Kressmann Taylor: Adressat unbekannt

adressat cover

Mit seinen gut einem halben Hundert kleinen Seiten ist Adressat unbekannt ein schmales Büchlein, man braucht kaum eine Stunde, es zu lesen. Die Erstveröffentlichung des Textes erfolgte 1938 in einem New Yorker Literaturmagazin und erregte großes Aufsehen, hatte doch die Autorin um einige tatsächlich existierende Briefe herum eine Geschichte geschrieben, in der – schon zu dieser Zeit also offensichtlich klar erkennbar – ohne Wenn und Aber das Verbrecherische des Hitlerregimes gezeigt wurde.

Die Grundkonstellation ist einfach. Zwei Freunde betreiben in San Franzisko eine Galerie, einer von ihnen, Max Eisenstein, ist Jude, der andere, Martin Schulse, lebt seit dem Ende des Ersten Weltkrieges in Amerika, zieht aber jetzt, gegen Ende des Jahres 1932 zurück nach Deutschland. Martin Schulse ist verheiratet, war aber zeitweise der Geliebte von Griselle, der Schwester von Max, der Junggeselle ist. Griselle ist Schauspielerin und lebt in Wien.

Der erste Brief von Max an Martin datiert vom November 1932. Es ist ein normaler Brief zwischen Freunden, Max berichtet von der Galerie, die offensichtlich recht gut läuft, beneidet seinen Freund aber auch um die Rückkehr in seine Heimat und erinnert sich an die geistige Freiheit, die Diskussionen, die Musik und die freundliche Wärme, die er selber erfuhr, als er zu Studienzeiten in Berlin war. Martin antwortet darauf und schildert die Umstände seiner Rückkehr in die alte Heimat, in der er als „Amerikaner“ jetzt auf (relativ) großem Fuß leben kann: ein Haus mit 30 Zimmern, der entsprechenden Einrichtung auf einem parkähnlichen Grundstück… noch spielen die politischen Rahmenbedingungen keine große Rolle, jedoch merkt Martin an, daß es unter Hindenburg, einem feinsinnigen Liberalen, den er sehr bewundert, Unruhen gibt, ferner hätte man auch ihm angetragen, sich um ein politisches Amt zu bewerben. Und Griselle, wie gerne denkt er an sie, ja natürlich könne Martin ihr seine Adresse geben…

/10. Januar 1933: Hindenburg ernennt den Chef der NSDAP, Hitler, zum Reichskanzler („Machtergreifung“)/

Martin scheint sich schnell einzuleben in seine neue, alte Heimat, in der die Unruhen einen neuen Mann nach oben spülen, der wie ein elektrischer Schock [ist], so stark wie ein begnadeter Redner oder ein Fanatiker es sein kann. .. Ein Führer ist erkoren! Noch herrschen zwar Zweifel am Ziel, daß dieser Mann verfolgt, aber Martin ist ganz offensichtlich begeistert davon, daß die Deutschen jetzt anfangen, wieder zu leben, sie haben die alte Verzweiflung abgestreift wie einen zerschlissenen Mantel.  .. Eine mächtige Woge hat die Menschen erfasst…

Schnell passt sich Martin den neuen Verhältnissen an, er macht die Bekanntschaft von Parteigenossen, tritt selbst in die Partei ein. Ende Mai 1933….

/Die Deutsche Studentenschaft plant anläßlich der schamlosen Greuelhetze des Judentums im Ausland eine vierwöchige Gesamtaktion gegen den jüdischen Zersetzungsgeist und für volksbewußtes Denken und Fühlen im deutschen Schrifttum. Die Aktion beginnt am 12. April mit dem öffentlichen Anschlag von 12 Thesen, Wider den undeutschen Geist’ und endet am 10. Mai mit öffentlichen Kundgebungen an allen deutschen Hochschulorten. Die Aktion wird — in ständiger Steigerung bis zum 10. Mai — mit allen Mitteln der Propaganda durchgeführt werden, wie: Rundfunk, Presse, Säulenanschlag, Flugblätter und Sonderartikeldienst der DSt-Akademischen Korrespondenz.“  An diesem 10. Mai gingen sehr symbolträchtig die Bücher der Undeutschen in Flammen auf…../ [3]

