Bildquelle: [B]
Der Autor – ganz kurz zu seinem Leben, ausführlicheres ist unten unter [1, 4] zu erfahren – wurde 1906 an der Mosel geboren (Trittenheim) und starb 1970 in Rom. 1933 ging der angehende Schriftsteller nach Italien, kam zwischenzeitlich noch einmal nach Deutschland zurück bevor er endgültig nach Italien zog; er war mit einer Jüdin verheiratet („Innere Emigration„). Nach dem Krieg kehrte er nochmals für einige Jahre nach Deutschland zurück, ging dann aber der politischen Entwicklung wegen 1961 endgültig nach Italien, wo er auch 1970 verstarb. Die vorliegende Novelle konnte 1942 in der Frankfurter Zeitung erstveröffentlicht werden, ein Jahr später erschien sie als Buch, wurde danach aber von der Zensur wieder einkassiert [4].
Gott ist gnädig
Vom Entstehungszeitpunkt der Novelle aus gesehen führt die Handlung nur ein paar Jahre zurück in die Vergangenheit und zwar in das Spanien der Bürgerkriegszeit 1936/37. Paco Hernandes, einer der Protagonisten, Soldat und Matrose (53. Marine-Infanterie) – woraus teilweise gefolgert wird, daß er zu den regulären Truppen gehört [4, 5] – wird zusammen mit anderen gefangenen Kameraden in ein Karmeliterkloster im spanischen Hochland gebracht. Er fällt durch sein seltsames Benehmen auf und wird vom Leutnant der gegnerischen Truppen zur Rede gestellt. So erfährt er, daß Paco vor zwanzig Jahren in diesem Kloster als Mönch gelebt hat, als Padre Consalves. Sein Wunsch, wieder in die alte Zelle gelegt zu werden, erfüllt ihm Teniente Pedro, die zweite Hauptperson in dieser Geschichte.
Don Pedro äußert dem ehemaligen Priester gegenüber eine seltsam anmutende Bitte. Er wird von Alpträumen geplagt, in denen ihm die Nonnen erscheinen, denen er und seine Leute – ohne daß dies en Detail ausgeführt wird – wohl schreckliches angetan haben (.. Schließlich starben sie endlich, ….“), die Säuberung dieses Klosters von seinen Mönchen war brutal genug, um sich zu denken, was mit den Nonnen geschah… ihm dagegen bleibt der Tod (sprich: die Erlösung) verwehrt, auch in den Träumen… und so will er von Paco die Beichte abgenommen haben, ein Ansinnen, dem sich der Ex-Priester erst einmal verwehrt.
Wieder allein in seiner Zelle wird Paco von den Erinnerungen an seine Zeit als Mönch eingeholt. Er legt sich auf die Pritsche und sieht den alten Wasserfleck an der Decke, der nicht zu übertünchen ist und sich immer wieder zeigt – dieser Fleck wurde seinerzeit in seiner Fantasie zu einer Insel der Seligen, zu einem Utopia, in dem die Menschen in Frieden lebten und ich dem die Religionen sich gegenseitig ergänzten, die Grenzen zwischen ihnen sich verwischten. In einem inneren Monolog repetiert Paco das Gespräch darüber, welches er seinerzeit mit seinen Lehrern führte, Stichworte dieses Gesprächs sind „freier Wille“, „Wahrheit“ und auch übergeordnet „Theodizee“. Die Quintessenz lautet, daß wir Utopia nicht irgendwo da draußen suchen dürfen, sondern in uns. Es ist an uns Menschen, uns zu entwickeln, hin zu einem Status, der dem utopischen immer näher kommt…..
Paco genießt eine Sonderbehandlung durch Don Pedro, er bekommt ein gutes Essen und auf dem Tablett liegt ein Besteck, incl. Messer. Dieses Messer steckt Paco sofort ein, er ist verwundert darüber und in der Folge reift in ihm ein Plan, wie die Flucht aus diesem Gefängnis gelingen könnte: er könnte Pedro bei passender Gelegenheit erstechen, die mit Riegeln verschlossenen Zellentüren öffnen und die geringe Besatzung der Wachen überwältigen. Der Theologe in ihm ist derjenige, der ihm eingibt, „Gegen das Verbrechen sich zu wehren, ist erlaubt; das Leben der anderen zu verteidigen, ist sogar eine sittliche Forderung. ….“, der reale Paco dagegen wälzt sich unruhig hin und her, in ihm streiten viele Ansichten, die theologische ist nur eine von ihnen, die entschiedene; wie sonst auch, scheut der Soldat eine wirkliche Festlegung.
