturerfahrung und den „Bruch“ mit Augustinus darstellt. Dieser Bruch ist nicht absolut, es gibt Zweifel bei Petrarca, Reue, Rückkehr, Abkehr… aber es ist durch Petrarca – sei es, wie es nun gewesen sei: ein reales oder ein imaginiertes Ereignis – ein Riss in der Mauer des Gebots, sich der Betrachtung der äußeren Welt zu entsagen, entstanden.

[Eine Übersetzung des eingangs aufgeführte Zitats: „Und es gehen die Menschen hin, zu bestaunen die Höhen der Berge, die ungeheuren Fluten des Meeres, die breit dahinfließenden Ströme, die Weite des Ozeans und die Bahnen der Gestirne und vergessen darüber sich selbst.“ (Augustinus: Confessiones X, 8)]

1492: Kolumbus entdeckt „Amerika“

Für viele, viele Jahrhunderte markierten die Säulen des Herkules, d.h. die beiden Felsen an der Meerenge von Gibraltar, das Ende der Welt. Darüber hinaus weiter zu segeln war eine Unternehmung, die nicht in Erwägung gezogen wurde. Was hinter diesem Ort lag, war unbekannt, es mochte mythische Vorstellungen davon geben, mehr aber auch nicht. Schon die Frage, ob man überhaupt wieder zurück segeln könne bei den Winden, die dort vorherrschen, war nicht sicher zu beantworten. Über mögliche Entfernungen zu neuen Ländern hatte man überhaupt keine Vorstellungen.

Die größte Leistung des Kolumbus bestand daher nach Goldstein darin, überhaupt los gesegelt zu sein auf einer Wasserwüste, von der man nichts wusste, auf eine Fahrt, von der man nur hoffen konnte, daß man überhaupt wieder auch zurückfahren könne über eine Strecke, von deren Größe man nicht die geringste Vorstellung hatte.

Kolumbus, es ist bekannt, erreichte einen neuen Kontinent. Für ihn war und blieb es Indien, die Inseln, die er als erster ansteuerte, heute noch die „Westindischen Inseln“. Er trifft auf Naturvölker, praktisch unbekleidet und mit anderen, fremden Gebräuchen, er trifft auf eine Natur, die ihn in ihrer Pracht und Ausgestaltung begeistert.

Aber Kolumbus betrachtet dies alles nicht mit offenem Sinn, sondern er sieht das, was er sehen will und erkennt in allem das, was er kennt, er betrachtet und sieht das Neue durch die Augen des Alten, des Bücherwissens. Die tropische Natur vergleicht er mit der Natur in Spanien, die Beschreibungen sind stereotpy und bemühen altbekannte Formulierungen. Ihm sind Natur und Menschen Verfügungsmasse für den König in Spanien, je mehr er diesem bieten kann, desto besser auch für ihn – schließlich ist er von königlichem Wohlwollen abhängig. In keinem Moment sieht er in dem unbekleideten Naturmenschen einen zwar anders lebenden, ihm aber prinzipiell gleichwertigen Menschen, Sprache, Sitten, religiöse Vorstellungen des Gegenübers interessieren ihn nicht.

1699: Maria Sibylla Merian bereist Surinam

Maria Sibylla Merian ist die einzige Frau, die in diesem Buch als Hauptperson vorkommt, sie muss eine sehr beeindruckende, selbstständige und selbstbewusste Frau gewesen sein. Ende des 17. Jhdts, 1691, zog sie nach Amsterdam, geschieden, selbstständig und neugierig. In Amsterdam landete das Exotische der neuen Welten an, für relativ wenig Geld konnte man die erstaunlichsten Lebenwesen, vor allem auch Insekten, erstehen: eingelegt, konserviert, aufgespießt – tot eben. Die ungeheure Vielzahl dieser „Exponate“ faszinierte Merian, daß sie tot waren, stieß sie ab: sie wollte das Leben sehen, bei den Insekten die Verwandlung, die Metamorphose, wie sie selbst eine durchlebt hat von der Ehefrau zur jetzt selbstständigen und eigenverantwortlichen Frau.

Sie fasst den Entschluss, nach Surinam zu fahren, auf Gottes Erdboden sicher einer der weniger bequemen Plätze: heiß, schwül, feucht, eine wuchernde Vegetation, unbekannte Krankheiten und vielerei Beschwernisse… auf Insekten spezialisiert sie sich, denn die Insektenkunde erweist sich als der Testfall, ob sich die Natur auch an ihren unteren Rändern mit der gehörigen Aufmercksamkeit als Gottes Schöpfung lesen läßt. Die Erforschung der Natur wird zu einem Akt der Frömmigkeit, die Betrachtung des Unscheinbarsten kommt einer Andacht nahe. Es wäre ein Frevel, die Insekten nicht genauer zu untersuchen.

Und genau das macht die zweiundfünfzigjährige Merian. Sie verkauft Hab und Gut, schifft sich ein für eine mehrmonatige, anstrengende Passage – um Schmetterlinge zu malen. Erst hält sie sich auf Plantagen auf, dann geht sie ins Landesinnere. Die Pracht der Natur, die Schönheit dessen, was sie sieht, verschlägt ihr den Atem, sie hält diese Wunder der Natur fest. Sie folgt ihrer Neugier, geht in den Urwald, gespannt, ob sie etwas zum Entdecken findet… Aber sie sieht auch, und das ist neu, die Häßlichkeit. Durch eine Lupe betrachtet und vergrößert erscheint manches monströs und furchterregend, so wie Galilei den Himmelskörpern durch den Nachweis von Kratern, Schluchten und ähnlichem das ideale Rund nahm, so ist  auch die belebte Natur zwar das Werk Gottes, aber offensichtlich nicht per se schön.

1701 schließlich ist Maria Sibylla Merian körperlich an ihre absolute Grenze gelangt, sie kann nicht mehr und kehrt nach Europa zurück. Hier wendet sie alle Energie auf, um ihre Ergebnisse in prächtigen Veröffentlichungen publik zu machen. Sie weiß, was sie geleistet hat und ihre Stiche und Zeichnungen haben „Ewigkeits“charakter.

1773: Georg Forster erreicht Tahiti

Georg Forster, ein ungewöhnliches Leben. Schon früh mit dem Vater unterwegs auf Reisen, zog viel um, musste auch selbst früh arbeiten, um zum Unterhalt der Familie beizutragen. Eine gründliche Schulausbildung hat er nie bekommen. Dafür nahm der Vater, der bei Cooks zweiter Weltumseglung als Chronist an Bord war, den jungen Zwanzigjährigen mit auf diese ihn prägende Fahrt.

Zu Forsters Zeiten war eine solche Reise eine unsichere, gefahrvolle Unternehmung von vielen Wochen, sogar Monaten. Wir haben heutzutage das Gefühl für Entfernungen verloren, sind in wenigen Stunden in anderen Kontinenten. Noch im letzten Jahrhundert, vor der Entwicklung des Flugzeugbaus, war das anders: die Reisen dauerten lange und der eigene Erfahrungshorizont auch für große Geister die Welt oftmals klein.

Die drei Jahre mit dem Schiff zeichnen Forster, physisch, aber auch psychisch. Sie kommen weit nach Süden in die Kälte der Antarkis. So faszinierend diese weiße Welt des Eises auch anfänglich ist, sie ist auch erbarmungslos. Die Schiffe segeln wochenlang in völliger Orientierungslosigkeit, im Nebel verschwimmen Wasser, Eis, Horizont und Himmel zu einer einzigen grauen Masse. Skorbut quält die Besatzung, oft passieren sie Eisberge nur mit Handbreit Abstand…. Antriebslosigkeit, Langeweile und Depression machen sich breit…. eine düstere Traurigkeit legt sich auf´s Gemüt der Leute… sie leisten Großen, erreichen südliche Breiten wie noch nie jemand zuvor, müssen die Reise nach Süden aber nach einem schlimmen Sturm abbrechen.