….fragt Max besorgt, weil er in den USA Berichte gehört hat, es käme in Deutschland zu Progromen, Ausschreitungen gegen Juden, zu Prügeleien etc pp, wiegelt er noch ab, dies seien Randerscheinungen, unschön zwar, aber so etwas gäbe es immer am Beginn von etwas Neuen, eine schmerzliche Notwendigkeit. Martin schreibt Max auch, daß – der Zensur wegen – ihr Briefverkehr eingestellt werden müsse, er könne es sich nicht mehr erlauben, mit einem Juden Geschäfte zu machen und zu verkehren. Schließlich ist die jüdische Rasse ein Schandfleck für jede Nation, die ihr Unterschlupf gewährt und ihm, Max, sei er immer nicht wegen, sondern trotz seiner Rasse gewogen gewesen. Deutschland ist zu neuer Stärke erwacht, erhebt sich in voller Kraft und senken nicht länger unseren Blick vor den anderen Nationen. Die Zeit der Schmach, der Unterjochung, der Unterdrückung ist vorbei. Der Jude hingegen ist ein Jammerer, der nur lamentiert, der aber niemals tapfer genug ist, zurückzuschlagen. Deshalb gibt es Progrome. 

Max fleht seinen „Freund“ an, ihm zu sagen, daß dies nur seine Meinung nach außen hin sei, im Innern sei er der geblieben, den er kennt, der er in Amerika war. Und eine zweite Bitte hat er an ihn: Ein Brief an die Schwester sei mit dem Aufdruck „Adressat unbekannt“ zurückgekommen. Griselle habe in völliger Verkennung der Lage ein Engagement in Berlin angenommen und sich dort auf der Bühne trotzig als Jüdin bekannt, musste fliehen und er, Martin, solle doch um er der alten Liebe willen, schauen, ob er Grissele irgendwie helfen könne, es könne sein, daß sie auf dem Weg zu ihm wäre.

Noch einmal antwortet Martin seinem ehemaligen Freund. Sehr nüchtern berichtet er, daß Griselle tatsächlich eines Abends bei ihm vor der Tür gestanden hae, kaum noch zu erkennen, so heruntergekommen. Leider habe er nichts für sie tun können, die SA wäre Griselle auf den Fersen gewesen, schon habe man sie hören können und da im Haus seine Frau gerade in der Entbindung des kleinen Adolf gewesen wäre, habe er Griselle nicht eingelassen und auch sonst nichts für sie tun können. Ein Zeit lang habe er noch ihre Schreie aus dem Park hören können, in dem die SA sie schließlich eingefangen hätte, dann wäre es still gewesen: Heil Hitler! Ich bedaure sehr, Dir schlechte Nachrichten übermitteln zu müssen. Deine Schwester ist tot..

Dies ist nicht das Ende der Geschichte, denn Max, so weit er auch in San Francisco entfernt ist, findet einen Weg, sich an Martin zu rächen, nicht ohne daß dieser vorher winselnd und flehend – bildlich gesprochen – vor ihm, dem Juden, kniet und um sein Leben bettelt….


Dieser sehr kurze Briefroman um zwei ehemalige Freunde zeigt eins sehr deutlich: schon Ende der 30er Jahre, noch deutlich vor dem Kriegsanbruch:

/Seit 5 Uhr 45 wird jetzt zurückgeschossen! Und von jetzt ab wird Bombe mit Bombe vergolten!/

war klar und unverstellt erkennbar, was für ein Regime in (Nazi)Deutschland herrschte: ohne jedes Drumherumgerede, ohne daß eine tiefer gehenden Analyse notwendig gewesen wäre, beschreibt die Autorin Kathrine Kressmann Taylor einfach das, was zu sehen war, was jeder, der hätte sehen wollen, auch hätte sehen können – und zwar 1938 schon. Mit diesen gut 60 Taschenbuchseiten entlarvt sie all das Geheuchel, das nach 1945 einsetzte, das aufgesetzte Gejammere um das „Das haben wir doch nicht gewusst“: Es war sichtbar, aber in Deutschland ließen sich die Martin Schulses nur zu bereitwillig blenden; die Begeisterung über den Mann, der sie die alte Verzweifelung abstreifen ließ, spült alle Bedenken über Bord.