Der Geschütz- und Kampflärm rückt näher an das Städtchen mit dem alten Karmeliterkloster heran, es scheint zu eilen, der Leutnant erhält Befehle per Telefon. Paco will Don Pedro nach einem langen Gespräch, in dem sich Pedro als von Grund auf böser Mensch beschrieben hat, doch die Beichte abnehmen, sie vereinbaren ebenso, daß alle Gefangenen die Generalabsolution bekommen. Nach der Beichte, dazu ist Paco (wie er später zugeben wird) entschlossen, will er Pedro töten… doch bevor es dazu kommt, entdeckt der Leutnant das Messer, er berührt Paco nach der Beichte am Schenkel und die Spitze des in der Hosentasche verborgenen Messers macht ihn bluten. Somit ist der Plan Pacos vereitelt, Paco ist erleichtert und offenbart sich seinem Gegenüber… in einer Art Abschied erkennen sie sich als Brüder, sie küssen sich bevor die Gefangenen dann in das Refrektorium gebracht werden, um die Absolution zu erhalten.
Auf dem Weg dahin fällt Paco auf, daß eins der beiden Maschinengewehre nicht mehr an seinem Platz steht. Er weiß, was ihn erwartet, ihn und die Mitgefangenen… und er täuscht sich nicht.
Wir sind Utopia war nach dem Krieg sehr erfolgreich, es ist in Hunderttausenden von Exemplaren verkauft worden, war sogar Schullektüre [2]. Aus diesem Kanon fiel es heraus, als in späteren Jahrzehnten der literarische Fokus sich immer mehr auf soziale, politische oder ökonomische Gesichtspunkte konzentrierte, die stark religiöse Ausrichtung dieser Novelle führte sie konsequenterweise mit den neuen Zeiten ins Abseits. Sie ist auch heute nicht unbedingt leicht zu lesen, oft wird (wie bei mir) der theologische Hintergrund fehlen, um z.B. die Dialoge Pacos mit seinen Lehrern, die sich um den freien Willen, die Wahrheit und auch theodizee´ische Aspekte drehen, verstehen zu können.
Andererseits findet man ein paar Fragestellungen in diesem Text, die gerade auch in unseren Zeiten aktuell sind:
- das Idealbild eines „Utopia“, eines Fleckchens Erde, einer von anderen abgeschotteten Insel, auf der Frieden herrscht, die verschiedenen Religionen sich nicht bekämpfen, sondern voneinander lernen und sich befruchten und vielleicht sogar irgendwann zu der Erkenntnis kommen, daß Gott nicht das Eigentum einer Religion sei. Aktuell ist die Vorstellung eines „alles-wird-gut“-Utopias: die Diskussion um die Allmacht von Google, das eine perfekte Welt auf der Grundlage technischer Problemlösungen zu versprechen scheint, geht in diese Richtung. Aber Andres sagt auch:
- Gott hat kein Utopia geschaffen, weil er das Unvollkommene liebt, weil er uns Menschen liebt, so wie wir sind: Wir sind Gottes Utopia. Wenn wir ein Utopia schaffen wollen, dann ist es ein inneres, die Entwicklung unseres Selbsts… und gerade das Inperfekte der äußeren Welt mache sie lebenswert, in einer perfekten Welt, einen Utopia, gäbe es nur noch Stillstand.
- Das, was unsere Vorstellung von Gott ausmacht, findet sich nicht nur im Christentum. Gott gehört keiner Religion allein, er steht über den einzelnen Religionen.
- Paco, das wird deutlich gesagt, weiß, daß er in seinem alten Kloster sterben wird. Andres schildert einen Moment, in dem dieser Mensch, ein Soldat, ein Getriebener auch, der sich nie zu entscheiden wusste, von innerer Stille durchflutet wird, er Ruhe findet, er verankert wird im Universum: es ist der Moment, in dem er sein inneres Utopia erreicht. Die letzte große Entscheidung wird ihm abgenommen: die Entdeckung des Messers durch seinen Bewacher, den er damit erdolchen wollte, entbindet ihn von der moralischen Forderung, die Befreiung, die Flucht aus der Gefangenschaft, zu versuchen. Er geht seinem Schicksal entgegen….
