Shan Sa: Die Go-Spielerin

Hinweis: Diese Rezension ist auch als podcast im literatur RADIO bayern erschienen: https://radio.blm.de/radiobeitrag/fda-rezensionen….html

(Japanischer) Go-Tisch mit   Steinen und den hölzernen Schalen Bildquelle: {B]
(Japanischer) Go-Tisch mit Steinen und den hölzernen Schalen
Bildquelle: [B]
Dieser kleine, aber fein, sehr feine, Roman der im Alter von siebzehn Jahren nach dem Massaker auf den Tian’anmen-Platz nach Frankreich emigrierten Chinesin (ihr Vater war zu dieser Zeit als Gastprofressor in Frankreich und lehrte an der Sorbonne, bevor er dann wieder nach China zurückkehren musste [1]) spielt vor dem Hintergrund des Zweiten Japanisch-Chinesischen Krieges von 1937. Schon 1931 hatten die Japaner in der Folge des (inszenierten) Mukden-Zwischenfalls die Mandschurei besetzt und installierten dort einen „unabhängigen“ Marionettenstaat mit dem ehemaligen Kaiser Puyi als Herrscher [vgl hier  2]. Vor dort aus bedrohten sie das Reich der Mitte, in das sie dann letztlich einmarschierten.

China war durch Kriege und innere Verwerfungen instabil, die chinesische Elite suchte oder fand auch kein Mittel, gegen die Bedrohungen durch andere Staaten vorzugehen. Sie nahm Sitten und Gebräuche der Europäer auf und schwächte dadurch die eigene Identität. Die Europäer wiederum betrachteten China als ihre Einflusssphäre. Japan hatte im Gegensatz dazu sich zwar notgedrungen dem Westen geöffnet, bewahrte aber vor allem in den Kreisen des Militärs die alte japanische Kultur des Samurai-Weges. Aus dem Westen wurde nur übernommen, was dem eigenen Ziel diente.

Neben den handfesten Interessen war dies, so läßt die Autorin ihren männlichen Protagonisten an einer Stelle räsonieren, die Rettung des schwach gewordenen Chinas und dessen Kultur, aus der vor Jahrtausenden die eigene japanische ihren Ursprung hat eben dadurch, daß Japan China (und Korea) erobert und so vor einer weiteren westlichen Dominanz bewahrt.


Im Roman sind zwei Lebensläufer, die auf ersten Blick wenig miteinander zu tun haben, streng miteinander verzahnt, fast, als laufe ein unabänderliches Schicksal auf einen einzigen Punkt, einen einzigen Moment des Lebens zu. Ein Mann und eine Frau, von Sa jeweils als Ich-Erzähler des eigenen Erlebens und Erinnerns gesetzt, bewegen sich auf zwei nicht überbrückbaren Seiten des Lebens. Sie sind beide namenlos, erst ganz am Ende des Geschehens, Sekunden, bevor es abbricht, sollen wir (und „Er“) den Namen der Frau erfahren, der männliche Protagonist bleibt dagegen namenlos die ganze Zeit.

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Das Glück ist eine Umzingelungsschlacht, eine Partie Go.
Ich werde den Schmerz umarmen und ihn so töten.

Sie ist ein sechzehnjähriges Mädchen, nein, das führt in die Irre, eine sechzehnjährige junge Frau, aus aristokratischem chinesischem Haus mit entsprechend guter Bildung und Erziehung. Der Vater ist westlich orientiert, er übersetzt Shakespeares Werke ins chinesische, war selbst lange im Ausland, das Mädchen ist im Ausland geboren. Sie ist anders als die traditionellen Umgangsformen es verlangen, eigenständiger, selbstbewusster, unangepasster: sie ist „die Fremde“ in der Schule. Sie ist hochintelligent und schult sich am Go, einem uralten asiatischen Brettspiel, das – je nach Intensität, mit der man es betreibt und dem Ziel, mit dem man es spielt – nicht nur eine Schule ist für Taktik, strategisches Denken, sondern auch ein Weg zur geistigen Erziehung und Reifung. Sie ist eine außergewöhnlich gute Spielerin, außergewöhnlich in zweierlei Hinsicht: sie ist die einzige Frau auf dem Platz in der Mitte der Mandschu-Stadt, wo sich die Spieler treffen, und sie gehört zu den Besten Spielern dort.