Griselle ist eine Nebenfigur des schmalen Briefromans, aber sie ist auch ein Bild für ihr Volk. Wie oft kann man in Erinnerungen an die Anfänge der Judenverfolgung im Hitlerregime lesen, daß man das tatsächlich nicht so ernst nahm, daß man davon ausging, wenn man sich eine Weile ruhig verhielte, würde dieser Sturm vorbei gehen, er sei vielleicht eine weitere, auferlegte Prüfung: „Gott [hat] ihnen dieses Schicksal um ihrer einstigen Sünden willen zuteil werden lassen. Und er würde erwarten, daß wir [i.e. die Juden] in diesen schweren Zeiten an dem Platz bleiben, den er uns zugeteilt hat“ so schreibt Kertész in seinem „Roman eines Schicksalslosen“ [4]. Wer dächte nicht an Hiob, den von Gott an seinen Engel Satan ausgelieferten, nur daß Satan Grenzen gesetzt bekam, die hier nicht galten. Griselle jedenfalls nahm in Wien, wo sie lebte, diese Gefahr nicht so ernst, sie gab der Verlockung nach und ging nach Berlin, ins Zentrum, direkt in´s Herz der Finsternis. Dort wurde sie schnell zum Opfer, zur Gejagten, die Verstecke suchen musste, die fliehen musste, die verfolgt wurde, die von ehemaligen Freunden, ja Geliebten, abgewiesen wurde, die gestellt und eingefangen wurde, die letztlich – und hier „versagt“ die Fantasie der Autorin, denn wieviel gnädiger wäre ein paar Jahre später in der Realität ein Erschlagen gewesen – erschlagen wurde im Garten des ehemaligen Geliebten: Heil Hitler! Ich bedaure sehr, Dir schlechte Nachrichten übermitteln zu müssen. Deine Schwester ist tot.

Interessant ist auch die Schuldzuweisung: [Der Jude ist] niemals tapfer genug …, zurückzuschlagen. Deshalb gibt es Progrome.!  Sie sind also selber schuld an ihrem Schicksal, diese Juden, es klingt hindurch, dieser förmlich in der Luft liegende Zwang, Progrome zu veranstalten: er wehrt sich ja nicht, man muss ja praktisch, was soll man denn anders tun? Diese unreflektierte, primitive“Argumentationsstruktur“ ist wohl unausrottbar: das Opfer ist selbst schuld an seinem Schicksal: der kurze Rock der Frau provoziert, das Geld des Reichen verlockt, das offen gelassene Fenster lädt ein, …

Nach der Ermordung Griselles wacht Max auf und bricht auch innerlich endgültig mit seinem ehemaligen Freund, der für ihn nicht wieder zu erkennen ist. Natürlich liegt hier die Frage im Raum, wie diese Änderung, die sich in Martin vollzog, so schnell stattfinden konnte und so absolut. Martin, der die Zeit nach dem 1. Weltkrieg in den USA verbrachte und persönlich nichts zu erleiden hatte, wechselt abrupt und problemlos in das „Wir“ über, wenn er von der Schande und der Not lamentiert, der das deutsche Volk nach diesem Krieg unterworfen war. Er verdrängt völlig, daß es ihm doch gut ging in Amerika… und mit dem „Wir“ übernimmt er auch die Ideologie der vorgeblichen Herrenrasse, verleugnet im buchstäblichen Sinn sein bisheriges Leben. Hierin kann man die Wirkung einer Art quasi-religiösen Ereignisses sehen, denn wie soll man eine solche Umwertung aller Werte anders einordnen als die Folge eines absurden „Erweckungserlebnisses“, rational zu erklären ist es jedenfalls kaum… Lem hat sich diesem Aspekt in seiner „Provokation“ [4] gewidmet: der Hybris der Nazis, Gott zu entmachten (und an seine Stelle zu treten), indem sie stellvertretend sein Volk töten…

Max findet in dieser Geschichte einen Weg, sich zu rächen, ja, er zwingt Martin sogar vor ihm in den Staub und ihn anzuflehen. Vielleicht formuliert sich hier ein Wunsch der Autorin, ein Wunsch, der freilich nicht in Erfüllung gehen sollte……. Es wäre interessant, die Briefe zu kennen, die der Geschichte zugrunde liegen, es würde aber nichts an der Aussage des Romans ändern: der Demaskierung des Hitlerregimes, der Demaskierung auch der Deutschen, die diesem Verführer nur allzu bereitwillig folgten und dabei jede Grenze überschritten.