.. welch ein Unterschied, als nach dem Abbruch der Suche nach dem unbekannten Kontinent im Süden wieder nordwärts gesegelt wird und man Tahiti erreicht. Hier treffen die Schiffe auf eine paradiesische Natur, vom Eindruck und der Atmosphäre her gar nicht so verschieden von der, die Kolumbus seinerzeit vorfand. Und doch ist alles anders.

Vielleicht kommt Forster zu Hilfe, daß sein Intellekt nicht durch allzu viel Buchwissen blockiert und in eine bestimmte Richtung fokussiert ist, so ist er bereit, Neues als Neues zu erkennen und im Lichte schon vorhandenen Wissens in alte Kategorien einzuordnen. Sicher kommt ihm zugute, daß er künstlerisch begabt ist und Menschen und Landschaften sieht wie ein Zeichner. Jedenfalls erkennt er, daß diese Unbekleideten, die dort vor ihnen stehen und sie begrüßen, Menschen sind, ihnen, den Europäern nicht gleich, aber gleichberechtigt. Er sieht die Gesellschaftsstruktur, deren Hierarchie viel weniger ausgeprägt ist als in Europa und er sieht, daß diese Menschen glücklich leben. Hier, in der Südsee, sollten sich seine politischen Einstellungen ausbilden und prägen und Jahrzehnte später zum Tragen kommen.

Wie ein Maler versucht er ein Panorama der betrachteten Welt abzubilden. Er unterliegt nicht dem Zwang, Fakten zu sammeln und derart einen vermischten Haufen loser, einzelner Glieder“ zu bekommen, sondern entwickelt eine Empfindbarkeit für Zusammenhänge. Sein Antrieb ist das Bemühen, so beschreibt er es selbst, meine Begriffe zu einer gewißen Allgemeinheit zurückzuführen, sie zur Einheit zusammenzubinden. … .

Ein Morgen war´s, schöner hat ihn schwerlich je ein Dichter beschrieben, an welchem wir…. solche Sätze schreibt er und berührt damit das Gemüt des Lesers getreulich des Anspruchs Alexander von Humboldts, der forderte, daß die Natur auch dargestellt werden müsse, wie sie sich im Innern des Menschen abspiele.

Forster war ein Mann der Anschauung, er nahm das, was sich ihm bot, in seine Seele auf und spiegelte es von dort aus wieder. Die Natur, die er sah, überschwemmt ihn, entfremdete ihn sich selbst, er spürte dies durchaus: Ich bin des Schauens für heute satt, und erliege unter der Unerschöpflichkeit der Natur; ich sehne mich nach mir selbst.

Georg Forster, der aus der Südsee für sich die Erkenntnis mitgebracht hat, daß alle Menschen vom Prinzip her gut sind und einander gleichwertig, ungeachtet des Gesellschaftsmodells, in dem sie leben, sympathisiert in Europa stark mit den Ideen der französischen Revolution. In Mainz ist er 1793 daran beteiligt, die „Mainzer Republik“ auszurufen, vor der französischen Nationalversammlung verkündet er den Anschluss der besetzten Gebiete im Rheinland an Frankreich. Nach der Rückeroberung wird er dafür wie alle anderen Deutschen, die im Dienste der Republik gestanden haben, mit der Reichsacht belegt.

1777: Johann Wolfgang von Goethe besteigt den Brocken 

Der seit erst zwei Jahren in Weimar weilende Goethe ist schnell aufgestiegen zum hochbezahlten Beamten im Herzogtum. Diese Karriere fordert ihren Preis, der Dichter ist überarbeitet, gestresst und erschöpft. In diesem Zustand reist er unter dem Namen Johann Wilhelm Weber in den Harz. Er besucht Bergwerke (ist in Weimar seit neuestem auch für diesen Sektor verantwortlich), eine nicht ungefährliche Aufgabe, nur knapp entgeht er einem schweren Unfall unter Tage.

Diese Winterreise im Jahr 1777 fällt in eine schwierige Zeit für Goethe. Im Sommer war seine Schwester Cornelia gestorben [vgl hier: https://radiergummi.wordpress.com/2014/04/09/sigrid-damm-cornelia-goethe/]. Sein Verhältnis zu ihr war problematisch. Als Kinder waren sie enge Vertraute, deren Vertrautheit in der Pubertät und der erwachenden Sexualität auf dem schmalen Grat des noch Vertretbaren wandelte – wenn sie nicht darüber hinausging. Dem Bruder Goethe jedoch stand als Mann die Welt offen, er nutzte dies weidlich, der Schwester aber blieb trotz ihrer Bildung und Anlagen nur das Schicksal fast aller Frauen dieser Zeit: die Heirat. Cornelia war unglücklich, ihr Bruder fühlte sich durch ihr Schicksal belastet, blieb oft und lang still. Empfang er ihren Tod als persönliche Entlastung, als Hinwegnahme des drückenden Gewichts auf ihm, das ihn in seinem eigenen Wesen, seinem Lebensziel, hinderte?

Goethe nimmt den Versuch der (bis dato als unmöglich angesehenen) Besteigung des Brockens im Winter als Gottesurteil. Glückt sie ihm, so sind ihm die Götter gewogen. Es ist ein archaisches, biblisches Moment, das hier zu Tage bricht: Gott wird angerufen, ein Zeichen zu geben, das der Mensch zu deuten weiß als Gottes Willen.

Der Aufstieg gelingt, Goethe erwartet auf dem Berg ein heitrer, herrlicher Augenblick, die ganze Welt in Wolken und Nebel und oben alles heiter. Die Götter sind ihm gewogen, sie befreiten ihn von der Last des Todes der Schwester, die ihn niederzog….

1778: Georg Christoph Lichtenberg erreicht Helgoland

Lichtenberg, ein Geistesriese, eingesperrt in einen seltsam verkrüppelten Körper, der ihn zeit seines Lebens quälen und behindern sollte, der das Schiff, welches ihn nach Helgoland bringen sollte, nicht aus eigener Kraft besteigen, sondern der hochgehoben werden musste.. Helgoland, diese kleine Insel in der Deutschen Bucht, zu Lichtenbergs Zeiten war die Fahrt dorthin kein Kinderspiel, die Nordsee konnte wild sein und verschlingend. Für Lichtenberg jedoch war diese Fahrt ein Traumziel, von dem er auch andere überzeugen konnte und so machte sich die Gesellschaft 1778 zum puren Vergnügen, ohne einen handfesten Sinn, auf, über dieses graue schäumende Meer zu diesem einsamen Eiland zu segeln. Dieses „touristische“ der Fahrt, noch dazu unter den widrigen Witterungsumständen (da sie viel länger dauerte als geplant, gab es sogar die Falschmeldung, sie seien gekentert und alle tot) die herrschten, war etwas Neues, Sensationelles. Für Lichtenberg, der an Land so gehandicapt war, war es dagegen die Erfahrung der Gleichheit, der Freiheit: hier auf dem schaukelnden Schiff war er den anderen gleichwertig, er litt kaum unter der Seekrankheit, setzte sich den Elementen aus und widerstand, hier konnte er sein Recht, zu sein wie man zu sein glaubt, leben…

1802: Alexander von Humbold besteigt den Chimborozo (fast….)