Ich habe mich auf den Tod vorbereitet. 

Er ist ein vierundzwanzigjähriger junger Soldat, Offizier in der Kaiserlich-Japanischen Armee, dem Kaiser bis in den Tod verpflichtet, der Tod steht höher als das Leben, welches durch Feigheit erkauft worden ist. Diese Weisheit gibt ihm die verehrte Mutter mit auf den Weg. Das Leben läuft für ihn quasi auf den Tod hin, der Tod als Ziel, als Erfüllung, als Sinn des Lebens. Es ist der alte Bushi-Do, der Weg des Samurais, der in dieser restaurativen Atmosphäre des Militärischen wieder zum Leben erweckt worden ist und dem er sich mit allem verschrieben hat. Es ist eine sehr harte Ausbildung, die die japanischen Soldaten durchlaufen, sie soll nicht nur den Körper stählen, sondern auch Gefühle abtöten. Schon, so erinnert sich der Held, in der Kindheit herrscht ein grausames Regiment in den Elternhäusern, die geringste Abweichung von den Regeln, der kleinste Ungehorsam oder Fehler wird mit Züchtigungen streng bestraft.

Jeder Mensch muss sterben. Das Nichts zu wählen,
ist die einzige Möglichkeit, darüber zu triumphieren.

Der Vater unsere Helden ist beim  großen Erdbeben, das Tokyo 1923 heimgesucht hatte [3], zu Tode gekommen. Erzogen wird er von der Mutter und einer chinesischen Amme (die ihrerseits durch eine Liebesbeziehung nach Japan gekommen ist), letztere ist im Gegensatz zu den anderen sehr liebevoll mit dem Kind, von ihr lernt der Knabe Mandarin.

Diese beiden Leben, gestartet an so weit auseinander liegenden Punkten, bewegen sich aufeinander zu. Er kommt mit der japanischen Armee in die Mandschurei, jagt Aufständische, wird mit seinen Leuten hier und da eingesetzt, bis er schließlich in einer Stadt, der Stadt der Tausend Winde, mit seinen Männern in einer Kaserne stationiert wird. Es ist die Stadt, in der auch sie lebt.

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Durch einen Zufall lernt die junge Frau Min und Jing kennen: es gibt kleinere Aufstände in der Stadt, bei denen es zu Tumulten kommt. Die beiden jungen Männer bringen die Frau, die unbeabsichtigt in diesen Aufruhr hineingerät, in Sicherheit. Es entwickelt sie eine komplizierte Geschichte zwischen den drei Menschen, Min verführt die Frau, ohne daß diese sich sonderlich dagegen gewehrt hätte, obwohl ihr Herz, wie sie später erkennt, eher für Jing, den anderen Mann, schlägt.

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Das Verhältnis des japanischen Offiziers zu Frauen ist direkter, triebhafter. Gefühle will er nicht entwickeln, ihm reicht es, mit ihnen zu schlafen und sich sexuell abzureagieren. Diese auf den ersten Blick wenig sympathische Haltung ist der gesamten Philosophie des Mannes, der soldatischen Erziehung, zu verdanken, denn nach dieser tötet sich die Frau eines Samurais, wenn ihr Gatte gefallen ist. Warum sollte er ein weiteres Leben in den Abgrund reißen? Er ist nicht in der Lage Kinder zu haben, denn diese müssen unter dem Schutz eines Vaters aufwachsen, sicher vor dem Tod. [dem Sinne nach zitiert]. So ist es nur konsequent, wenn er in Bordelle geht, sich seine Triebabfuhr einkauft, er ist Soldat und die Prostituierte sein weibliches Pendant: auch sie ist nicht für die Liebe geschaffen. Liebe würde nur stören und er sublimiert seine Bedürfnisse in soldatische Qualitäten.

Durch einen kleinen Trick Hptm Nakamuras, eines Nachrichtenoffiziers, wird unser männlicher Held als „Spion“ eingesetzt: er soll in der Stadt die Augen offen halten, Gespräche belauschen und Stimmungen eruieren. Dies ließe sich am besten auf dem zentralen Platz machen, wo sich die Go Spieler tagsüber treffen….