- …. und nimmt wissend 200 Mitgefangene mit in den sicheren Tod. Nach seiner Vorstellung gehen sie jungfräulich in den Himmel ein, er hat ihnen ja die Generalabsolution erteilt, bevor sie durch die Salven aus dem Maschinengewehr niedergemäht werden. Das moralische Dilemma dahinter also: darf oder muss ich sogar unter Umständen einen (oder hier auch vier Bewacher) Menschen töten, um viele zu retten, ihnen zumindest eine Chance zu geben? Ist es richtig, mich dahinter zu verstecken, daß ich meinen eigenen Frieden gefunden habe? Eine Frage, die in verschiedenen Abwandlungen durchaus aktuell ist….
- Die Tatsache, daß Don Pedro, ein erfahrener Kämpfer, seinem Gefangenen mit dem Essen ein Messer gibt, kann kaum Zufall sein. Was also will er erreichen, provozieren? Seinen eigenen Tod, seine eigene Erlösung von einem Leben, das ihm selbst ob seiner Schlechtigkeit, nicht mehr ertragbar erscheint?
- 1941, zum Entstehungszeitpunkt der Novelle, tobt der 2. Weltkrieg, die Verfolgung der Juden, von der Andres seiner Frau wegen selbst betroffen ist, wird immer rigider und grausamer: den Bezug zu diesen Ereignissen in die Novelle hinein zu interpretieren, ist möglich, trotzdem ist dieser Text wohl nicht als Widerstandsliteratur, also politisch, zu sehen.
Ich hätte mir, um zum Schluss zu kommen, Wir sind Utopia sicherlich nicht „freiwillig“ gekauft. Das schmale Bändchen hat aber zu einer regen, interessanten, in Teilen durchaus kontroversen Diskussion in unserem Lesekreis geführt, es ist in manchen seiner Aspekte durchaus noch aktuell. Wer Zugriff auf diese Novelle hat und Interesse an solchen Fragestellungen, für den lohnen sich die zwei, drei Stunden Lektüre sicherlich.
Links und Anmerkungen:
[1] zu Stefan Andres:
– Wiki-Beitrag: http://de.wikipedia.org/wiki/Stefan_Andres
– vgl. auch [4]
[2] – http://www.litde.com/deutsche-novellen/stefan-andres-wir-sind-utopia/
– http://www.wissen.de/lexikon/andres-stefan-wir-sind-utopia
[3] Marcel Reich-Ranicki: Stefan Andres zu Unrecht vergessen? in: http://www.faz.net/aktuell…
[4] Sascha Kiefer: Die deutsche Novelle im 20. Jahrhundert: eine Gattungsgeschichte; in: http://books.google.de/books?….
[5] Wer von beiden jetzt zu den Aufständischen gehört und wer zur damals frisch gewählten Volksfrontregierung, ist mir nicht klar. In [4] wird Paco bei Franco verortet, der gegen die Regierung putscht, der Leutnant daher bei den Kommunisten der Regierung… dabei ist (mir) nicht klar, ob die angeführte Einheit zu Franco oder zur Regierung gehört…. die Zurordnung der beiden Charaktere zu Regierung resp. Putschisten ist nicht trivial, da Don Pedro als Vertreter „seiner Leute“ als brutaler, ja böser Mensch, voller Gewalt und Heimtücke, gezeichnet wird….
[B]ildquellen:
– Briefmarke: http://de.wikipedia.org/wiki/.…; von Birgit Hogrefe (Eigenes Werk) [Public domain], via Wikimedia Commons
Stefan Andres
Wir sind Utopia
Erstveröffentlichung: Frankfurter Zeitung, 1942 [3, 4]
Originalausgabe: Verlag Riemerschmidt, Berlin, 1943
diese Ausgabe: Piper & CO, HC, ca. 106 S., 1953
Ein Kommentar zu „Stefan Andres: Wir sind Utopia“