Zum ersten Mal erblickte Alexander von Humboldt 1790 das Meer, in der Begleitung des Weltumseglers Forster. Für beide war dies ein bedeutendes Erlebnis: Forster, durch sein langes „Leben auf dem Meer“ und die Erlebnisse dort in gewisser Weise traumatisiert, sieht in Dünkirchen zum ersten Mal seit Jahren wieder die unendliche Wasserfläche und der zwanzigjährige Humboldt bricht auf dieser Reise zusammen, weinte oft, ohne zu wissen, warum. Humboldt war nicht glücklich im preussischen Berlin, war oft krank und Forster schreibt, er sei fest überzeugt, daß bei ihm der Körper leidet, weil der Geist zu thätig ist, und weil die logische Erziehung der Herren Berliner seinen Kopf zu sehr mitgenommen hat. Der Anblick des Meeres, der unendlich scheinenden Weite, die so im Gegensatz zur Enge seiner Heimat stand, weckt das Fernweh in ihm, die Sehnsucht nach fremden Ländern, er war letztlich zu allem bereit, wenn es ihn nur in die Ferne bringen würde. So flieht er in die Natur, die für ihn das Reich der Freiheit ist, in das er unmittelbar nach dem Tod der Mutter 1796 aufbricht. Er ist reich und damit unabhängig, keinem Rechenschaft schuldig, alles finanziert er selbst: die Reise, die Ausrüstung und später die Veröffentlichungen seiner Ergebnisse und Eindrücke.

1799 endlich geht die Reise nach Südamerika zusammen mit seinem Reisegefährten Aimè Bonpland los. Über die Kanaren (Besteigung des Pic de Teide) erreichen sie 6 Wochen nach ihrem Aufbruch in Venezuela den südamerikanischen Kontinent und sind begeistert vom Anblick der Küste, der Wälder, der Pflanzen, der Tiere… die Vermessung der Welt [vgl. hier:  https://radiergummi.wordpress.com/2008/03/21/daniel-kehlmann-die-vermessung-der-welt/] kann beginnen….

Sie erforschen den Urwald, fahren Tausende Kilometern in abenteuerlichen Booten auf den riesigen Strömen Amazoniens, mehr als einmal kommt Humboldt bei seinen Streifzügen in große Gefahr. In seinen Veröffentlichungen klingt solche Episoden nüchtern, hier sind abstrahierte Darstellungen zu finden, in den persönlichen Tagebuchaufzeichnungen kommt die Dramatik der Ereignisse dagegen an die Oberfläche.

Südamerika lehrt ihren Besuchern Demut vor der Natur. Ist in Europa die Natur ein Teil der Lebenswelt des Menschen, so erkennt Humboldt hier, daß der Mensch ein vernachlässigbarer Teil der Natur ist: sein Fehlen würde niemandem auffallen, seine Existenz ist für die Ordnung der Natur nicht von Notwendigkeit, ein ungeheuerlicher Gedanke ebenso wie die Einsicht, daß diese Schöpfung hier sich selbst genügt, einen Gott nicht benötigt.

Die Andenkette, das andere Naturwunder Südamerikas, das sich durch den gesamten Kontinent entlangs der Pazifikküste zieht. War die Natur des Amazonasbeckens überbordend, so sind die Berge, die sie monatelang durchstreifen, karg und abweisend. Humboldt ist besonders von den Vulkanen fasziniert, deren Stellung in der Natur noch nicht so recht bekannt ist. Er besteigt sie, wo immer möglich, sucht den Blick in die tintenschwarzen Krater, der Ränder oft von Schnee bedeckt sind, es sind lebensfeindliche Orte, eine abweisende Natur, die den Menschen gering achtet..

… der Chimborazo, zu dieser Zeit wird angenommen, daß dies der höchste Berg auf der Erde sei. Unbesteigbar, doch was kümmert dies Humboldt, er wagt den Aufstieg, zusammen mit Trägern und Begleitern, in Straßenkleidung, wie man sie in Berlin tragen würde…. Nebel, Dunst, Schnee.. ein wegloser Aufstieg durch lose Geröllfelder in immer dünner werdender Luft, die vor Kälte klirrt. Der Weg ist steil, man muss auf allen Vieren klettern, schneidet und verwundet sich an den scharfen Brocken. Natürlich hat Humboldt Messgeräte dabei, so kann er die erreichte Höhe messen. Auf 5915 Metern stehen sie dann vor einer unüberwindbaren Erdspalte, der Gipfel nur noch knapp 400 Meter entfernt. Der folgende Abstieg, bei dem die Männer in schlechtes Wetter kommen, ist kaum ungefährlicher als der Aufstieg….

Humbold war beides: ein Naturforscher, der – so Kehlmann – alles untersucht, was nicht Füße und Angst genug hat, ihm davonzulaufen… er quantifiziert und misst die Natur, hat aber die Fähigkeit bewahrt, die Natur zu erfühlen, insbesondere die Stellung und Bedeutung des Menschen in ihr. Sowohl der Urwald als auch die Anden haben ihm gezeigt, wie unbedeutend der Mensch für die Natur ist.

1804: François-René de Chateaubriand erklimmt den Vesuv

Die Natur, so zeigte sich im 17./18. Jhdt deutlich, ist nicht (nur) gottgeschaffen und gut und schön: Die Zerstörung Lissabons durch das große Erdbeben (sowie die nachfolgenden Brände und den Tsunami) erschütterten den Glauben daran ebenso wie immer wiederkehrende, verheerende Vulkanausbrüche, die wie der des Ätna von 1669 dermassen schröcklich gewütet hatte und u.a. 93000 Menschen ihr Leben dabey einbüssten. Die Besteigung dieses Berges war also mithin keine Kleinigkeit.

Goldstein vergleicht in diesem Kapitel verschiedene Darstellung und Wiedergaben dieverser Vulkanbesteigungen: Johann W. Goethe war insgesamt dreimal auf dem Vesuv, sein Vater Caspar bestieg diesen Berg schon 1740, bei dessen bloßer Erwähnung die Menschen vor Angst zu zittern begannen, in der Selbstbeschreibung mit der Autosuggestion, den heitersten und anmutigsten von ganz Neapel zu unternehmen.

Daß der Frangose Chateaubriand den Vesuv bestieg, mag daran gelegen haben, daß er in seinen Naturbeschreibungen allgemein einen Kunstgriff sah, sich selbst und seinen Weltschmerz auszudrücken. Der Vesuv war für ihn, der die Berge nach zwei Kategorien einteilte, nämlich mit Wolken und ohne Wolken, als Berg wenig beeindruckend. Was ihm gefiel, war die Aussicht vom Vulkan, hierin erinnert er an Petrarca und dessen Fernsicht vom Mount Ventoux. Ansonsten versucht Chateaubriand seinen Lesern das Spektakuläre insofern zu liefern, als daß er beim Abstieg in den Krater seine Gedanken schildert, nur wenige Klafter unter seinen Füßen einen Feuerschlund zu haben, der sich plötzlich öffnen und ihn mit diesen zerschmetternden Marmorblöcken in die Luft schleudern könnte. Ob sich in diesen, ihn – nach Goldstein – beeindruckenden Gedanken, denen er entsetzten Auges entgegensieht, wirklich der eigene Tod reflektiert oder ob sich nicht ganz einfach menschlich hierin eine berechtigte Angst oder zumindest Befürchtung spiegelt, mag dahingestellt sein.

1835: Charles Darwin erreicht das Galapagos-Archipel

Darwin, sein Name löst bei mir – und vielleicht auch bei anderen – eine bestimmte Assoziationskette aus: das Portaits des alten Darwin (das, wie passend, an mittelalterliche Darstellung Gottvaters erinnert) – Beagle – Galapagos – Finken – Schnäbel – Survival of the Fittest – Evoution. Das es dann doch nicht ganz so einfach war und einiger Voraussetzungen bedurfte (und Darwin das Ganze dann doch fast gegen die Wand gefahren hätte, um es salopp auszudrücken), legt Goldstein in diesem hochinteressanten Beitrag dar.

Darwin war so etwas wie ein ewiger Student. Das Medizinstudium brach er nach zwei Semerstern ab, er hört einige Geologie- und Zoologievorlesungen, die ihm aber unglaublich fad vorkamen. 1827 wechselte er von Edingburgh nach Cambridge, um dort Theologie zu studieren, hörte auch Mathematikvorlesungen. In der Rückschau späterer Jahre jedoch betrachtete Darwin die drei Jahre Studium in Cambridge, die er wohl mehr mit studentischem Leben denn mit Arbeit gefüllt hatte, als vergeudete Zeit.