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Sie sitzt an einem der vielen Brettern, die nach tausenden von Partien zu Gesichtern geworden sind, zu Gedanken, zu Gebeten und wartet auf einen Gegner, als er (gekleidet wie ein Chinese) auf sie zukommt und sich herausfordern läßt. Es entspannt sich eine Partie zwischen diesen beiden Meistern des Spiels, die so unterschiedlich sind, wie man sein kann. Die Art des Spielens, die Art des Steinesetzens, des Überlegens, des Meditierens über die Züge, die Art und Weise, in der die Angriffe und Verteidigungen gesetzt werden, verraten ihnen alles über die Seele des Gegenübers, über ihren Zustand: die beiden offenbaren sich durch ihr äußerlich stumm absolviertes Spiel, das sich mit vielen Unterbrechungen viele Tage lang hinzieht. Mit dieser intensiven Art des Kennenlernens entwickelt sich eine Neugier auf den jeweils anderen, die mit diesem Begriff nur unzureichend beschrieben ist, es ist – zumindest bei ihm, dem diese Chinesin in ihrer sich von den Japanerinnen unterscheidenden  Art so völlig neu ist – mehr eine Art Sog, der ihn aufaufhaltsam ihr zutreibt…

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Ihr Leben gerät langsam durch die äußeren Ereignisse ausser Kontrolle. Sie ist Angehörige eines Volkes, gegen das gekämpft wird, das unterliegen wird, besiegt werden wird. Aufstände, Unruhen werden gnadenlos niedergeworfen, die Aufrührer gefangen gesetzt und brutal gefoltert, so brutal, daß es „unserem“ Offizier schlecht wird, als er dies sieht – er sollte als Aufpasser für den Dolmetscher bei den Verhören dienen. Auch Min, Jing und Tang (eine Freundin von Min) werden eingesperrt und gefoltert, später hingerichtet. Auf der Fahrt zur Exekution von Min und Tang kann die junge Frau noch einen Blick auf den zermarterten Körper ihres Liebhabers werfen… Wann wird sie selbst abgeholt, sie hat Angst – und sie muss befürchten, daß sie schwanger ist, mit allen Folgen, die dies haben würde….

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Bei einem der nächsten Treffen mit dem Unbekannten, der für sie ein ja ein Chinese ist, bittet die junge Frau den Mann um einen Gefallen, den er ihr wortlos zusagt. Sie fahren nach außerhalb und sie bittet ihn, Wache zu halten, während sie unter einem Baum schläft. Es ist ein Moment äußerster Intimität auf einer sehr subtilen Ebene: ein Mensch vertraut sich voll und ganz einem anderen an, den er nur durch seine Art, das Spiel zu spielen kennt….

So sehr der Unbekannte auch das Verlangen nach dieser jungen Frau in sich spürt, das ihm jeden anderen Kontakt wie den zu seiner Lieblingsprostituierten gering schätzen läßt, so verweigert er sich aber einer weiteren Annäherung, die eine Antwort auf die Frage der Frau nach seiner Identität bedeuten würde. Er kann – als Leser wissen wir dies – diese Frage nicht beantworten, er ist ein Feind, ein Japaner, aber er fühlt sich zerrissen: dieser Frau gegenüber ist er ein Go-Spieler, der sich ihr durch sein Spiel offenbart hat.So kennt sie zwar seine Seele, aber sonst nichts von ihm und selbstverständlich kann sie seine Zurückweisung nicht verstehen…..

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Die Ereignisse überschlagen sich, die große Politik überrollt die individuellen Schicksale und gleicht sie an: all sind auf der Flucht, alle sind in gleicher Gefahr, jeder ist mit dem Tod bedroht. Die Japaner rücken weiter vor, auch die Einheit des Unbekannten bekommt einen Marschbefehl. Unterdessen hat die Frau Jing wieder getroffen, der als einziger der Gruppe unter der Folter geredet hat… Er überredet sie, mit ihm nach Peking zu gehen, dort könnte er – der in dieser Stadt als Feigling gebrandmarkt ist – ein neues Leben anfangen….