Das Büchlein, zu dem Elke Heidenreich ein begeistertes Vorwort geschrieben hat, ist gerade seiner Kürze und seiner Prägnanz wegen sehr empfehlenswert: in aller Deutlichkeit wird hier die Ist-Situation des Jahres 1938 beschrieben und es läßt keinen Raum übrig für Entschuldigungen und Ausflüchte.

Links und Anmerkungen:

[1] Wiki-Seite zur Autorin: http://de.wikipedia.org/wiki/Kressmann_Taylor
[2] Informative Seite zum Buch:  http://www.mein-literaturkreis.de/..unbekannt/ 
[3] Zitat nach: http://de.wikipedia.org/wiki/Bücherverbrennung…Deutschland
[4] Imre Kertész: Roman eines Schicksallosen, Buchvorstellung hier im Blog: https://radiergummi.wordpress.com/2010/01/04/imre-kertesz-roman-eines-schicksallosen/

Leseprobehttp://www.rowohlt.de/fm81/131/Taylor_Adressat.pdf

Kressmann Taylor
Adressat Unbekannt
Mit einem Vorwort von Elke Heidenreich
Originalausgabe: Adress Unknown, Story Magazine, NY, 1938
Diese Ausgabe: Rowohlt, TB, ca. 55 S., 2004

8 Kommentare zu „Kressmann Taylor: Adressat unbekannt

  1. Lieber Flattersatz,
    dieses kleine aber wichtige Buch habe ich vor einiger Zeit gelesen und war damals sehr beeindruckt – auch, weil es im Grunde so eine ‚einfache‘ Geschichte ist. Und Du hast Recht, natürlich konnte man das wissen, was die grosse feige Mehrheit hinterher nicht gewusst haben wollte. Ich habe mal meinen Vater gefragt, ob er denn nichts gemerkt hätte und er antwortete, ja, da wären plötzlich ein paar jüdische Familien in seiner Strasse nicht mehr da gewesen, aber da hat man lieber nicht nachgefragt. Und auf diese Art wussten sie dann auch alle nix. Es ist verdammt bitter und wir können nur hoffen, dass wir Heutigen anders reagieren, jeder Einzelne. Allein, wie allein man sich manchmal an der Supermarkttheke fühlt, wenn man sich so eine üblich-volkstümlich-rassistische Aussagen wie ‚ich bin doch kein Jud‘ verbittet lässt mich zweifeln. – Um so wichtiger, immer wieder auf solche Bücher hinzuweisen!
    Liebe Grüsse
    Kai

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    1. liebe kai, danke für deinen kommentar. ja, du hast recht, um wegsehen zu können, muss man wissen, was man nicht sehen möchte…. man wollte es garnicht so genau wissen… außerdem stand ja ein riesiger repressionsapparat, jeden, der zu neugierig war, gleich mit in die maschinerie zu stecken (fallada hat das ja so beeindruckend beschrieben: Hans Fallada: Jeder stirbt für sich allein). Und was deine aussage angeht, es sei gut, auf solche bücher wie dieses hier immer wieder hinzuweisen – ja. sicher ist das gut und richtig. aber – wie thomas brasch in einem kommentar und seinem beitrag geschreiben hat – der nutzwert, so muss man befürchten, ist gering… ;-)
      liebe grüße
      fs

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  2. Hab dieses Buch in der Schule gelesen und es hat sich wirklich gelohnt. Dieses Buch beschreibt subtil die Veränderung in den Menschen, wie sie sich der Propaganda hingeben und sich manipulieren lassen.
    Man sollte es wirklich einmal gelesen haben. Schade, dass es keine Pflichtlektüre in der Schule ist.

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