Was ihm gefiel, waren nicht die trockenen Hörsäle, sondern die Exkursionen, die er mit dem Botanikprofessor Henslow und seinen Studenten unternimmt und die ihm die unmittelbare Nähe und Anschauung zur/der Natur bieten. Darwin muss beeindruckt haben, denn Henslow empfiehlt ihn dem Kapitän der Beagle als Begleiter auf der geplanten Weltreise.

Im Februar 1832 erreicht die Beagle Südamerika, wie schon anderen ergeht es auch Darwin, der von der Üppigkeit des Urwalds ebenfalls tief beeindruckt ist: Von den Szenen, die sich mir tief eingeprägt haben, sind keine erhabener als die von Menschenhand unberührten Urwälder, seien es jene Brasiliens, wo die Mächtes des Lebens vorherrschen, oder jene Feuerlands, wo Tod und Verfall obsiegen. Beide sind Tempel, angefüllt mit den mannigfaltigen Erzeugnissen des Gottes der Natur.

Darwins Erlebnisse in Feuerland waren noch in anderer Hinsicht bedeutend. Er traf dort auf die Ureinwohner, bemalte, mit Fellen bekleidete, elende, verschreckte, misstrauische Gestalten, verdreckt, mit verfilzten Haaren, rauen Lauten – so fremd, daß man sich kaum in diese Wilden hineinversetzen und ihre Handlungen verstehen kann; der Unterschied zum zivilisierten Menschen größer als zwischen wildem und domestiziertem Tier. Und doch stellt Darwin diese Gestalten nicht auf die Stufe von Tieren, sondern sieht in ihnen Menschen und schließt daraus, daß alles civilisierten Nationen die Nachkommen von Barbaren sind. Und weiter stellte sich die Frage: Wenn der zivilisierte Mensch Abkömmling ist dieser Wilden, wessen Abkömmlinge sind diese wiederum? Doch bevor sich Darwin dieser Frage stellen konnte, brauchte es noch etwas anderes.

Auf dieser Reise war Darwin zuvörderst Geologe und es waren gerade diese geologischen Untersuchungen, die condition sine qua non waren für seine spätere Theorie von der Entwicklung der Arten. Denn das, was ihm auf seinen Exkursionen durch die Anden begegnete, konnte er sich im Rahmen der herrschenden Vorstellung von der Zeit, die seit der Schöpfung vergangen ist (welche selbst durch das Studium der Bibel auf den 23. Oktober 4004 B.C., 09:00 gedeutet worden ist) nicht erklären: Unmengen glatt geschliffener Kiesel in den Bergen, versteinerte Muscheln (Meerestiere!) auf den höchsten Gipfeln, versteinerte Bäume im Gebirge… auch die Existenz von Atollen mitten im riesigen Ozean.. all dies konnte nicht in ein paar Jahren entstanden sein.

Darwin sprengte den herrschenden Zeitbegriff, er begriff, daß der anscheinend so feste Erdengrund im Massstab quasi unendlicher Zeiträume der Veränderung unterlag: was vor Äonen Meeresgrund war, war jetzt kilometerhoher Andengipfel… hier war keine Schöpfung am Werk, kein Fingerzeig Gottes zu erkennen, sondern Werden und Vergehen waren am Werk, Entwicklung mithin…

Jetzt lagen die Grundlagen für Darwins großen Gedanken bereit. Und doch… erst kurz vor der Abfahrt von den Galapagos-Inseln stieß ihm die Bemerkung des Gouverneurs auf, er könne am Panzer einer Schildkröte genau erkennen, von welcher der Inseln das Tier stamme.. Inseln, fast in gegenseitiger Sichtweise, gleich karg in gleichem Klima und solche Unterschiede? Hastig machte sich Darwin daran, Material zu sammeln (hier kommen dann auch die Finken ins Spiel…) und zu sichten und die Frage war: Hat sich eine Art aus der anderen entwickelt, als Folge des Drucks von sich wandelnden Existenzbedingungen? Sollten auf diese Weise .. in Zeiträumen von unberechenbarer Länge … tatsächlich neue Arten entstanden sein? 

Es war dies die einzige Reise Darwins, nach seiner Rückkehr blieb er in England und wertete die gesammelten Daten aus. Wir kennen das Ergebnis, das auch den Menschen einschließt. Für uns (na ja, nicht für alle –> Kreationisten) ist es selbstverständlich, für „damals“ (es ist noch nicht so lange her) war es ungeheuerlich: Each species changes. does it progress.

1865: Edward Whymper besteigt das Matterhorn

Einen Berg zu besteigen war nicht einfach eine sportliche Herausforderung, im Gegenteil, war dieser Gesichtspunkt überhaupt nicht relevant. Über Jahrhunderte hinweg war kaum jemand auf den Gedanken gekommen, die unwirtlichen Gipfel, oft als Wohnsitze von Göttern bekannt, zu erklimmen. In der Aufklärung griff der Gedanke eines Menschen- und Weltbildes um sich, in dem der Mensch nicht mehr auf göttliche Gnade angewiesen ist, sondern er aufgrund der eigenen Fähigkeiten Ziele erreichen kann: „Ich bin mir bewußt, daß ich … Etwas kann, wenn ich will. .. Ich darf also froh sein, … daß ich mich mit diesem edlen Vermögen der Freyheit und Thätigkeit des Willens ausgestattet finde“. … schrieb 1748 der Greifswalder Autor Spalding. Zur Metapher für diesen Anspruch wurde die Haltung des Menschen, das Aufgerichtetsein; das Niederknien, das Sich-Niederwerfen stand damit der Menschwürde entgegen. Nach Kant sind derartige Selbstverkleinerungen Verfehlungen dessen, wozu der Mensch sich erhoben hat.

Die Schweizer warn´s..  nein, ein Schweizer war es, der diesen Gedanke wörtlich umsetzte. Der Berner Philosophieprofessor Ith schrieb 1788 daß der Mensch als der Aufwärtsstrebende an Felswänden klettere, wo kaum die Breite der Sohle eine Unterlage finde. Dem Höhenrausch der Vernunft entsprach ab sofort die Selbstbestätigung des Kletternden, die in sich selbst begründet ist, frei ist von Zweck und Nutzen: die Umsetzung dieses neuen Gedanken war die Geburtsstunde des Alpinismus. Um diese Zeit wurden die großen Alpengipfel zum ersten Mal bestiegen, 1786 zum Beispiel der Mont Blanc. Hatten die Seefahrer, die Weltumsegler, die Erfahrung der Weite, des sich immer weiter hinausschiebenden Horizontes gemacht, so war das Pendant für die Kletterer der sich mit jedem Höhenmeter erweiternde Ausblick (auch dies eine Art Horizont) und die Erkenntnis, daß der Mensch in diesen unwirtlichen Höhen, in Kälte, Eis und Fels, nicht nur überleben, sondern bestehen kann. Der Blick weitete sich, nicht nur nach unten, auch nach oben, in die unermessliche Weite der Sterne, der Milchstraße, des Universums, das nie klarer und leuchtender vor einem stand.

Charakteristisch für die Kletterei ist das Gefühl des Ausgesetztsein, des Alleinseins, welches die Standhaftigkeit des Menschen in feindlicher Umgebung auf die Probe stellt. Dies ist nicht unbedingt eine Sache der Höhe, der Autor schildert in diesem Zusammenhang auch die gefährlichen Alpenpassgänge von Goethe und anderen im Winter, durch brusthohen Schnee und über glattes Eis…. Das Lebensfeindliche der Umgebung bedeutet in der Umkehrung, daß der Mensch an die Grenze seiner Leistungsfähigkeit gehen muss, um die Kälte, den Wind, die Einsamkeit ertragen zu können, bei extremer Aufmerksamkeit: ein falscher Schritt, ein falscher Griff kann den Tod bedeuten.