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Das Leben in Peking ist bitter und arm, hinzu kommt steter Streit. Die Sehnsucht nach dem Go, nach der Heimatstadt, nach dem Unbekannten wird immer größer, sie treibt die Frau in die wahnsinnige Flucht zurück, entgegen den Strom der siegreichen japanischen Soldaten, die keine Gnade kennen. Auch der Unbekannte marschiert in dieser Woge der Gewalt, die über das chinesische Land schwappt, er marschiert ihr entgegen…..

Peking ist erobert. …
Heute morgen spüren meine Leute ein verdächtiges Geschöpf auf.
Sie fesseln ihm die Hände auf den Rücken und schleppen es in die Mitte des Dorfes. 

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In den wenigen Minuten, die jetzt geschildert werden und noch verbleiben, kommen sich die beiden Sehnsüchtigen so nahe, wie man sich als Mensch nur kommen kann. Jetzt nennt sie ihm, nachdem sie ihn erkannt hat, ihren Namen und er gibt ihr alles, was er geben kann, was er besitzt: seine Ehre, sein Ansehen, seinen Ruf….


Bevor ich mich wieder auf diese Schilderung des Romans konzentriere, werfe ich des Interesses wegen einfach noch einmal ein anderes Interpretationsmuster über die Handlung:

Das Setting bleibt natürlich so wie es ist. In diesen Wirren des herannahenden Krieges treffen wir auf eine sechzehnjähriges Mädchen, das zwar hochintelligent und von hervorragender Bildung ist, das jedoch seinen Platz in der Welt sucht. Der Vater, der zeitweise im Westen gelebt hat (wie auch der Vater der Autorin), wo auch die Protagonisten geboren worden ist, kümmert sich im Wesentlichen um seine Übersetzungen von Shakespeare ins Chinesische, auch die Mutter verströmt wenig Liebe und gibt der Tochter keinen Halt. In der Schule ist das Mädchen ihrer Familiengeschichte und ihres Selbstbewusstseins wegen in einer Außenseiterrolle, zwar schließt sie Freundschaft mit einem der Mädchen, doch ist auch das nicht einfach: der Vater dieses Mädchens, ein tölpelhafter Bauer vom Land, will sie von der Schule holen, weil das nur unnötig Geld kostet und hat auch schon einen Ehemann ausgesucht. So ist Huong todunglücklich, fügt sich aber letztlich in das für sie ausgewählte Schicksal und entfremdet sich der unbenamten Hauptperson.

Ebenso unglücklich ist die ältere Schwester der Protagonistin. Sie verdächtigt ihren Ehemann, sie zu betrügen und ist glücklich, als ihre Periode ausbleibt, weil sie davon ausgeht, daß sie schwanger ist, was sich dann als verfrühte Hoffnung herausstellt. Auch hier kann das Mädchen keine Orientierung finden.

Derart ohne Halt lernt das Mädchen zwei junge Männer kennen, die in aufrührerische Aktivitäten gegen die Japaner verstrickt sind. Von einem dieser Männer läßt sie sich bereitwillig verführen und schläft mit ihm, ein absolutes „No-Go“ (um dieses Wortspiel einmal anzubringen) für die Gesellschaft, in der sie lebt, zumal ihre tieferen Gefühle, wie sich nach einer Zeit zeigt, eigentlich dem anderen Mann gelten, der diese ebenso unerwidert erwidert.

Den einzigen Fixpunkt in ihrem Leben bietet dem Mädchen das Go-Spiel. Sie ist eine Meisterin dieses eigentlich den Männern vorbehaltenen Brettspiels und die einzige Frau, die sich regelmäßig auf dem Platz der Winde einfindet, auf dem die öffentlichen Spieltische stehen. Hier lernt sie eines Tages einen Unbekannten kennen und fängt mit ihm eine Partie zu spielen an. Am Beginn des Romans ist davon die Rede, daß die Spieltische so alt sind, daß die Bretter das Aussehen von Gesichtern angenommen hätten: dieser Unbekannte ist wie so ein Gesicht gewordenes Brett: unbeweglich wie eine Statue sitzt der dem Mädchen in glastender Sonne stundenlang gegenüber, das einzige was sich an ihm bewegt, sind die herabrinnenden Schweißtropfen und die Hände, wenn sie einen Stein setzen…

Dieser Unbekannte und das Go-Spiel mit ihm werden zu den einzigen Konstanten im Leben des Mädchens. Da sich im Go mehr darstellt als nur die Fähigkeit, taktisch und strategisch zu denken, sondern auch die geistige Haltung des Spielers sich in seinen Zügen manifestiert, lernt die Protagonisten ihren Gegner trotz dessen Sphinxartigkeit kennen: sein Spiel ist von tödlicher Präzision geprägt.