Edward Whymper, 1840 in London geboren, erwies sich als bergsteigerisches Talent, das im Auftrag eines Verlegers in die Alpen kam. Seine Herausforderung, nachdem schon fast alles bestiegen war in den Alpen, wurde das schier unbezwingbar erscheinende, 4478 m hohe Matterhorn. Ein ums andere Mal geht er den Berg an – und erreicht den Gipfel nicht, kommt im Gegenteil einmal nur knapp mit dem Leben davon, ein Sturz (noch ist die Ausrüstung der Alpinisten kaum vorhanden, keine Pickel, keine Klettereisen, gerade mal Seile, manchmal…), den er noch wenige Meter vor der Kante auffangen kann… im Juli 1865 ein weiterer Anlauf mit einer neuen Mannschaft auf einer neuen Route, in Wettlauf zu einer weiteren Seilschaft, die ebenfalls den Versuch macht, das Matterhorn zu bezwingen. Diesmal schaffen Whymper und seine Kameraden den Gipfel, es scheint, die richtige Route zu finden war die eigentliche Herausforderung des Berges. Ein grandioser Ausblick belohnt die Leute, es ist aussergewöhnlich klares Wetter, ein vollkommenes Panorama, Hunderte Kilometer weit liegen die Bergriesen unter ihnen…

Der Rückweg, sie gehen angeseilt, hintereinander. Rasten kurz an einer einfachen Stelle, an der sich der Erste der Gruppe nicht sichert, sich nicht am Fels festhält. Warum auch, er steht völlig sicher… Beim Weitergehen von dieser harmlosen Stelle rutscht einer der Männer aus, fällt auf den Rücken, tritt dabei dem Vordermann mit den Füssen ins Kreuz, der ist völlig überrascht, beide stürzen gut drei Meter tief, bis das Seil sich spannt und die nächsten zwei umreißt, erst die nächsten beiden (was heißt erst, in dieser beinahe Gleichzeitigkeit des Geschehens…) können ihren Stand behaupten und stemmen sich in das Seil – das einfach reißt, man hat beim Losgehen versehentlich das älteste und schwächste genommen.

Vom Tal aus beobachtet ein Junge das Geschehen, er sieht so etwas wie eine Lawine, die den Berg hinunterrast…. Whymper und die zwei Bergführer, die noch im Berg sind, sind kaum noch handlungsfähig, sind schwerst traumatisiert, kaum gelingt ihnen die unsägliche Tortur des Abstiegs. Von den vier abgestürzten Kameraden können nur drei geborgen werden, einer ist bis heute vermisst. Diese vier Toten, dieses Unglück stellen eine Zäsur dar für die Bergsteigerei, es sind die ersten Opfer der Grenzerfahrung, die die Kletterei darstellt.

Bis heute hat es am Matterhorn über fünfhundert Tote gegeben.

1865: Jean-Henri Fabre besteigt den Mount Ventoux

War die weiter vorne geschilderte Besteigung des Mount Ventoux durch den Italiener Petrarca ein bedeutender Akt einer neuen Sicht auf die Natur durch die eigene Erfahrung, so spielt dieser Gesichtspunkt bei Jean-Henri Fabres Wanderung auf den Berg keine Rolle mehr.

Fabre war Kind armer Eltern, es war viel für ihn, auf die Schule zu gehen und schließlich Abitur zu machen, ja, sogar eine Dissertation abzuliefern. Als Lehrer für Physik arbeitet er anschließend auf Korsika und begleitet dort den Botaniker Moquin-Tandon auf einer Expedition. Diesem fällt bald das besondere Talent des jungen Fabre auf: dessen Gabe zu Beobachten und er rät ihm dringend, diese zu nutzen, wenden Sie sich dem Tier, der Pflanze zu. ..

Fabre befolgt diesen Rat, er fängt an, dorthin zu blicken, wo andere wegschauen, ihm fällt auf, was andere übersahen. Die Insekten haben es ihm angetan, er bringt stundenlange Geduld auf solange zu warten, bis das geschieht, was er sehen will…. ähnlich wie Merian (siehe oben) interessiert ihn nicht der aufgespiesste Leib eines Käfers, eines Schmetterlings in einer Sammlung, er will das Tier in seiner Lebenswelt sehen, wie es agiert, wie es sich vermehrt, wie es jagt oder gejagt wird…. er kann sich ein Haus kaufen mit einem Stück Brachland, welches er umgrenzt mit einer Mauer – nun hat er seine Ruhe vor lästigen Blicken Vorbeieilender und kann sich seinen Beobachtungen widmen.

Dieser Fabre also wandert 1865 mit einer Gruppe von Männern auf den Mount Ventoux, den er für einen (relativ groß geratenen) Schotterhaufen hält, dem keinerlei Reiz anhaftet. Auch der Ausblick ist ihm nicht allzu viel wert, sein Weitblick ist auf das Nahe beschränkt: „…unter dem Schutzdach eines großen, flachen Steins findet er … Psammophila hirsuta, die Behaarte Sandwespe, …“ …. hunderte von ihnen…. Der Aufstieg hat sich gelohnt. Fabres Bestimmung war der Blick ins Kleine, auf die Einzelheit, auf das, was jeder andere übersah. Ihm war der Berg nur ein Mittel zum Zweck der Beobachtung, ein Freiluftlabor sozusagen.

1883: Wilhelm Weike erreicht das Baffin-Land

Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt
[Ludwig Wittgenstein]

Wilhelm Weike reist als Diener des Dr. Franz Boas 1883 am Bord der „Germania“ in die arktischen Gegenden Nordamerikas, in das Baffin-Land. Baffin-Land ist nicht Terra incognita, aber noch hinreichend unerforscht, um sie unter neuen Gesichtspunkten, nämlich die Abhängigkeit der Lebensverhältnisse der Menschen dort von der Natur, zu untersuchen und zu protokollieren.

Dieses kurze Kapitel in Goldseins Buch illustriert den vorangestellten Satz Wittgensteins. Weike, der Mann mit der damals normalen Volksschulbildung, hatte nämlich von Boas den Auftrag bekommen, ein Tagebuch über die Reise zu führen, das ggf. auch Boas als ergänzendes Material zu den eigenen Aufzeichnungen dienen sollte.

Während Boas eigene Aufzeichnungen oftmals reine Datensammlungen sind, die keiner emotionale Regung erkennen lassen, ist er im Gegenzug aber auch fähig, die Schönheit der Landschaft oder von Ereignissen sprachlich adäquat umzusetzen. Weike hingegen, der diese Schönheit und Erhabenheit ebenfalls empfindet, ist in sprachlich begrenzt, eingeschränkt: kaum ist er in der Lage, eine Empfindung, einen Eindruck anders als „schön“ zu nennen. Neues, was er erblickt, den klaren Sternenhimmel, Polarlichter schildert er in den Kategorien, die ihm bekannt sind, der Vergleich mit dem Gewohnten ist seine Methode, seine Schilderungen sind von fast biblischer Schlichtheit.

1895: Fridtjof Nansen erreicht den 86. Grad nördlicher Breite

Im Süden Grönlands wurden 1884 verschiedene Gegenstände gefunden, die von einem Schiff stammten, das 1881 nördlich der Neusibirischen Inseln im Eis havariert war. Dies brachte Nansen auf die Idee, das Eis unterliege einer Drift, so daß man, wenn man ein Schiff vom Eis einschließen ließe, mit dieser Drift den Nordpol erreichen könne.

Ein waghalsiger, auf einer weitgehend unbewiesenen Vermutung fußender Gedanke… den Nansen umsetzte: er baute ein Schiff, das den besonderen Anforderungen des Eiseinschlusses standhalten konnte, die Fram. Am 24. Juni 1893 bricht das Schiff mit seiner Mannschaft auf, Ende September hält das Eis sie fest. Sie sitzen nun in einer Nussschale, die mit dem Eis treibt fest, mit einem Gemeinschaftsraum, mit sechshundert Büchern. Sie sind in der Lage, Strom und damit Licht zu erzeugen, der äußeren Dunkelheit mit einer gewissen „Gemütlichkeit“ zu trotzen.

Sie sind in einer Todeszone. Soweit der Blick reicht, es ist kein Leben zu erkennen, nur Eis, nur Nebel, nur Düsternis. Faszination übt einzig das Farbspiel des Himmels aus…. Das Leben auf dem Schiff ist monoton, schleppt sich dahin. Jede Unterbrechung ist willkommen…

Nansen ist beunruhigt, seine Messungen zeigen kaum Fortkommen, erratisch scheint sich das Schiff getrieben zu werden, in fünf Monaten gerade ein Grad nordwärts! So geht es hin und her, Bewegungen nach Norden werden von der Südtrift wieder aufgefressen… in einer Einsamkeit, auf die man sich nicht vorbereiten kann….

Nansen mikroskopiert Wasserproben, als wolle er dem ewig gleichen Blick auf das Eis ausweichen – und er ist verblüfft: es tobt mannigfaltiges Leben in diesen Proben! Das Eis erweist sich als Grenze, als Grenzschicht: nach oben hin lebensfeindlich und tot, im Wasser dagegen ein Universum an Lebenwesen. Nansen erkennt darin die Zukunft der Erde (noch ist die Quelle, aus der die Sonne ihre Energie schöpft, nicht bekannt), die in der Zukunft (wie weit diese auch entfernt sein mag) erkalten muss, von einer Eisschicht bedeckt sein wird, die eine solche Grenze darstellen wird, bis irgendwann in noch weiterer Zukunft das gesamte Wasser der Erde gefroren sein wird….

Ein weiterer Winter im Eis bringt keine Forschritte. Zwar erreicht die Fram den nördlichsten Punkt, den bis dato je ein Schiff erreichte, doch das Ziel scheint unerreichbar. So beschließt Nansen, zusammen mit einem Kameraden zu versuchen, den Pol zu Fuss zu erreichen. Es sollte ein Marsch der Extreme werden, keineswegs war das Eis eine glatte Fläche, auf der voranzukommen gewesen wäre… über Schollen, über Spalte klettern, Hindernisse überwinden, ihnen ausweichen.. es ist abermals kein Fortschritt zu erkennen, auch die Marschierenden unterliegen der Südtrift….

Sie müssen überwintern, verzehren alle 28 Hunde, mit denen sie losgingen… die beiden Männer überleben, treffen irgendwann auf Land und dort auf eine andere Expedition, sie sind gerettet. Die Polarforschung haben sie nicht vorangebracht mit dieser Expedition, sie sind eine Fussnote in der Geschichte der Arktis, ein herausragendes Beispiel für große persönliche Leistungen.

1938: Claude Lévi-Strauss erreicht Amazonien

In Goldsteins Abschnitt, den er dem Ethnologen Levi-Strauss widment, begegnet uns ein Bekannter wieder: Franz Boas, der Jahrzehnt zuvor mit seinem Diener im Baffin-Land war. Er saß jetzt bei einem Dinner, 1942 in New York, an der Seite von Levi-Strauss und fiel mitten in der Unterhaltung tot um.

Boas und Levi-Strauss befinden sich auf zwei Seiten einer Zeitenwende. Ersterer konnte noch Unberührtes finden und protokollieren, Levi-Strauss dagegen war in eine Zeit hineingeboren, in der alles entdeckt war. Weiße Flecken gab es praktisch nicht mehr. Daß Levi-Strauss Ethnologie geworden ist, verdankte er mehr oder weniger einem Zufall, der ihn nach Brasilien führte. Ein für ihn zwar unbekanntes Land, aber keineswegs ein Unerforschtes. Zwar ist alles anders auf diesem Kontinent, die Pflanzen, die Wälder, die Tiere – doch nichts mehr unberührt. Die Eingeborenen, die Kolumbus noch an der Küste begrüßten, sind – soweit nicht ausgerottet – tief ins Landesinnere verdrängt. Indianer – die schlagen Sie sich aus dem Kopf. Sie werden keinen einzigen mehr antreffen.

In der vorlesungsfreien Zeit fährt Levi-Strauss ins Landesinnere. Es sind weite, anstrengende Reisen in Regionen, die kaum erschlossen sind, die Indianerstämme, die er besucht, sind schon bekannt, trotzdem ist der Ethnologe von der Begegnung mit ihnen fasziniert. Alles, was er sieht und antrifft, zeichnet er ohne Wertung und Hierarchie auf – das hat ihm sein Vorbild Boas gelehrt. Keine fremde Kultur kann uns so fremd sein, dass wir in ihr nicht das Antlitz des Menschlichen erkennen.  und auch In ihm reift die Einsicht, daß der menschliche Geist sich in einem begrenzten Feld von Möglichkeiten bewegt und mittels einer endlichen Zahl von formalen Strukturen arbeitet.“ Schließlich trifft er einen Indianerstamm, „….deren Existenz so einfach ist, daß sie einfach nur Menschen waren.“ (dem Sinne nach).

Es ist eine Tragik im Leben von Levi-Strauss, daß das, was ein Höhepunkt in seinem Leben sein könnte, von ihm nicht ausgekostet werden kann. Er sollte noch einmal die Chance erhalten, …der erste Weiße zu sein, der zu einer Gemeinschaft von Eingeborenen vordringt. … dem noch einmal das Erlebnis der alten Entdecker zuteil wird….. Die Reise zu diesen Menschen übertrifft an Anstrengung noch das Bekannte, doch schließlich findet er das Dorf, fünfundzwanzig Menschen. Doch ist er so erschöpft, hat so wenig Ressourcen, hat keine Zeit mehr … da waren nun die Wilden bereit, mir ihre Bräuche und Vorstellungen zu erkläre, aber ich kannte ihre Sprache nicht. …. Statt monatelanger Studien nur kurze Einblicke…“ daß er diese Begegnung (fast) ungenutzt lassen muss. Konnte Humboldt noch festhalten, daß er überall der erste war, so kam Levi-Strauss zu spät. Als wollte das Schicksal ihn verspotten, präsentiert es ihm noch einmal etwas Unbekanntes, doch überfordert ihn dies, er kann dieses letzte Privileg nicht nutzen.

So wird die Bilanz seiner Reisen mehr als eine Erinnerung, es ist  eine Klage über eine verlorene Welt, eine Welt nämlich die neues bietet: ab jetzt hat das Auge alles schon gesehen… „unser Auge hat seien Frische eingebüßt, wir vermögen nicht mehr zu schauen.

1979: Peter Handke besteigt die Sainte-Victoire

Peter Handke hier zu finden erstaunt, der Schriftsteller ist weniger als Abenteurer, Weltreisender oder Forscher bekannt. Auch die Sainte-Victoire gehört nicht zu den extremen Bergen dieser Welt… was also macht es aus, daß Goldsteinen diese beiden hier porträtiert?

In gewissen Sinne passt es. Petrarca, mit dem dieses Buch den Anfang macht, war auch ein Dichter, in der Tradition des Augustinus, der die Innenwelt des Menschen als sehr viel reicher bezeichnet als die Aussenwelt. Petrarca überwand diese Ansicht, er bestieg den Mount Ventoux aus Neugier, wie die Welt sich von dort oben zeigen würde. Mit Handke gewinnen ein Aspekt augustinischer Gedanken wieder Einfluss: die Innenwelt des Menschen wird wieder wichtig, sie ist frei zu machen, leer zu machen, so daß sich die Bilder der Dinge nicht mehr vor die Dinge an sich schieben können. Die reine Wahrnehmung der Dinge wird angestrebt, es ist ein fast meditativer Zugang zur Natur, es brauchte nichts zu geschehen, befreit von Erwartungen war ich, und fern von jedem Rausch. Das aus dieser Wanderung Handkes an der Sainte-Victoire entstehende Buch, Die Lehre der Sainte-Victoire besteht eben in der Entscheidung zur Aufmerksamkeit gegenüber dem Übersehenen und in einem bekräftigenden Bekenntnis zur Schönheit der Welt…. die noch an den unscheinbaren Dingen der Welt zu entdecken ist. Eines Gipfelerlebnisses bedurfte es dazu nicht. 