Der Unbekannte ist Soldat und Offizier in der japanischen Armee, seine ganze Erziehung, beginnend mit dem Kindesalter, ist hart und grausam, sie ist auf den ehrenvollen Tod für seinen Kaiser hin ausgerichtet. Tiefergehende menschliche Bindungen sind ihm fremd, sich einem anderen anzuvertrauen, sich hinzugeben, sich zu öffnen, ist ihm unmöglich. Seine Zukunft ist der Tod und dies ist eine Zukunft, die nicht mit anderen Menschen, einer anderen Frau, mit Kindern teilbar ist. So bleibt er allein, sucht seine Befriedigung als reine Triebabfuhr bei Prostituierten. 

Doch dem Bann dieses so ganz anderen Mädchens, das er im Rahmen eines militärischen Auftrages auf dem Platz der Go-Spieler kennenlernt, kann auch er sich nicht entziehen. Die subtilen oder auch offensichtlichen Gemütsänderungen, die sich im Spiel der Steine und auch dem Äußeren des Mädchens zeigen, entgehen ihm nicht: aus dem offenen, lachenden Wesen, das ihn ungezwungen mit intelligentem Spiel (heraus)forderte ist eine übermüdete, sich vernachlässigende, Sorgen tragende junge Frau geworden, deren Spiel sich von Mal zu Mal ändert und Zeichen ist für die Umwälzungen, denen sie unterliegt….

In subtilsten Zeichen äußert sich die sich anbahnende Beziehung zwischen den beiden, die äußerst platonisch bleiben wird. Der intimste Moment ist die Wache, zu der die junge Frau den Unbekannten bittet: ihren Schlaf, den sie braucht und woanders nicht mehr finden kann, zu schützen und wachend zu begleiten. Sie gibt sich in seine Hände und er ist bereit, sie aufzunehmen – und doch weist er sie zurück, als sie ihm anderntags verklausuliert offenbart, daß sie mehr von ihm wissen möchte. Er kann nicht anders als sie abzuweisen und zurück zu stoßen: er lebt ihr gegenüber in einer Lüge, in einem Betrug, er ist Soldat des Feindes – noch ist ihm trotz des heftigen Verlangens nach dem Mädchen das die höhere Ehre.

Und doch sind zwei Schicksale mittlerweile untrennbar miteinander verwoben, unabhängig davon, daß ihre weiteren Lebensstationen fjür kurze Zeit getrennt verlaufen, bis sie sich unausweichlich – als ob sie Steine eines höheren Go-Spiels seien – wieder einander nähern. Und so, wie der Soldat vor wenigen Wochen noch den Schlaf des Mädchens bewachte und schützte, gibt er jetzt seine Ehre dafür, den ewigen Schlaf seiner Geliebten zu schützen und er begleitet sie hinüber in diese ewige Ruhe….


„Die Go-Spielerin“ ist ein außergewöhnlich schöner, poetischer, tragischer Roman, der auf verschiedenen Ebenen spielt. Ganz real ist der Krieg, den Japan China aufgezwungen hat und den es mit brutaler Gewalt führt. Er führt aber auch dazu, daß sich zwei Menschen kennenlernen, die sich auf einer sehr speziellen Ebene als ebenbürtig und seelenverwandt erkennen – bei einem Spiel, daß in hochgradig ritualisierter und formalisierter Form einen – Krieg darstellt: es geht um Geländegewinne, um Strategie und Taktik, um geistige Disziplin: mithin um den Sieg.

Die beiden Spieler kommen einem aber selbst vor wie Figuren in einem Spiel, das sie kaum beeinflussen können. Das Leben, ihr Leben ist selbst ein Go-Spiel, in dem sie die Steine sind und der Versuch, sich aus den Einkesselungen und Zwängen zu befreien, gelingt nicht wirklich. Die letzte Freiheit, die die beiden haben, ist die ultimative, die, die ihnen in diesem Moment niemand nehmen kann.