Eine weitere Lehre ist es, daß die Welt entdeckt ist und in Schablonen erstarrt, die wir ihr beim Betrachten überstülpen, so daß die Natur an sich aus unserem Blick entschwindet.

1980: Reinhold Messners Alleinbesteigung des Mt. Everest ohne Sauerstoff

Reinhold Messner steht exemplarisch für eine Entwicklung, die Augustinisches noch stärker beinhaltet: die Unternehmungen Messners sind Unternehmungen, die der Selbsterfahrung dienen, die Siege des Willens über äußere Umstände darstellen, deren Wesen es ist, innere Ziele zu verfolgen und zu erreichen, nicht äußere. Die Natur, der Berg, wird funktionalisiert, sie/er dient einzig dazu, Objekt zu sein für diese erwünschte Selbsterfahrung. Berichte solcher Extremunternehmen ähneln weniger den Expeditionsberichten früherer Jahre, sondern sind eher Psychogramme der Schreiber.

Messner will die Natur des Menschen erfassen, die sich [ihm] beim selbstverantworteten Spiel im Grenzbereich zwischen Möglich und Unmöglich aufschlüsselt. Ihm geht es beim Klettern um einen Ausdruck seiner selbst. Für ihn ist jeder große Berg vornehmlich eine Problemstellung, an den sich das Ich erprobt: ein Echo augustinischer Innerlichkeit. Es ist dies der Moment, in dem nach Goldstein der Begriff „Abenteuer“ auftaucht, das Spiel mit der Gefahr, dem Unerwarteten, dem Unberechenbaren.

Dieser Aufbruch in die Innerlichkeit ist auch eine Folge der Tatsache, daß die äußere Welt vermessen ist: weiße Flecken auf der Landkarte gibt es nicht mehr. Messners Mount Everest Besteigungen gehörten zu den letzten Dingen, die man auf Erden zum ersten Mal tun kann… dieser Berg ist der dritte Pol der Erde, der Pol, der sichtbar ist, der in die Höhe weist, in einer (wie Messner beweist: fast) absoluten Todeszone.

Ist dieses Messen an einer Herausforderung der Natur aber ein Vorgang der Innerlichkeit, was bleibt, wenn das Ziel erreicht ist? Konnten Forscher sich früher an der Natur erfreuen, das Panorama eines Gipfelblicks als Ziel ihrer Anstrengung geniessen, so steigt jetzt das Gefühl auf, das etwas fehlt. Dort, wo früher die Utopie vom Everest ohne Maske gesessenhat, war jetzt ein Loch. Zum Glück hatte ich noch eine Idee: ein Mensch und ein Achttausender…. sagt Messner nach der Besteigung (ohne Maske) des Berges mit Habeler 1978.

Messner schafft diesen Alleinaufstieg ohne mitgeführten Sauerstoff, es ist eine fast unmenschliche Anstrengung, die nur durch puren Willen gelingt. Messner hat sich am Berg gemessen und behauptet, es ist schon fast symbolhaft, daß der Gipfel ihm keinen Ausblick bietet: zum zweiten Mal hocke ich auf dem höchsgten Punkt der Erde, und wieder kann nichts sehen.

1992 Chris McCandless auf der Suche nach der verlorenen Wildnis

In einem letzten Beispiel widmet sich Goldstein Chris McCandless, einem jungen Amerikaner, der nach dem (erfolgreichen) Studium alles hinschmeisst und auf Wanderung geht, die Wildnis sucht, als diese längst verloren war. Er steht damit in der guten Tradition eines Henry David Thoreau und dessen zweijährigem Leben in einer Waldhütte, das in seinem berühmten Buch Walden oder das Leben in den Wäldern beschrieben ist. Per Anhalter, im Boot, aufgesprungen auf Züge – so quert er das Land, vereinzelt schreibt er Postkarten an Freunde, ebenso führt er Tagebuch: Das eigentlich Wichtige sind die Erfahrungen, die man macht, die Erinnerungen und die triumphale, überschäumende Freude, die einen durchströmt, wenn man das Leben in vollen Zügen genießt. Gott, das Leben ist so schön! Die Sicherheit eines etablierten Lebens ist es, die inneren Frieden vorgaukelt, in Wahrheit aber die Abenteuerlust bremst. Freude empfinden wir, wenn wir neue Erfahrungen machen… Wenn du mehr aus deinem Leben machen willst … dann musst du deine Vorliebe für monotone, gesicherte Verhältnisse ablegen und das Chaos in Dein Leben lassen. .. schreibt er einem achtzigjährigem Mann, den er kennen gelernt hat (und der dem Rat nachkommt).

Die Verkörperung allen Sehnens von McCandless ist der Norden, ist Alaska in seiner kargen Reinheit, seiner asketischen Klarheit. Nach diesen zwei Jahren Wanderung steuert er sein Ziel an und taucht ein in die kalte, lebensfeindliche Natur. Im Gegensatz zu Messner, der zwar minimalistisch, aber akribisch vorbereitet auf seine Touren geht, entblößt sich McCandless, als er den längst wieder verlassenen Trail betritt. Geld, Uhr und Kamm verschenkt er, Ausrüstung hat er keine dabei, weder Beil noch Karten oder Kompass. Einzig ein gebrauchtes Gewehr führt er mit sich. Das dieses Abenteuer tödlich enden kann, ist ihm bewusst.

Er dringt letztlich nicht weit ein in das Land, aber einsame Wildnis ist es trotzdem zu einer schlechten Zeit, dem endenden Winter. Auch Thoreau war mit seiner Hütte ja nicht wirklich abgeschieden… Der Wasserlauf, den McCandless vor ein paar Wochen noch durchwaten konnte, ist jetzt ein reissender Fluss, der ihm den Rückweg zum Highway abschneidet. Bald ist er entkräftet, das Überleben, die Jagd und die Suche nach Nahrung kostet ihn mehr Energie als ihm die Beute einbringt…. eine schleichende Vergiftung durch den „Genuss“ einer giftigen Pflanze, die er in Unkenntnis verzehrt, raubt ihm die letzten Kräfte, Zettel, auf denen er um Hilfe ruft, bleiben ungelesen in diese Einöde. Eine Kamera hat er dabei… Fotos schießt er von sich und seinem schleichenden Sterben… der letzte Eintrag im Tagebuch datiert vom 12. August: Wunderschöne Blaubeeren. Gäbe es dieses Tagebuch nicht und die Postkarten, die er an wenige Freunde verschickt hatte – von Chris McCandless wäre nichts geblieben….

Es ist ein Glück, daß wir uns erinnern können.

… und es ist nicht selbstverständlich: erinnern heißt, längst Vergangenes wieder lebendig zu machen, auch wenn es „nur“ in der eigenen Vorstellung geschieht. Die Innerlichkeit des Gedächtnisses ist daher ein unerlässlicher Ort des Aufbewahrens. Ein Geruch zum Beispiel, den wir in der Kindheit kennen gelernt haben, bringt uns ein Leben lang momentan zurück in diese Zeit, an diesen Ort: wir erinnern uns an uns als Kinder… auch die Erinnerungen der Naturforscher, der Reisenden, der Entdecker: sie sind unersetzbarer Teil unserer Kultur, unseres Erfahrungsschatzes. Durch die gemeinsame Sprache, die wir verwenden, als Schreiber und als Leser, bekommen wir einen Anteil an dieser Erfahrung fremder Regionen, die uns ansonsten völlig unbekannt und unerschlossen blieben.


Schließt sich ein Kreis oder sieht es nur perspektivisch so aus, weil wir von „oben“ auf eine „Spirale“ schauen, in Wahrheit also eine Entwicklung stattgefunden hat?

Mit Petrarca durchbrach ein Dichter die Mauer des augustinischen Denkens von der Erhabenheit und Größe der menschlichen Innenwelt, die die Schönheit des Aussen bei weitem übertraf. Bei Thoreau finden wir diesen Satz: Was gilt Afrika? … Ist nicht unser eigenes Inneres ein weißer Fleck auf der Landkarte? In den Jahrhunderten, die zwischen Petrarca und Handke liegen, haben Wissenschaftler, Forscher und Entdecker die Erde bereist (wenige sogar den Mond, der sich aber nur für Wissenschaftler als ergiebig erwies und der als schönstes Erlebnis den Blick … auf die Erde bot) und ihrer Geheimnisse aufgedeckt, sind von der Innenschau ganz in die Aussensicht gegangen. Parallel dazu entstanden eine unendliche Zahl von Bildern, von Kategorien und Schubladen, in die die Welt einzuordnen war und die den Blick auf das „Eigentlich“ zunehmend verdeckten.

Mit Handke (und dessen Vorbild Cezanne) hat Goldstein ein Beispiel dafür gebracht, wie die Innenwelt des Menschen wieder ins Spiel kommt bei der Naturbetrachtung: die Suche nach dem unverfälschten Blick auf die Natur, dem Wegschieben der Bilder, der Rückkehr zur Wahrnehmung, auch der Wahrnehmung, was dieser Anblick der Natur mit ihrem Betrachter macht. Dies scheint eine meditative, kontemplative Art zu sein, Natur zu erfahren, auch zu erfahren, daß man selbst Teil der Natur ist.

Noch radikaler agieren diejenigen, die die Natur zum Objekt degradieren, an dem sie sich messen können. Es geht nicht mehr um eine Naturerfahrung, einen Zugang zur Natur, es geht nur noch darum, eine Herausforderung zu bewältigen: Messner spektakuläre Himalaya-Touren sind ein extremes Beispiel dafür, aber nicht das einzige: Ich denke, man braucht sich nur die Bergetappen der großen Radrundfahrten anzuschauen, um zu sehen, daß diese Einstellung schon längst weit verbreitet ist Quäl dich, du Sau!, der Radsportfreund wird sich an diesen Spruch erinnern….

Beim Lesen von Goldsteins Buch, beschleicht einen das Gefühl des Verlustes: die menschliche Neugier hat in der dem Auge zugänglichen Natur kaum noch ein Objekt, des es zu entdecken gibt. Wenn noch gefunden wird, geschieht es meist durch Zufall, ansonsten weicht die Neugier ins Mikroskopische, ins Kleine, ins Detail aus…

Eine Flugreise ist heute nichts besonderes mehr, ist massenkompatibel geworden. Daß ein Ort auf der Erde viele Tausend Kilometer entfernt ist: man weiß es, aber man merkt es nicht. Wenige Stunden nur, und man hat ihn erreicht. Kaum hat die „Seele“ Zeit, sich auf unter Umständen völlig Anderes einzustellen…

Natur, so scheint es, ist grenzenlos zugänglich geworden, sogar die Regionen des ewigen Eises im Himalaya und in der Antarktis können per Knopfdruck als Tourist gebucht werden. Natur ist beliebig geworden, verfügbar, ein Konsumartikel. Etwas, das den Zauber verloren hat – und bei all dem vergessen wir, daß wir Teil sind der Natur, uns selbst berauben, wenn wir sie zum reinen Objekt degradieren.

Gottseidank gibt es auch noch die „Gegenbewegung“, die Menschen, die die Natur als Partner oder als Geschenk ansehen, die sie mit offenen Augen und Ohren, mit einem aufnahmebereiten Herzen erleben. Die immer noch das Wunder erkennen, das in einer Blüte liegt, in einem flatternden Schmetterling, einem perlenden Wildbach…


Goldsteins Ausführungen in Die Entdeckung der Natur sind  absolut empfehlenswert, sie sind sehr informativ und erhellend, sie gehen behutsam und mit Einfühlungsvermögen auf die jeweiligen Protagonisten ein und vermitteln ein aussagekräftiges Bild der jeweiligen Umstände. Noch dazu ist der Text gut lesbar, viele Zitate aus zeitgenössischen Berichten sorgen für Authentizität in den Ausführungen. Bei allen wahrt der Autor einen hohen Anspruch, die Texte langsam zu lesen und in „Portionen“ empfiehlt sich…

.. summa summarum: da der Sommer dem Ende zugeht, der Winter vor der Tür steht und Weihnachten sozusagen greifbar ist, ist Die Entdeckung der Natur ein superber Kandidat für den Wunschzettel bzw. zum Verschenken. Aber man muss natürlich nicht ganz so lange warten, sondern darf durchaus schon jetzt…

Links und Anmerkungen:

Jürgen Goldstein in diversen Clips zum Buch:  http://gedankenspruenge.net/index.php/archiv/8-juergen-goldstein-2

Jürgen Goldstein
Die Entdeckung der Natur

diese Ausgabe: Matthes & Seitz, Softcover, ca. 310 S., 2013

7 Kommentare zu „Jürgen Goldstein: Die Entdeckung der Natur

  1. -:))) strahl -:)))

    Bisher war ich noch von keinem der Bände, die in der Reihe Naturkunden erschienen sind, enttäuscht…ganz im Gegenteil, sie sind alle uneingeschränkt zu empfehlen.
    Ihre wunderbare Besprechung wird hoffentlich vielen Lesern Lust auf’s Lesen machen, sie werden es nicht bereuen.
    Ich erlaube mir, den Link zum Verlag zu setzen; von diesem Band gibt es schon die zweite Auflage.
    Außerdem sind alle Bände und Bändchen wunderschön gestaltet.

    http://www.matthes-seitz-berlin.de/reihe/naturkunden.html

    Es gibt ja Erntedank und den etwas anderen Adventskalender mit Buch-Gifts und Nikolaus…..lauter Gelegenheiten zum Freudebereiten.

    Liebe Wochenendgrüße an den fleissigen Rezensenten -:)))

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    1. … fleissigen Rezensenten… ja, diesmal ist die Besprechung wirklich etwas länger geworden… ob überhaupt jemand bis zum Ende durchhält?

      Herzlichen Dank für Ihren lieben Kommentar und auch den Link….

      Liebe Grüße zurück an Sie!
      fs

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  2. Welch ein Glück, dass ich mir dieses Buch schon vor einiger Zeit selbst geschenkt habe. Aber noch immer ungelesen. Das muss sich ändern, denn dank deiner wunderbaren Beschreibung weiß ich, dass ich wirklich etwas verpasst habe. Seit ich nicht mehr in der Stadt lebe, habe ich endlich die Gelegenheit, die Natur wieder bewusster wahrzunehmen und meine eigenen Entdeckungen zu machen. Ich bin gespannt auf Goldstein Reflektionen zum Thema!

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    1. liebe petra, herzlichen dank für deinen besuch und den kommentar! ja, les das buch unbedingt! es läßt sich durch die kapiteleinteilung sehr gut lesen, ein kapitel an einem tag ist gut zu schaffen und man kann das gelesene verarbeiten. ich habe dann am nächsten morgen immer den abschnitt in der buchvorstellung geschrieben… deswegen ist sie auch so lang geworden ;-)

      ja, das wahrnehmen (gar nicht mal das bewusste wahrnehmen) ist etwas, was wir als kinder noch konnten, aber dann irgendwann verlernt haben, als wir der ratio den vortritt ließen….

      ich bin sehr gespannt, was du zu dem buch anmerken wirst!

      liebe grüße
      fs

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