Den Japanern ist Handeln Sterben, und Sterben ist Handeln.

Mit seiner Tat zeigt der Unbekannte die Unbedingtheit und Größe seines Gefühls, das sich völlig von den Gefühlen unterscheidet, daß er anderen Menschen gegenüber hat. Diese Seelenbeziehung zu dieser Frau ist so bestimmend für ihn geworden, daß er alle Ideale, denen er seit Jahrzehnten nacheifert und folgt, über den Haufen wirft und Verrat an ihnen übt: Er als Geliebter hat sich als treuer Gefolgsmann der Geliebten bewiesen, ihr ist er bedingungslos ergeben so wie sie ihm bedingungslos vertraut. So bleibt er sich in gewissem Sinn treu als Soldat, nur daß er seinen Treueschwur einer anderen gibt in diesem Moment, von außen gesehen also einen Verrat ausübt.

Ein wunderschöner Roman aus einer Welt, in der uns vieles fremd ist und auch fremd bleibt. Aus einer Welt, die Sa uns mit ihrer Geschichte näher bringt, deren Unterschiede zu uns und auch die der beiden Völker untereinander sie erzählt und deutlich macht an zwei Menschen, die wie Vögel auf einer Leimrute an der Unausweichlichkeit des Schicksals festgekettet sind.

Die Sprache Sas entspricht ihrer Handlung. Sie ist sensibel, einfühlsam, subtil. Durch die Gedanken und Gespräche ihrer Protagonisten vermittelt sie viele Informationen und Details zu den damaligen Verhältnissen in Japan und in China, wobei ihr ihre weitgefächerten Kenntnisse über Japan zugute kommen. Der Roman ist streng aufgebaut: er ist in 92 recht kurze Abschnitte gegliedert (wieso gerade 92? es muss ein Sinn in dieser (An)Zahl liegen…), in denen die beiden Hauptpersonen konsequent im Wechsel erscheinen, so wie in Spielen nach jedem Zug der andere Spieler an der Reihe ist.

Dadurch und durch den überaus fesselnden Inhalt liest sich der Roman sehr gut und auch schnell. Auch wenn er nicht mehr ganz aktuell ist, kann ich ihn nur zur Lektüre empfehlen!

Links und Anmerkungen:

[1] Wiki-Beitrag zur Autorin: http://de.wikipedia.org/wiki/Shan_Sa
[2] Wiki-Beiträge zum Thema:
– http://de.wikipedia.org/wiki/Erster_Japanisch-Chinesischer_Krieg
http://de.wikipedia.org/wiki/Zweiter_Japanisch-Chinesischer_Krieg
[3] Wiki-Beitrag zum Ereignis: http://de.wikipedia.org/wiki/Großes_Kantō-Erdbeben_1923

Dieser Roman von Shan Sa ist eine schöne Gelegenheit, auf diese zwei ähnlich schönen Bücher von Dai Sijie zu verweisen, die ich hier schon vorgestellt habe:

[B]ildquelle: – Go-Tisch: http://de.wikipedia.org/wiki/Go_(Spiel): http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Go-tisch.png?uselang=de#file

Hinweis: Diese Rezension ist auch als podcast im literatur RADIO bayern erschienen: https://radio.blm.de/radiobeitrag/fda-rezensionen….html

Shan+Die-Go-Spielerin

Shan Sa
Die Go-Spielerin
Aus dem Französischen übersetzt von Elisabeth Ranke
Originalausgabe: La joyeuse de go, Paris, 2001
diese Ausgabe: Piper, HC, ca. 250 S., 2002

Ein Kommentar zu „Shan Sa: Die Go-Spielerin

  1. Lieber Flattersatz,
    wie immer eine beeindruckende, informative Besprechung, die mich sehr angesprochen hat. Gut, dass ich zuletzt ein Buch ‚gespart‘ habe, nun habe ich dieses gleich mal antiquarisch gesucht, gefunden und bestellt.
    Vielen Dank für den tollen Tip und liebe Grüsse
    Kai

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